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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gewesen sein. Die H--dorfer Bauern kamen denn auch lieber zu uns in die
Kirche, obwohl sie über eine Stunde zu laufen hatten. Kamen sie nach Hause
zurück, so war Z. gewöhnlich mit seinem Gottesdienst noch nicht fertig. Er
hatte einen sehr schneidigen ErzPriester, einen feinen, reichen Mann, der die
zu visitirenden Amtsbruder in Jagdjoppe und Stulpenstiefeln zu Pferde heim¬
suchte. Auf wiederholte Klagen der Bauern entschied dieser schließlich: der
Schulmeister habe Punkt halb zehn (die Predigt war vor dem Amte) mit
der Orgel einzufallen und so dem "Gemare" ein Ende zu machen. Z. war
immer sehr erfreut, wenn ich ihn einmal besuchte, weil ich mir seine Vorträge
gefallen ließ. Sie handelten teils vom katholischen Aufschwung und von der rich¬
tigen Seelsorgerpraxis, teils von der Landwirtschaft und dem Vater Thaer;
er berichtete über den Jahresertrag seiner Wirtschaft: zwei Schweine, Kälber,
x Zentner Heu u. s. w., und zum Schluß, oder je nachdem zum Anfang, kam
gewöhnlich die Geschichte, wie er auf einer Besuchsreise "des Rappens wegen"
an einem Wirtshaus gehalten und dabei das Glück gehabt habe, seinen alten
verehrten Patron, den General von N., um die Ecke kommen zu sehen und
begrüßen zu können.

Bei jenem ersten Kaffee in sah. nun hielt er mir einen sehr verwickelten
Vortrag, aus dem ich nur so viel verstand, daß mein Vorgänger ein infamer
Windhund gewesen sei, der sich nicht allein öfter bekneipt und bald im Rausch,
bald im Kater allerlei Ärgernis gegeben, sondern auch die Gemeinde gegen
den Kommissarius aufgehetzt und eine Intrigue gegen ihn angesponnen habe,
weshalb dringend gewünscht werde, daß ich auf den Umgang mit Gemeinde¬
mitgliedern möglichst verzichten und mich mit der Befriedigung meines Unter¬
haltungsbedürfnisses auf den Pfarrhof beschränken möchte.

Es fand sich, daß das nicht schwer war. Der Kommissarius Menzel,
ein kleiner, dicker, freundlicher Mann, hatte ein so lebhaftes Unterhaltungs¬
bedürfnis, daß das meinige durch den Verkehr mit ihm reichlich gedeckt wurde.
Anfangs war ich sogar verdrießlich darüber, daß es mir mehr Zeit wegnahm,
als ich bisher der Unterhaltung zu opfern gewöhnt gewesen war. Nach der
Messe mußte ich mit ihm frühstücken; das erschien mir geradezu als ein Skandal,
schon am frühen Morgen eine viertel bis eine halbe Stunde zu verplaudern,
und nicht weniger anstößig war mir der philisterhafte Vesperkaffee, der eben¬
falls gemeinsam eingenommen wurde und die gleiche Zeit beanspruchte. Da¬
gegen ließ ich mir das gesellige Mittag- und Abendessen und ein Plauder¬
stündchen nach dem Abendessen gern gefallen. Menzel hatte elf Jahre am
Dom zugebracht und war Vertrauter zweier Bischöfe gewesen: des Weihbischofs
Schubert und des Fürstbischofs Sedlnitzky, der bekanntlich resignirt hat und
damals als Mitglied des Staatsrath in Berlin lebte. Den Sommer brachte
Sedlnitzky auf seinem schlesischen Landgute Groß-Sägewitz zu und holte ge¬
wöhnlich seinen lieben Menzel auf einige Tage dahin ab. Daß ihre Freund-


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

gewesen sein. Die H—dorfer Bauern kamen denn auch lieber zu uns in die
Kirche, obwohl sie über eine Stunde zu laufen hatten. Kamen sie nach Hause
zurück, so war Z. gewöhnlich mit seinem Gottesdienst noch nicht fertig. Er
hatte einen sehr schneidigen ErzPriester, einen feinen, reichen Mann, der die
zu visitirenden Amtsbruder in Jagdjoppe und Stulpenstiefeln zu Pferde heim¬
suchte. Auf wiederholte Klagen der Bauern entschied dieser schließlich: der
Schulmeister habe Punkt halb zehn (die Predigt war vor dem Amte) mit
der Orgel einzufallen und so dem „Gemare" ein Ende zu machen. Z. war
immer sehr erfreut, wenn ich ihn einmal besuchte, weil ich mir seine Vorträge
gefallen ließ. Sie handelten teils vom katholischen Aufschwung und von der rich¬
tigen Seelsorgerpraxis, teils von der Landwirtschaft und dem Vater Thaer;
er berichtete über den Jahresertrag seiner Wirtschaft: zwei Schweine, Kälber,
x Zentner Heu u. s. w., und zum Schluß, oder je nachdem zum Anfang, kam
gewöhnlich die Geschichte, wie er auf einer Besuchsreise „des Rappens wegen"
an einem Wirtshaus gehalten und dabei das Glück gehabt habe, seinen alten
verehrten Patron, den General von N., um die Ecke kommen zu sehen und
begrüßen zu können.

Bei jenem ersten Kaffee in sah. nun hielt er mir einen sehr verwickelten
Vortrag, aus dem ich nur so viel verstand, daß mein Vorgänger ein infamer
Windhund gewesen sei, der sich nicht allein öfter bekneipt und bald im Rausch,
bald im Kater allerlei Ärgernis gegeben, sondern auch die Gemeinde gegen
den Kommissarius aufgehetzt und eine Intrigue gegen ihn angesponnen habe,
weshalb dringend gewünscht werde, daß ich auf den Umgang mit Gemeinde¬
mitgliedern möglichst verzichten und mich mit der Befriedigung meines Unter¬
haltungsbedürfnisses auf den Pfarrhof beschränken möchte.

Es fand sich, daß das nicht schwer war. Der Kommissarius Menzel,
ein kleiner, dicker, freundlicher Mann, hatte ein so lebhaftes Unterhaltungs¬
bedürfnis, daß das meinige durch den Verkehr mit ihm reichlich gedeckt wurde.
Anfangs war ich sogar verdrießlich darüber, daß es mir mehr Zeit wegnahm,
als ich bisher der Unterhaltung zu opfern gewöhnt gewesen war. Nach der
Messe mußte ich mit ihm frühstücken; das erschien mir geradezu als ein Skandal,
schon am frühen Morgen eine viertel bis eine halbe Stunde zu verplaudern,
und nicht weniger anstößig war mir der philisterhafte Vesperkaffee, der eben¬
falls gemeinsam eingenommen wurde und die gleiche Zeit beanspruchte. Da¬
gegen ließ ich mir das gesellige Mittag- und Abendessen und ein Plauder¬
stündchen nach dem Abendessen gern gefallen. Menzel hatte elf Jahre am
Dom zugebracht und war Vertrauter zweier Bischöfe gewesen: des Weihbischofs
Schubert und des Fürstbischofs Sedlnitzky, der bekanntlich resignirt hat und
damals als Mitglied des Staatsrath in Berlin lebte. Den Sommer brachte
Sedlnitzky auf seinem schlesischen Landgute Groß-Sägewitz zu und holte ge¬
wöhnlich seinen lieben Menzel auf einige Tage dahin ab. Daß ihre Freund-


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[0618] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome gewesen sein. Die H—dorfer Bauern kamen denn auch lieber zu uns in die Kirche, obwohl sie über eine Stunde zu laufen hatten. Kamen sie nach Hause zurück, so war Z. gewöhnlich mit seinem Gottesdienst noch nicht fertig. Er hatte einen sehr schneidigen ErzPriester, einen feinen, reichen Mann, der die zu visitirenden Amtsbruder in Jagdjoppe und Stulpenstiefeln zu Pferde heim¬ suchte. Auf wiederholte Klagen der Bauern entschied dieser schließlich: der Schulmeister habe Punkt halb zehn (die Predigt war vor dem Amte) mit der Orgel einzufallen und so dem „Gemare" ein Ende zu machen. Z. war immer sehr erfreut, wenn ich ihn einmal besuchte, weil ich mir seine Vorträge gefallen ließ. Sie handelten teils vom katholischen Aufschwung und von der rich¬ tigen Seelsorgerpraxis, teils von der Landwirtschaft und dem Vater Thaer; er berichtete über den Jahresertrag seiner Wirtschaft: zwei Schweine, Kälber, x Zentner Heu u. s. w., und zum Schluß, oder je nachdem zum Anfang, kam gewöhnlich die Geschichte, wie er auf einer Besuchsreise „des Rappens wegen" an einem Wirtshaus gehalten und dabei das Glück gehabt habe, seinen alten verehrten Patron, den General von N., um die Ecke kommen zu sehen und begrüßen zu können. Bei jenem ersten Kaffee in sah. nun hielt er mir einen sehr verwickelten Vortrag, aus dem ich nur so viel verstand, daß mein Vorgänger ein infamer Windhund gewesen sei, der sich nicht allein öfter bekneipt und bald im Rausch, bald im Kater allerlei Ärgernis gegeben, sondern auch die Gemeinde gegen den Kommissarius aufgehetzt und eine Intrigue gegen ihn angesponnen habe, weshalb dringend gewünscht werde, daß ich auf den Umgang mit Gemeinde¬ mitgliedern möglichst verzichten und mich mit der Befriedigung meines Unter¬ haltungsbedürfnisses auf den Pfarrhof beschränken möchte. Es fand sich, daß das nicht schwer war. Der Kommissarius Menzel, ein kleiner, dicker, freundlicher Mann, hatte ein so lebhaftes Unterhaltungs¬ bedürfnis, daß das meinige durch den Verkehr mit ihm reichlich gedeckt wurde. Anfangs war ich sogar verdrießlich darüber, daß es mir mehr Zeit wegnahm, als ich bisher der Unterhaltung zu opfern gewöhnt gewesen war. Nach der Messe mußte ich mit ihm frühstücken; das erschien mir geradezu als ein Skandal, schon am frühen Morgen eine viertel bis eine halbe Stunde zu verplaudern, und nicht weniger anstößig war mir der philisterhafte Vesperkaffee, der eben¬ falls gemeinsam eingenommen wurde und die gleiche Zeit beanspruchte. Da¬ gegen ließ ich mir das gesellige Mittag- und Abendessen und ein Plauder¬ stündchen nach dem Abendessen gern gefallen. Menzel hatte elf Jahre am Dom zugebracht und war Vertrauter zweier Bischöfe gewesen: des Weihbischofs Schubert und des Fürstbischofs Sedlnitzky, der bekanntlich resignirt hat und damals als Mitglied des Staatsrath in Berlin lebte. Den Sommer brachte Sedlnitzky auf seinem schlesischen Landgute Groß-Sägewitz zu und holte ge¬ wöhnlich seinen lieben Menzel auf einige Tage dahin ab. Daß ihre Freund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/618>, abgerufen am 22.12.2024.