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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

einen Hokuspokus nannte, hatte die Wochenmesse aufgehört. Als Menzel sein
Amt antrat, mußte er sich evangelische Jungen als Ministranten dingen, weil
die katholischen Eltern ihre Söhne sür den Kirchendienst an Wochentagen nicht
hergeben mochten. Schließlich wurden die Leute wieder fromm und gewöhnten
sich nicht bloß an die Wochenmesse, sondern lernten sogar den Rosenkranz
beten. Als dann Menzel den zweiten Lehrer anstellte, wollte er, daß dieser
die Wochenmesse mit Orgelspiel und dem Gesang der Schulkinder begleite. Aber
der Kantor verweigerte die Erlaubnis und gab den Orgelschlüssel nicht heraus.
Menzel kaufte ein Positiv und bezahlte es aus seiner eignen Tasche, aber das
Ding erwies sich als unbrauchbar. Endlich setzte er eine "georgelte" Messe
in der Woche durch, indem er dem Kantor das Spiel, zu dem sich dieser selbst
bequemte, ebenfalls aus seiner Tasche bezahlte. Die Feiertagsmusik war er¬
bärmlich; der neue Lehrer hätte gern bessere gemacht, aber Gr. ließ es nicht zu.
Erst als er so siech wurde, daß er das Zimmer nicht mehr verlassen konnte,
gab er nach einigem Sträuben den Orgelschlüssel heraus, und sein Stellver¬
treter erzog sich binnen kurzem einen ganz tüchtigen Kirchenchor. So war der
Lebensabend dieses streitbaren Mannes voll ohnmächtigen Grimms. Den
letzten Verdruß bereitete ihm der Arzt, indem er ihm das Bier verbot und
Tokayer verordnete. Aber Tokayer schmeckt doch auch gut, bemerkte ich einmal
auf seine Klagen. Ach ja, das schon, antwortete er, aber so'n Gläschen, was
soll einem das helfen! Ja, wenn man zu jeder Mahlzeit eine Flasche
trinken könnte!

Lange vor Gr. hatte sich der weit jüngere Menzel, der sonst außer einem
Glase Wein an Festtagen niemals alkoholhaltige Getränke genoß, auf ärztlichen
Befehl zum täglichen Genuß schweren Weins bequemen müssen. Er bekam
die Wassersucht infolge eines Nierenleidens, das seiner Überzeugung nach die
Folge des ihm von meinem Vorgänger bereiteten Ärgernisses war. Er hatte
immer den Grundsatz befolgt, bei kleinen Meistern am Orte arbeiten zu lassen,
und wurde zum Dank dafür natürlich so schlecht wie möglich bedient. Das
schlechteste von allem aber, was ihm die sah ... er Tischlerkunst geliefert
hatte, war sein ungepolsterter Lehnstuhl oder vielmehr Schemel, ein wahres
Marterholz, den er auch noch in den ersten Wochen seiner Krankheit benutzte.
Eine Dame aus der Nachbarschaft, die ihn besuchte, schlug die Hände über
dem Kopfe zusammen vor Entsetzen und schickte ihm sofort einen bequemen
Lehnsessel. Darin hat er qualvolle fünf Monate verlebt. Ich brachte, wie
in seinen gesunden Tagen, jeden Abend bei ihm zu, und er gab mir in diesen
Stunden sehr viele Aufträge und ordnete alles, was nach seinem Tode ge¬
schehen sollte, aufs genaueste an. Einmal mußte ich ihm doch opponiren.
Das sage ich Ihnen, schärfte er mir ein, daß Sie mir ja keine Leichenrede
halten lassen. Mein Begräbnis wird gerade in die größte Kälte treffen, und
nichts ist abscheulicher, als bei schlechtem Wetter lange am Grabe stehen müssen.


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

einen Hokuspokus nannte, hatte die Wochenmesse aufgehört. Als Menzel sein
Amt antrat, mußte er sich evangelische Jungen als Ministranten dingen, weil
die katholischen Eltern ihre Söhne sür den Kirchendienst an Wochentagen nicht
hergeben mochten. Schließlich wurden die Leute wieder fromm und gewöhnten
sich nicht bloß an die Wochenmesse, sondern lernten sogar den Rosenkranz
beten. Als dann Menzel den zweiten Lehrer anstellte, wollte er, daß dieser
die Wochenmesse mit Orgelspiel und dem Gesang der Schulkinder begleite. Aber
der Kantor verweigerte die Erlaubnis und gab den Orgelschlüssel nicht heraus.
Menzel kaufte ein Positiv und bezahlte es aus seiner eignen Tasche, aber das
Ding erwies sich als unbrauchbar. Endlich setzte er eine „georgelte" Messe
in der Woche durch, indem er dem Kantor das Spiel, zu dem sich dieser selbst
bequemte, ebenfalls aus seiner Tasche bezahlte. Die Feiertagsmusik war er¬
bärmlich; der neue Lehrer hätte gern bessere gemacht, aber Gr. ließ es nicht zu.
Erst als er so siech wurde, daß er das Zimmer nicht mehr verlassen konnte,
gab er nach einigem Sträuben den Orgelschlüssel heraus, und sein Stellver¬
treter erzog sich binnen kurzem einen ganz tüchtigen Kirchenchor. So war der
Lebensabend dieses streitbaren Mannes voll ohnmächtigen Grimms. Den
letzten Verdruß bereitete ihm der Arzt, indem er ihm das Bier verbot und
Tokayer verordnete. Aber Tokayer schmeckt doch auch gut, bemerkte ich einmal
auf seine Klagen. Ach ja, das schon, antwortete er, aber so'n Gläschen, was
soll einem das helfen! Ja, wenn man zu jeder Mahlzeit eine Flasche
trinken könnte!

Lange vor Gr. hatte sich der weit jüngere Menzel, der sonst außer einem
Glase Wein an Festtagen niemals alkoholhaltige Getränke genoß, auf ärztlichen
Befehl zum täglichen Genuß schweren Weins bequemen müssen. Er bekam
die Wassersucht infolge eines Nierenleidens, das seiner Überzeugung nach die
Folge des ihm von meinem Vorgänger bereiteten Ärgernisses war. Er hatte
immer den Grundsatz befolgt, bei kleinen Meistern am Orte arbeiten zu lassen,
und wurde zum Dank dafür natürlich so schlecht wie möglich bedient. Das
schlechteste von allem aber, was ihm die sah ... er Tischlerkunst geliefert
hatte, war sein ungepolsterter Lehnstuhl oder vielmehr Schemel, ein wahres
Marterholz, den er auch noch in den ersten Wochen seiner Krankheit benutzte.
Eine Dame aus der Nachbarschaft, die ihn besuchte, schlug die Hände über
dem Kopfe zusammen vor Entsetzen und schickte ihm sofort einen bequemen
Lehnsessel. Darin hat er qualvolle fünf Monate verlebt. Ich brachte, wie
in seinen gesunden Tagen, jeden Abend bei ihm zu, und er gab mir in diesen
Stunden sehr viele Aufträge und ordnete alles, was nach seinem Tode ge¬
schehen sollte, aufs genaueste an. Einmal mußte ich ihm doch opponiren.
Das sage ich Ihnen, schärfte er mir ein, daß Sie mir ja keine Leichenrede
halten lassen. Mein Begräbnis wird gerade in die größte Kälte treffen, und
nichts ist abscheulicher, als bei schlechtem Wetter lange am Grabe stehen müssen.


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[0623] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome einen Hokuspokus nannte, hatte die Wochenmesse aufgehört. Als Menzel sein Amt antrat, mußte er sich evangelische Jungen als Ministranten dingen, weil die katholischen Eltern ihre Söhne sür den Kirchendienst an Wochentagen nicht hergeben mochten. Schließlich wurden die Leute wieder fromm und gewöhnten sich nicht bloß an die Wochenmesse, sondern lernten sogar den Rosenkranz beten. Als dann Menzel den zweiten Lehrer anstellte, wollte er, daß dieser die Wochenmesse mit Orgelspiel und dem Gesang der Schulkinder begleite. Aber der Kantor verweigerte die Erlaubnis und gab den Orgelschlüssel nicht heraus. Menzel kaufte ein Positiv und bezahlte es aus seiner eignen Tasche, aber das Ding erwies sich als unbrauchbar. Endlich setzte er eine „georgelte" Messe in der Woche durch, indem er dem Kantor das Spiel, zu dem sich dieser selbst bequemte, ebenfalls aus seiner Tasche bezahlte. Die Feiertagsmusik war er¬ bärmlich; der neue Lehrer hätte gern bessere gemacht, aber Gr. ließ es nicht zu. Erst als er so siech wurde, daß er das Zimmer nicht mehr verlassen konnte, gab er nach einigem Sträuben den Orgelschlüssel heraus, und sein Stellver¬ treter erzog sich binnen kurzem einen ganz tüchtigen Kirchenchor. So war der Lebensabend dieses streitbaren Mannes voll ohnmächtigen Grimms. Den letzten Verdruß bereitete ihm der Arzt, indem er ihm das Bier verbot und Tokayer verordnete. Aber Tokayer schmeckt doch auch gut, bemerkte ich einmal auf seine Klagen. Ach ja, das schon, antwortete er, aber so'n Gläschen, was soll einem das helfen! Ja, wenn man zu jeder Mahlzeit eine Flasche trinken könnte! Lange vor Gr. hatte sich der weit jüngere Menzel, der sonst außer einem Glase Wein an Festtagen niemals alkoholhaltige Getränke genoß, auf ärztlichen Befehl zum täglichen Genuß schweren Weins bequemen müssen. Er bekam die Wassersucht infolge eines Nierenleidens, das seiner Überzeugung nach die Folge des ihm von meinem Vorgänger bereiteten Ärgernisses war. Er hatte immer den Grundsatz befolgt, bei kleinen Meistern am Orte arbeiten zu lassen, und wurde zum Dank dafür natürlich so schlecht wie möglich bedient. Das schlechteste von allem aber, was ihm die sah ... er Tischlerkunst geliefert hatte, war sein ungepolsterter Lehnstuhl oder vielmehr Schemel, ein wahres Marterholz, den er auch noch in den ersten Wochen seiner Krankheit benutzte. Eine Dame aus der Nachbarschaft, die ihn besuchte, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen vor Entsetzen und schickte ihm sofort einen bequemen Lehnsessel. Darin hat er qualvolle fünf Monate verlebt. Ich brachte, wie in seinen gesunden Tagen, jeden Abend bei ihm zu, und er gab mir in diesen Stunden sehr viele Aufträge und ordnete alles, was nach seinem Tode ge¬ schehen sollte, aufs genaueste an. Einmal mußte ich ihm doch opponiren. Das sage ich Ihnen, schärfte er mir ein, daß Sie mir ja keine Leichenrede halten lassen. Mein Begräbnis wird gerade in die größte Kälte treffen, und nichts ist abscheulicher, als bei schlechtem Wetter lange am Grabe stehen müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/623>, abgerufen am 22.12.2024.