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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Italienische Lindrücke

Boden der nationalen Staatsordnung. Ziemlich ausführlich werden die innern
politischen Fragen erörtert, wobei jedoch die sozialen Verhältnisse keineswegs
den breiten Raum einnehmen wie bei uns; dafür brachte fast jede Nummer
spaltenlange Berichte und Erörterungen über die bevorstehenden Neuwahlen
zum Parlament. Sehr ausführlich Pflegen örtliche oder landschaftliche An¬
gelegenheiten und auch Dinge behandelt zu werden, die unsre Zeitungen unter
der Rubrik "Vermischtes" bringen: Unglücksfälle, Verbrechen, Ehrenhändel,
Skandalgeschichten, stets unter Überschriften, die schon durch ihre Form die
Neugier reizen und zuweilen wie der Titel eiuer Oper klingen, und vor allem
interessantere Gerichtsverhandlungen. Über einen Fälschungsprozeß (Bracciotti)
vor dem Schwurgericht in Siena brachten Ende März und Anfang April die
Blätter täglich spaltenlange, auf stenographischer Niederschrift beruhende Be¬
richte mit allen erdenklichen, namentlich den das Gefühl des Lesers ergreifenden
Einzelheiten in wahrhaft dramatischer Färbung. Die Italiener sind eben immer
uoch die Landsleute Ciceros. Auch sonst ist die "Mache" zuweilen äußerst
geschickt. Der Bericht eines Korrespondenten des Lorrisrs all L-vena über den
durch Erdfälle neu entstandnen See von Leprignano unweit von Rom und
seinen Ausflug dahin las sich wie eine Novelle, und bei einem andern über
einen blutigen Zusammenstoß zwischen Carabinieri und Briganten auf Sizilien
wurden dem Leser auch die Blutlachen auf dem Boden nicht geschenkt. Auch
Theater und Litteratur nehmen einen großen Raum ein. Über ausländische
Verhältnisse sind die Zeitungen meist ziemlich knapp, und ihr Verständnis scheint
meist nicht groß. Von deutschen Angelegenheiten sind mir besonders aufgestoßen
die Berichte und Betrachtungen über den Geburtstag Fürst Bismarcks, an dem
sie aber nichts mehr zu rühmen wußten, als daß er niemals -- eine roman¬
tische Liebschaft gehabt habe, die Erörterungen über den Nordostseekanal und
seine bevorstehende Einweihung, und eine schwergelehrte Abhandlung über --
die lippe-schanmburgische Erbfolgefrage. Manche Urteile konnten nur ein
Lächeln erwecken. So, wenn irgend ein Blatt die ablehnende Haltung des
Reichstags bei Bismarcks Geburtstag, die mein schon erwähnter Florentiner
rund heraus uns, vel'ZoMg. (eine Schande) nannte, als einen Beweis der Selb¬
ständigkeit des deutschen Volksgeistes gegenüber dem Willen des Kaisers auf¬
faßte oder eine andre mit besonders tiefsinniger Weisheit den kläglichen Be¬
schluß auf eine Bismarckische Intrigue zurückführte, die den Zweck habe, den
Boden für eine Reaktion vorzubereiten! Ich will jedoch nicht behaupten, daß
bei uns dergleichen thörichte Auffassungen italienischer Verhältnisse unmöglich
wären. Sehr viel thun manche Blätter für die Veranschaulichung. Zu dem
schon erwähnten Bericht über den See von Leprignano brachte der Oorrisriz
eine große Abbildung des Sees mit Erklärung, zwei Ansichten aus dem kleinen
Orte und sogar, was einer gewissen Komik nicht entbehrte, die Bildnisse des
Sindnco (Bürgermeisters) und der sämtlichen würdigen Mitglieder des Ge-


Italienische Lindrücke

Boden der nationalen Staatsordnung. Ziemlich ausführlich werden die innern
politischen Fragen erörtert, wobei jedoch die sozialen Verhältnisse keineswegs
den breiten Raum einnehmen wie bei uns; dafür brachte fast jede Nummer
spaltenlange Berichte und Erörterungen über die bevorstehenden Neuwahlen
zum Parlament. Sehr ausführlich Pflegen örtliche oder landschaftliche An¬
gelegenheiten und auch Dinge behandelt zu werden, die unsre Zeitungen unter
der Rubrik „Vermischtes" bringen: Unglücksfälle, Verbrechen, Ehrenhändel,
Skandalgeschichten, stets unter Überschriften, die schon durch ihre Form die
Neugier reizen und zuweilen wie der Titel eiuer Oper klingen, und vor allem
interessantere Gerichtsverhandlungen. Über einen Fälschungsprozeß (Bracciotti)
vor dem Schwurgericht in Siena brachten Ende März und Anfang April die
Blätter täglich spaltenlange, auf stenographischer Niederschrift beruhende Be¬
richte mit allen erdenklichen, namentlich den das Gefühl des Lesers ergreifenden
Einzelheiten in wahrhaft dramatischer Färbung. Die Italiener sind eben immer
uoch die Landsleute Ciceros. Auch sonst ist die „Mache" zuweilen äußerst
geschickt. Der Bericht eines Korrespondenten des Lorrisrs all L-vena über den
durch Erdfälle neu entstandnen See von Leprignano unweit von Rom und
seinen Ausflug dahin las sich wie eine Novelle, und bei einem andern über
einen blutigen Zusammenstoß zwischen Carabinieri und Briganten auf Sizilien
wurden dem Leser auch die Blutlachen auf dem Boden nicht geschenkt. Auch
Theater und Litteratur nehmen einen großen Raum ein. Über ausländische
Verhältnisse sind die Zeitungen meist ziemlich knapp, und ihr Verständnis scheint
meist nicht groß. Von deutschen Angelegenheiten sind mir besonders aufgestoßen
die Berichte und Betrachtungen über den Geburtstag Fürst Bismarcks, an dem
sie aber nichts mehr zu rühmen wußten, als daß er niemals — eine roman¬
tische Liebschaft gehabt habe, die Erörterungen über den Nordostseekanal und
seine bevorstehende Einweihung, und eine schwergelehrte Abhandlung über —
die lippe-schanmburgische Erbfolgefrage. Manche Urteile konnten nur ein
Lächeln erwecken. So, wenn irgend ein Blatt die ablehnende Haltung des
Reichstags bei Bismarcks Geburtstag, die mein schon erwähnter Florentiner
rund heraus uns, vel'ZoMg. (eine Schande) nannte, als einen Beweis der Selb¬
ständigkeit des deutschen Volksgeistes gegenüber dem Willen des Kaisers auf¬
faßte oder eine andre mit besonders tiefsinniger Weisheit den kläglichen Be¬
schluß auf eine Bismarckische Intrigue zurückführte, die den Zweck habe, den
Boden für eine Reaktion vorzubereiten! Ich will jedoch nicht behaupten, daß
bei uns dergleichen thörichte Auffassungen italienischer Verhältnisse unmöglich
wären. Sehr viel thun manche Blätter für die Veranschaulichung. Zu dem
schon erwähnten Bericht über den See von Leprignano brachte der Oorrisriz
eine große Abbildung des Sees mit Erklärung, zwei Ansichten aus dem kleinen
Orte und sogar, was einer gewissen Komik nicht entbehrte, die Bildnisse des
Sindnco (Bürgermeisters) und der sämtlichen würdigen Mitglieder des Ge-


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[0576] Italienische Lindrücke Boden der nationalen Staatsordnung. Ziemlich ausführlich werden die innern politischen Fragen erörtert, wobei jedoch die sozialen Verhältnisse keineswegs den breiten Raum einnehmen wie bei uns; dafür brachte fast jede Nummer spaltenlange Berichte und Erörterungen über die bevorstehenden Neuwahlen zum Parlament. Sehr ausführlich Pflegen örtliche oder landschaftliche An¬ gelegenheiten und auch Dinge behandelt zu werden, die unsre Zeitungen unter der Rubrik „Vermischtes" bringen: Unglücksfälle, Verbrechen, Ehrenhändel, Skandalgeschichten, stets unter Überschriften, die schon durch ihre Form die Neugier reizen und zuweilen wie der Titel eiuer Oper klingen, und vor allem interessantere Gerichtsverhandlungen. Über einen Fälschungsprozeß (Bracciotti) vor dem Schwurgericht in Siena brachten Ende März und Anfang April die Blätter täglich spaltenlange, auf stenographischer Niederschrift beruhende Be¬ richte mit allen erdenklichen, namentlich den das Gefühl des Lesers ergreifenden Einzelheiten in wahrhaft dramatischer Färbung. Die Italiener sind eben immer uoch die Landsleute Ciceros. Auch sonst ist die „Mache" zuweilen äußerst geschickt. Der Bericht eines Korrespondenten des Lorrisrs all L-vena über den durch Erdfälle neu entstandnen See von Leprignano unweit von Rom und seinen Ausflug dahin las sich wie eine Novelle, und bei einem andern über einen blutigen Zusammenstoß zwischen Carabinieri und Briganten auf Sizilien wurden dem Leser auch die Blutlachen auf dem Boden nicht geschenkt. Auch Theater und Litteratur nehmen einen großen Raum ein. Über ausländische Verhältnisse sind die Zeitungen meist ziemlich knapp, und ihr Verständnis scheint meist nicht groß. Von deutschen Angelegenheiten sind mir besonders aufgestoßen die Berichte und Betrachtungen über den Geburtstag Fürst Bismarcks, an dem sie aber nichts mehr zu rühmen wußten, als daß er niemals — eine roman¬ tische Liebschaft gehabt habe, die Erörterungen über den Nordostseekanal und seine bevorstehende Einweihung, und eine schwergelehrte Abhandlung über — die lippe-schanmburgische Erbfolgefrage. Manche Urteile konnten nur ein Lächeln erwecken. So, wenn irgend ein Blatt die ablehnende Haltung des Reichstags bei Bismarcks Geburtstag, die mein schon erwähnter Florentiner rund heraus uns, vel'ZoMg. (eine Schande) nannte, als einen Beweis der Selb¬ ständigkeit des deutschen Volksgeistes gegenüber dem Willen des Kaisers auf¬ faßte oder eine andre mit besonders tiefsinniger Weisheit den kläglichen Be¬ schluß auf eine Bismarckische Intrigue zurückführte, die den Zweck habe, den Boden für eine Reaktion vorzubereiten! Ich will jedoch nicht behaupten, daß bei uns dergleichen thörichte Auffassungen italienischer Verhältnisse unmöglich wären. Sehr viel thun manche Blätter für die Veranschaulichung. Zu dem schon erwähnten Bericht über den See von Leprignano brachte der Oorrisriz eine große Abbildung des Sees mit Erklärung, zwei Ansichten aus dem kleinen Orte und sogar, was einer gewissen Komik nicht entbehrte, die Bildnisse des Sindnco (Bürgermeisters) und der sämtlichen würdigen Mitglieder des Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/576>, abgerufen am 25.08.2024.