Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
7. In Pfarrhäusern
(Schluß)

cis Städtlein sah. liegt in einem reizenden Vorgebirgsthale, das
mit langgestreckten Dörfern ausgefüllt ist, deren Bauerhöfe im
Mai aus einem Walde blühender Obstbäume hervorlugen. Der
Einschnitt an der Stelle, wo sich die Häuserreihe zum Städtchen
verdichtet, ist so schmal, daß ein Niese, der vom Norden her
gelaufen käme, wohl über den Graben hinwegstolpern könnte, ohne die darin
liegenden Häuschen zu bemerke". An einem herrlichen Frühlingstage, nach¬
mittags gegen 3 Uhr, traf ich dort ein. Die Post liegt am Ringe, der nichts
ist, als die breiteste Strecke der einzigen Straße, aus der sah. besteht. Als
der Wagen hielt, wurde auf der Seite, wo man aussteigt, das ganze Ge¬
sichtsfeld von einer umfangreichen Frauensperson eingenommen; sie war nach
ländlichem Geschmack sehr schön rot und grün gekleidet, und ihr stumpfnasiges,
dickbackiges Gesicht sah aus wie sieben Ungewitter. Also das ist fortan deine
Beherrscherin! Na, eine dämonische Elise ist sie nicht, sondern nur ein ganz
gewöhnlicher Hausdrache. Sie meldete mir, daß der Herr Kommissarius auf
einer Visitationsreise begriffen sei (da die Diözese Breslau sehr groß ist, sind
immer mehrere Erzpriestereien zu einem Kommissariat zusammengefaßt, dessen
Vorsteher die Erzpriester zu beaufsichtigen hat), daß mich aber Herr Pfarrer Z.
aus H. empfangen und den Kaffee mit mir trinken werde. Z. war ein langer
spindeldürrer Mann mit einem langen, dürren, schwarzen, aber sehr freund¬
lichen Gesichte; streng klerikal, sehr herzlich und wohlwollend, aber mit einer
Krankheit behaftet, die erst kurz vor seinem Tode als Krankheit allgemein an¬
erkannt wurde; bis dahin hatte man ihn bloß für das gehalten, was man in
Schlesien einen unausstehlichen Marsack nennt. Er verwickelte sich beständig
in der Konstruktion, blieb aller Augenblicke stecken, wiederholte sich, geriet in
Verlegenheit und fand kein Ende. An seinen Gesichtszuckungen und an dem
krampfhaften Spiel seiner langen Finger auf der Tabakdose, die er beständig
in der Hand hielt, konnte man wohl schon damals merken, daß er an einem
der Epilepsie verwandten Nervenübel litt. Seine Predigten sollen schrecklich


Grenzboten II 1835 77


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
7. In Pfarrhäusern
(Schluß)

cis Städtlein sah. liegt in einem reizenden Vorgebirgsthale, das
mit langgestreckten Dörfern ausgefüllt ist, deren Bauerhöfe im
Mai aus einem Walde blühender Obstbäume hervorlugen. Der
Einschnitt an der Stelle, wo sich die Häuserreihe zum Städtchen
verdichtet, ist so schmal, daß ein Niese, der vom Norden her
gelaufen käme, wohl über den Graben hinwegstolpern könnte, ohne die darin
liegenden Häuschen zu bemerke». An einem herrlichen Frühlingstage, nach¬
mittags gegen 3 Uhr, traf ich dort ein. Die Post liegt am Ringe, der nichts
ist, als die breiteste Strecke der einzigen Straße, aus der sah. besteht. Als
der Wagen hielt, wurde auf der Seite, wo man aussteigt, das ganze Ge¬
sichtsfeld von einer umfangreichen Frauensperson eingenommen; sie war nach
ländlichem Geschmack sehr schön rot und grün gekleidet, und ihr stumpfnasiges,
dickbackiges Gesicht sah aus wie sieben Ungewitter. Also das ist fortan deine
Beherrscherin! Na, eine dämonische Elise ist sie nicht, sondern nur ein ganz
gewöhnlicher Hausdrache. Sie meldete mir, daß der Herr Kommissarius auf
einer Visitationsreise begriffen sei (da die Diözese Breslau sehr groß ist, sind
immer mehrere Erzpriestereien zu einem Kommissariat zusammengefaßt, dessen
Vorsteher die Erzpriester zu beaufsichtigen hat), daß mich aber Herr Pfarrer Z.
aus H. empfangen und den Kaffee mit mir trinken werde. Z. war ein langer
spindeldürrer Mann mit einem langen, dürren, schwarzen, aber sehr freund¬
lichen Gesichte; streng klerikal, sehr herzlich und wohlwollend, aber mit einer
Krankheit behaftet, die erst kurz vor seinem Tode als Krankheit allgemein an¬
erkannt wurde; bis dahin hatte man ihn bloß für das gehalten, was man in
Schlesien einen unausstehlichen Marsack nennt. Er verwickelte sich beständig
in der Konstruktion, blieb aller Augenblicke stecken, wiederholte sich, geriet in
Verlegenheit und fand kein Ende. An seinen Gesichtszuckungen und an dem
krampfhaften Spiel seiner langen Finger auf der Tabakdose, die er beständig
in der Hand hielt, konnte man wohl schon damals merken, daß er an einem
der Epilepsie verwandten Nervenübel litt. Seine Predigten sollen schrecklich


Grenzboten II 1835 77
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0617" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220293"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341861_219675/figures/grenzboten_341861_219675_220293_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome<lb/>
7. In Pfarrhäusern<lb/>
(Schluß)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2378" next="#ID_2379"> cis Städtlein sah. liegt in einem reizenden Vorgebirgsthale, das<lb/>
mit langgestreckten Dörfern ausgefüllt ist, deren Bauerhöfe im<lb/>
Mai aus einem Walde blühender Obstbäume hervorlugen. Der<lb/>
Einschnitt an der Stelle, wo sich die Häuserreihe zum Städtchen<lb/>
verdichtet, ist so schmal, daß ein Niese, der vom Norden her<lb/>
gelaufen käme, wohl über den Graben hinwegstolpern könnte, ohne die darin<lb/>
liegenden Häuschen zu bemerke». An einem herrlichen Frühlingstage, nach¬<lb/>
mittags gegen 3 Uhr, traf ich dort ein. Die Post liegt am Ringe, der nichts<lb/>
ist, als die breiteste Strecke der einzigen Straße, aus der sah. besteht. Als<lb/>
der Wagen hielt, wurde auf der Seite, wo man aussteigt, das ganze Ge¬<lb/>
sichtsfeld von einer umfangreichen Frauensperson eingenommen; sie war nach<lb/>
ländlichem Geschmack sehr schön rot und grün gekleidet, und ihr stumpfnasiges,<lb/>
dickbackiges Gesicht sah aus wie sieben Ungewitter. Also das ist fortan deine<lb/>
Beherrscherin! Na, eine dämonische Elise ist sie nicht, sondern nur ein ganz<lb/>
gewöhnlicher Hausdrache. Sie meldete mir, daß der Herr Kommissarius auf<lb/>
einer Visitationsreise begriffen sei (da die Diözese Breslau sehr groß ist, sind<lb/>
immer mehrere Erzpriestereien zu einem Kommissariat zusammengefaßt, dessen<lb/>
Vorsteher die Erzpriester zu beaufsichtigen hat), daß mich aber Herr Pfarrer Z.<lb/>
aus H. empfangen und den Kaffee mit mir trinken werde. Z. war ein langer<lb/>
spindeldürrer Mann mit einem langen, dürren, schwarzen, aber sehr freund¬<lb/>
lichen Gesichte; streng klerikal, sehr herzlich und wohlwollend, aber mit einer<lb/>
Krankheit behaftet, die erst kurz vor seinem Tode als Krankheit allgemein an¬<lb/>
erkannt wurde; bis dahin hatte man ihn bloß für das gehalten, was man in<lb/>
Schlesien einen unausstehlichen Marsack nennt. Er verwickelte sich beständig<lb/>
in der Konstruktion, blieb aller Augenblicke stecken, wiederholte sich, geriet in<lb/>
Verlegenheit und fand kein Ende. An seinen Gesichtszuckungen und an dem<lb/>
krampfhaften Spiel seiner langen Finger auf der Tabakdose, die er beständig<lb/>
in der Hand hielt, konnte man wohl schon damals merken, daß er an einem<lb/>
der Epilepsie verwandten Nervenübel litt.  Seine Predigten sollen schrecklich</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1835 77</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0617] [Abbildung] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 7. In Pfarrhäusern (Schluß) cis Städtlein sah. liegt in einem reizenden Vorgebirgsthale, das mit langgestreckten Dörfern ausgefüllt ist, deren Bauerhöfe im Mai aus einem Walde blühender Obstbäume hervorlugen. Der Einschnitt an der Stelle, wo sich die Häuserreihe zum Städtchen verdichtet, ist so schmal, daß ein Niese, der vom Norden her gelaufen käme, wohl über den Graben hinwegstolpern könnte, ohne die darin liegenden Häuschen zu bemerke». An einem herrlichen Frühlingstage, nach¬ mittags gegen 3 Uhr, traf ich dort ein. Die Post liegt am Ringe, der nichts ist, als die breiteste Strecke der einzigen Straße, aus der sah. besteht. Als der Wagen hielt, wurde auf der Seite, wo man aussteigt, das ganze Ge¬ sichtsfeld von einer umfangreichen Frauensperson eingenommen; sie war nach ländlichem Geschmack sehr schön rot und grün gekleidet, und ihr stumpfnasiges, dickbackiges Gesicht sah aus wie sieben Ungewitter. Also das ist fortan deine Beherrscherin! Na, eine dämonische Elise ist sie nicht, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Hausdrache. Sie meldete mir, daß der Herr Kommissarius auf einer Visitationsreise begriffen sei (da die Diözese Breslau sehr groß ist, sind immer mehrere Erzpriestereien zu einem Kommissariat zusammengefaßt, dessen Vorsteher die Erzpriester zu beaufsichtigen hat), daß mich aber Herr Pfarrer Z. aus H. empfangen und den Kaffee mit mir trinken werde. Z. war ein langer spindeldürrer Mann mit einem langen, dürren, schwarzen, aber sehr freund¬ lichen Gesichte; streng klerikal, sehr herzlich und wohlwollend, aber mit einer Krankheit behaftet, die erst kurz vor seinem Tode als Krankheit allgemein an¬ erkannt wurde; bis dahin hatte man ihn bloß für das gehalten, was man in Schlesien einen unausstehlichen Marsack nennt. Er verwickelte sich beständig in der Konstruktion, blieb aller Augenblicke stecken, wiederholte sich, geriet in Verlegenheit und fand kein Ende. An seinen Gesichtszuckungen und an dem krampfhaften Spiel seiner langen Finger auf der Tabakdose, die er beständig in der Hand hielt, konnte man wohl schon damals merken, daß er an einem der Epilepsie verwandten Nervenübel litt. Seine Predigten sollen schrecklich Grenzboten II 1835 77

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/617
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/617>, abgerufen am 26.08.2024.