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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gelegne Arbeitszimmer des Pfarrers zugleich als Empfangs- und Speisezimmer
diente. Zu meiner Zeit war der Pfarrhof doppelt ärgerlich über diese
Störung, weil man die Gratulanten -- ungerechterweise, wie ich glaube --
in Verdacht hatte, die Seele der von meinem Vorgänger gegen den Pfarrer
geschmiedeten Ränke gewesen zu sein. Jedenfalls hatte der Sanitätsrat an
Kirche und Pfarre immer etwas zu nörgeln ^ er war unter anderm ein spitzer
Kritiker der äußerst schlichten und trocknen, beinahe ledernen Predigten
Menzels --, und die Damen hatten stets viel zu klatschen. Man beschloß
daher im großen Kriegsrat von Anno 1860, diesmal das Mittagessen um
elf Uhr zu beginnen, da konnte man um zwölf mit der Pastete fertig sein.
Alles ging glatt von statten. Johanna setzte mit einem Gesicht, das von
Freude, Stolz und Hitze gerötet war, die Pastete auf den Tisch, da -- klinge-
lingeling! öffnet sich die Thür, und herein treten: der uralte Sanitätsrat
(sein steinernes Gesicht sieht aus wie verwitterter Urfels; er hinkt und trägt
den Pelz auf der linken Schulter), seine Frau (es ist die dritte, jünger als
ihr Stiefbruder; nichts weniger als schön, aber interessant; sie hat die ver¬
rücktesten Hauben und den größten Mund im Kreise und weiß alle Neuigkeiten
schon, ehe sie sich ereignet haben) und ihre Schwester, Fräulein Pina (eine
etwas verwachsene kleine Dame von himmlischer Sanftmut und Güte). Alle
drei sprechen gleichzeitig. Er (vor sich hin und in sich hinein lachend und
murmelnd): Hä du, dieser Kommissarius mit seiner ewigen Magenschwäche!
Eigentlich noch junger Mann, sollte sich schämen; wird wohl nächstens früh
um sieben zu Mittag essen; der dicke Schulmeister da wird nächstens platzen;
was die Johanna wieder füm Gesicht macht, möchte mich am liebsten fressen.
Sie (krähend und stoßweise): Guten Morgen, lieber, lieber, verehrter Herr
Kommissarius! Nein aber, daß wir Sie auch diesmal wieder stören! Hätten
wir das ahnen können! Wir sind gerade in der Absicht früher gekommen, die
Störung zu vermeiden! Sie böse Johanna, hätten Sie uns doch einen Wink
gegeben! Fräulein Pina (flötend und ganz gleichmäßig ohne Komma fort¬
singend): Nein aber der arme Kommissarius das thut uns doch zu leid daß
wirs wieder so treffen ich habe es dem Schwager gleich gesagt u. s. w. Im
nächsten Jahre wurde beschlossen, erst um ein Uhr zu essen. Wer bis dahin
nicht kam, das waren Sanitätsrath. Die Pastete erscheint -- klingelingeling --
alles übrige wie oben!

An den Winterabenden wurde die Tafelrunde noch durch Johanna ver¬
vollständigt, sodaß wir unser fünf waren. Mit dem Lehrer hatte es folgende
Bewandtnis. Der Kantor Gr. vermochte sein Amt nicht mehr ordentlich zu
versehen, aber er war nicht zu bewegen, sich pensioniren zu lassen. Es war
ein Mann, der wohl hätte Feldherr werden können, wenn er nicht Schulmeister
geworden wäre, das gerade Gegenteil von dem bescheiden auftretenden, schüch¬
ternen, ängstlichen und gutmütigen Menzel. Als ich ihn kennen lernte, war


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gelegne Arbeitszimmer des Pfarrers zugleich als Empfangs- und Speisezimmer
diente. Zu meiner Zeit war der Pfarrhof doppelt ärgerlich über diese
Störung, weil man die Gratulanten — ungerechterweise, wie ich glaube —
in Verdacht hatte, die Seele der von meinem Vorgänger gegen den Pfarrer
geschmiedeten Ränke gewesen zu sein. Jedenfalls hatte der Sanitätsrat an
Kirche und Pfarre immer etwas zu nörgeln ^ er war unter anderm ein spitzer
Kritiker der äußerst schlichten und trocknen, beinahe ledernen Predigten
Menzels —, und die Damen hatten stets viel zu klatschen. Man beschloß
daher im großen Kriegsrat von Anno 1860, diesmal das Mittagessen um
elf Uhr zu beginnen, da konnte man um zwölf mit der Pastete fertig sein.
Alles ging glatt von statten. Johanna setzte mit einem Gesicht, das von
Freude, Stolz und Hitze gerötet war, die Pastete auf den Tisch, da — klinge-
lingeling! öffnet sich die Thür, und herein treten: der uralte Sanitätsrat
(sein steinernes Gesicht sieht aus wie verwitterter Urfels; er hinkt und trägt
den Pelz auf der linken Schulter), seine Frau (es ist die dritte, jünger als
ihr Stiefbruder; nichts weniger als schön, aber interessant; sie hat die ver¬
rücktesten Hauben und den größten Mund im Kreise und weiß alle Neuigkeiten
schon, ehe sie sich ereignet haben) und ihre Schwester, Fräulein Pina (eine
etwas verwachsene kleine Dame von himmlischer Sanftmut und Güte). Alle
drei sprechen gleichzeitig. Er (vor sich hin und in sich hinein lachend und
murmelnd): Hä du, dieser Kommissarius mit seiner ewigen Magenschwäche!
Eigentlich noch junger Mann, sollte sich schämen; wird wohl nächstens früh
um sieben zu Mittag essen; der dicke Schulmeister da wird nächstens platzen;
was die Johanna wieder füm Gesicht macht, möchte mich am liebsten fressen.
Sie (krähend und stoßweise): Guten Morgen, lieber, lieber, verehrter Herr
Kommissarius! Nein aber, daß wir Sie auch diesmal wieder stören! Hätten
wir das ahnen können! Wir sind gerade in der Absicht früher gekommen, die
Störung zu vermeiden! Sie böse Johanna, hätten Sie uns doch einen Wink
gegeben! Fräulein Pina (flötend und ganz gleichmäßig ohne Komma fort¬
singend): Nein aber der arme Kommissarius das thut uns doch zu leid daß
wirs wieder so treffen ich habe es dem Schwager gleich gesagt u. s. w. Im
nächsten Jahre wurde beschlossen, erst um ein Uhr zu essen. Wer bis dahin
nicht kam, das waren Sanitätsrath. Die Pastete erscheint — klingelingeling —
alles übrige wie oben!

An den Winterabenden wurde die Tafelrunde noch durch Johanna ver¬
vollständigt, sodaß wir unser fünf waren. Mit dem Lehrer hatte es folgende
Bewandtnis. Der Kantor Gr. vermochte sein Amt nicht mehr ordentlich zu
versehen, aber er war nicht zu bewegen, sich pensioniren zu lassen. Es war
ein Mann, der wohl hätte Feldherr werden können, wenn er nicht Schulmeister
geworden wäre, das gerade Gegenteil von dem bescheiden auftretenden, schüch¬
ternen, ängstlichen und gutmütigen Menzel. Als ich ihn kennen lernte, war


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[0621] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome gelegne Arbeitszimmer des Pfarrers zugleich als Empfangs- und Speisezimmer diente. Zu meiner Zeit war der Pfarrhof doppelt ärgerlich über diese Störung, weil man die Gratulanten — ungerechterweise, wie ich glaube — in Verdacht hatte, die Seele der von meinem Vorgänger gegen den Pfarrer geschmiedeten Ränke gewesen zu sein. Jedenfalls hatte der Sanitätsrat an Kirche und Pfarre immer etwas zu nörgeln ^ er war unter anderm ein spitzer Kritiker der äußerst schlichten und trocknen, beinahe ledernen Predigten Menzels —, und die Damen hatten stets viel zu klatschen. Man beschloß daher im großen Kriegsrat von Anno 1860, diesmal das Mittagessen um elf Uhr zu beginnen, da konnte man um zwölf mit der Pastete fertig sein. Alles ging glatt von statten. Johanna setzte mit einem Gesicht, das von Freude, Stolz und Hitze gerötet war, die Pastete auf den Tisch, da — klinge- lingeling! öffnet sich die Thür, und herein treten: der uralte Sanitätsrat (sein steinernes Gesicht sieht aus wie verwitterter Urfels; er hinkt und trägt den Pelz auf der linken Schulter), seine Frau (es ist die dritte, jünger als ihr Stiefbruder; nichts weniger als schön, aber interessant; sie hat die ver¬ rücktesten Hauben und den größten Mund im Kreise und weiß alle Neuigkeiten schon, ehe sie sich ereignet haben) und ihre Schwester, Fräulein Pina (eine etwas verwachsene kleine Dame von himmlischer Sanftmut und Güte). Alle drei sprechen gleichzeitig. Er (vor sich hin und in sich hinein lachend und murmelnd): Hä du, dieser Kommissarius mit seiner ewigen Magenschwäche! Eigentlich noch junger Mann, sollte sich schämen; wird wohl nächstens früh um sieben zu Mittag essen; der dicke Schulmeister da wird nächstens platzen; was die Johanna wieder füm Gesicht macht, möchte mich am liebsten fressen. Sie (krähend und stoßweise): Guten Morgen, lieber, lieber, verehrter Herr Kommissarius! Nein aber, daß wir Sie auch diesmal wieder stören! Hätten wir das ahnen können! Wir sind gerade in der Absicht früher gekommen, die Störung zu vermeiden! Sie böse Johanna, hätten Sie uns doch einen Wink gegeben! Fräulein Pina (flötend und ganz gleichmäßig ohne Komma fort¬ singend): Nein aber der arme Kommissarius das thut uns doch zu leid daß wirs wieder so treffen ich habe es dem Schwager gleich gesagt u. s. w. Im nächsten Jahre wurde beschlossen, erst um ein Uhr zu essen. Wer bis dahin nicht kam, das waren Sanitätsrath. Die Pastete erscheint — klingelingeling — alles übrige wie oben! An den Winterabenden wurde die Tafelrunde noch durch Johanna ver¬ vollständigt, sodaß wir unser fünf waren. Mit dem Lehrer hatte es folgende Bewandtnis. Der Kantor Gr. vermochte sein Amt nicht mehr ordentlich zu versehen, aber er war nicht zu bewegen, sich pensioniren zu lassen. Es war ein Mann, der wohl hätte Feldherr werden können, wenn er nicht Schulmeister geworden wäre, das gerade Gegenteil von dem bescheiden auftretenden, schüch¬ ternen, ängstlichen und gutmütigen Menzel. Als ich ihn kennen lernte, war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/621>, abgerufen am 26.08.2024.