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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Italienische Eindrücke

die Kauflust unwiderstehlich locken und den Geschmack durch das bloße Anschauen
dieser Herrlichkeiten befriedigen, der wird den Italienern gern den Vorrang
zugestehen und für ähnliche Schaufenster in deutschen Städten nur noch eine
sehr müßige Bewunderung übrig haben.

Große Schätze lassen sich freilich mit solchen Betrieben nicht sammeln,
und daher ist Italien gegenwärtig in seiner finanziellen Entwicklung hinter
andern Kulturländern zurückgeblieben. Dafür kennt es aber auch manche Übel¬
stände nicht in dem Maße, wie sie anderwärts auftreten. Nur an verhältnis¬
mäßig wenigen Stellen häufen sich dort die Massen der Fabrikarbeiter derart
an wie bei uns, von dem wasserkopfähnlichen Anschwellen unsrer Großstädte
ist dort wenig zu merken -- von den Städten, die ich gesehen habe, zeigen
nur Rom und Neapel ein rascheres Wachstum --, und die Sozialdemokratie
hat dort bei weitem nicht die Bedeutung wie in Deutschland. Übrigens geschieht
auch manches, um ihr entgegenzuarbeiten; namentlich giebt es in Nord- und
Mittelitalien zahlreiche Vereinigungen von Gewerbetreibenden verwandter Be¬
rufszweige zu gegenseitiger Unterstützung (soeiM <Z00x"zr3,t,lok), und das Spar¬
kassenwesen ist ziemlich ausgebildet. Die soziale Krankheit ist freilich auch in
Italien vorhanden; nur liegt sie dort weniger in den industriellen, als in
den ländlichen Verhältnissen. Alle die Eroberungen und Erschütterungen, die
über die Halbinsel gegangen sind, haben nichts an der Erbschaft des Alter¬
tums zu ändern vermocht, der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes. Nur
selten ist der Bebaucr Eigentümer des Bodens, dem er seinen Reichtum ab¬
gewinnt, meist nur der Pächter oder der Tagelöhner. Einen freien Bauern¬
stand hat Italien nicht, außer im Westen der Potiefebne und in einigen süo-
lichen Landschaften. In weiten Strichen, wie in Toscana, wiegt die Halb¬
pacht (rae-ZWclrig.) vor, bei der der Eigentümer die Hälfte des Ertrags, oft
in natur-z., erhält und der Pächter auf jährlicher Kündigung steht; anderwärts
herrschen günstigere Formen des Pachtverhältnisses. Selten nur bewirtschaftet
der Eigentümer (p0öff8hors) einen Teil seines Grund und Bodens selber; ge¬
wöhnlich sitzt er in einer großen Stadt, überträgt einem Generalpächter die
Verwaltung seiner Güter, der ebenfalls in der Stadt sitzt, und hält höchstens
einige Sommermonate hindurch Villeggiatura auf einem künstlerisch auf¬
geschmückten Landsitz in schattigem Park. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich
auch das jedem auffallende, meist schadhafte und halbverfallne Aussehen so vieler
ländlichen Gehöfte, denn eigentlich hat niemand ein Interesse daran, sie be¬
haglich und wohnlich zu gestalten. Die soziale Frage ist daher in Italien
wesentlich agrarischer Natur. Gerade hier könnte durch innere Kolonisation
sehr viel geholfen werden, denn die Wald- und Sumpfwüste der Maremmen
und die Einöde der römischen Campagna, über denen jetzt im Sommer die
Malaria, die Fieberluft brütet, könnten Tausenden von fleißigen Bauern Anker¬
grund geben, wie sie ihn einst gegeben haben. Statt dessen läßt man all-


Italienische Eindrücke

die Kauflust unwiderstehlich locken und den Geschmack durch das bloße Anschauen
dieser Herrlichkeiten befriedigen, der wird den Italienern gern den Vorrang
zugestehen und für ähnliche Schaufenster in deutschen Städten nur noch eine
sehr müßige Bewunderung übrig haben.

Große Schätze lassen sich freilich mit solchen Betrieben nicht sammeln,
und daher ist Italien gegenwärtig in seiner finanziellen Entwicklung hinter
andern Kulturländern zurückgeblieben. Dafür kennt es aber auch manche Übel¬
stände nicht in dem Maße, wie sie anderwärts auftreten. Nur an verhältnis¬
mäßig wenigen Stellen häufen sich dort die Massen der Fabrikarbeiter derart
an wie bei uns, von dem wasserkopfähnlichen Anschwellen unsrer Großstädte
ist dort wenig zu merken — von den Städten, die ich gesehen habe, zeigen
nur Rom und Neapel ein rascheres Wachstum —, und die Sozialdemokratie
hat dort bei weitem nicht die Bedeutung wie in Deutschland. Übrigens geschieht
auch manches, um ihr entgegenzuarbeiten; namentlich giebt es in Nord- und
Mittelitalien zahlreiche Vereinigungen von Gewerbetreibenden verwandter Be¬
rufszweige zu gegenseitiger Unterstützung (soeiM <Z00x«zr3,t,lok), und das Spar¬
kassenwesen ist ziemlich ausgebildet. Die soziale Krankheit ist freilich auch in
Italien vorhanden; nur liegt sie dort weniger in den industriellen, als in
den ländlichen Verhältnissen. Alle die Eroberungen und Erschütterungen, die
über die Halbinsel gegangen sind, haben nichts an der Erbschaft des Alter¬
tums zu ändern vermocht, der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes. Nur
selten ist der Bebaucr Eigentümer des Bodens, dem er seinen Reichtum ab¬
gewinnt, meist nur der Pächter oder der Tagelöhner. Einen freien Bauern¬
stand hat Italien nicht, außer im Westen der Potiefebne und in einigen süo-
lichen Landschaften. In weiten Strichen, wie in Toscana, wiegt die Halb¬
pacht (rae-ZWclrig.) vor, bei der der Eigentümer die Hälfte des Ertrags, oft
in natur-z., erhält und der Pächter auf jährlicher Kündigung steht; anderwärts
herrschen günstigere Formen des Pachtverhältnisses. Selten nur bewirtschaftet
der Eigentümer (p0öff8hors) einen Teil seines Grund und Bodens selber; ge¬
wöhnlich sitzt er in einer großen Stadt, überträgt einem Generalpächter die
Verwaltung seiner Güter, der ebenfalls in der Stadt sitzt, und hält höchstens
einige Sommermonate hindurch Villeggiatura auf einem künstlerisch auf¬
geschmückten Landsitz in schattigem Park. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich
auch das jedem auffallende, meist schadhafte und halbverfallne Aussehen so vieler
ländlichen Gehöfte, denn eigentlich hat niemand ein Interesse daran, sie be¬
haglich und wohnlich zu gestalten. Die soziale Frage ist daher in Italien
wesentlich agrarischer Natur. Gerade hier könnte durch innere Kolonisation
sehr viel geholfen werden, denn die Wald- und Sumpfwüste der Maremmen
und die Einöde der römischen Campagna, über denen jetzt im Sommer die
Malaria, die Fieberluft brütet, könnten Tausenden von fleißigen Bauern Anker¬
grund geben, wie sie ihn einst gegeben haben. Statt dessen läßt man all-


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[0604] Italienische Eindrücke die Kauflust unwiderstehlich locken und den Geschmack durch das bloße Anschauen dieser Herrlichkeiten befriedigen, der wird den Italienern gern den Vorrang zugestehen und für ähnliche Schaufenster in deutschen Städten nur noch eine sehr müßige Bewunderung übrig haben. Große Schätze lassen sich freilich mit solchen Betrieben nicht sammeln, und daher ist Italien gegenwärtig in seiner finanziellen Entwicklung hinter andern Kulturländern zurückgeblieben. Dafür kennt es aber auch manche Übel¬ stände nicht in dem Maße, wie sie anderwärts auftreten. Nur an verhältnis¬ mäßig wenigen Stellen häufen sich dort die Massen der Fabrikarbeiter derart an wie bei uns, von dem wasserkopfähnlichen Anschwellen unsrer Großstädte ist dort wenig zu merken — von den Städten, die ich gesehen habe, zeigen nur Rom und Neapel ein rascheres Wachstum —, und die Sozialdemokratie hat dort bei weitem nicht die Bedeutung wie in Deutschland. Übrigens geschieht auch manches, um ihr entgegenzuarbeiten; namentlich giebt es in Nord- und Mittelitalien zahlreiche Vereinigungen von Gewerbetreibenden verwandter Be¬ rufszweige zu gegenseitiger Unterstützung (soeiM <Z00x«zr3,t,lok), und das Spar¬ kassenwesen ist ziemlich ausgebildet. Die soziale Krankheit ist freilich auch in Italien vorhanden; nur liegt sie dort weniger in den industriellen, als in den ländlichen Verhältnissen. Alle die Eroberungen und Erschütterungen, die über die Halbinsel gegangen sind, haben nichts an der Erbschaft des Alter¬ tums zu ändern vermocht, der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes. Nur selten ist der Bebaucr Eigentümer des Bodens, dem er seinen Reichtum ab¬ gewinnt, meist nur der Pächter oder der Tagelöhner. Einen freien Bauern¬ stand hat Italien nicht, außer im Westen der Potiefebne und in einigen süo- lichen Landschaften. In weiten Strichen, wie in Toscana, wiegt die Halb¬ pacht (rae-ZWclrig.) vor, bei der der Eigentümer die Hälfte des Ertrags, oft in natur-z., erhält und der Pächter auf jährlicher Kündigung steht; anderwärts herrschen günstigere Formen des Pachtverhältnisses. Selten nur bewirtschaftet der Eigentümer (p0öff8hors) einen Teil seines Grund und Bodens selber; ge¬ wöhnlich sitzt er in einer großen Stadt, überträgt einem Generalpächter die Verwaltung seiner Güter, der ebenfalls in der Stadt sitzt, und hält höchstens einige Sommermonate hindurch Villeggiatura auf einem künstlerisch auf¬ geschmückten Landsitz in schattigem Park. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich auch das jedem auffallende, meist schadhafte und halbverfallne Aussehen so vieler ländlichen Gehöfte, denn eigentlich hat niemand ein Interesse daran, sie be¬ haglich und wohnlich zu gestalten. Die soziale Frage ist daher in Italien wesentlich agrarischer Natur. Gerade hier könnte durch innere Kolonisation sehr viel geholfen werden, denn die Wald- und Sumpfwüste der Maremmen und die Einöde der römischen Campagna, über denen jetzt im Sommer die Malaria, die Fieberluft brütet, könnten Tausenden von fleißigen Bauern Anker¬ grund geben, wie sie ihn einst gegeben haben. Statt dessen läßt man all-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/604>, abgerufen am 25.08.2024.