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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unser Jrrenwesen

Aber auch die reine Prüfung des Geisteszustandes erscheint den Göttinger
Herren als eine Aufgabe, der der gebildete Laie ohne weiteres gewachsen sei.
Sie meinen, da sie die gesunde Geistesthätigkeit kennen, müßten sie die Ab¬
weichungen wahrnehmen. Sie stellen sich die Sache so vor, als gäbe es
zwischen Gesundheit und Krankheit einen allmählichen Übergang, und als käme
es nur darauf an, nach einem praktischen Maßstabe zu entscheiden, ob die Ab¬
weichung stark genug sei, die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen oder nicht.
Wie dieser Maßstab beschaffen sein soll, darüber bewahren sie wohlweislich
Stillschweigen.

Um sich von den Geistesstörungen ein Bild zu machen, muß man sie mit
den Leiden des Körpers vergleichen. Die Trennung beider ist zwar wohl be¬
gründet, bedeutet aber keineswegs, daß sie ihrem innersten Wesen nach ver¬
schieden wären. Im Gegenteil: Krankheit des Geistes ist stets zugleich Krank¬
heit des Körpers, und zwar eines bestimmten Körperteils, des Gehirns. Als
Gehirnleiden ist sie an bestimmten körperlichen Erscheinungen kenntlich. In¬
soweit diese Krnnkheitszeichen im Gehirn selbst ihren Sitz haben, lassen sie sich
erst nach dem Tode beobachten; da aber das Gehirn mit dem ganzen übrigen
Körper innig verbunden ist, so rufen seine Störungen auch in andern Körper¬
teilen Krankheitserscheinungen hervor. Diese mittelbaren Zeichen können in
allgemeiner Steigerung oder Abschwächung der Bewegungen bis hin zur Re¬
gungslosigkeit, in absonderlichen Bewegungsreihen und in Krümpfen oder Läh¬
mungen bestehen. Natürlich kommen nur solche körperliche Erscheinungen in
Betracht, die als untrügliche Merkmale einer Geistesstörung bekannt sind. Dmi
Unkundigen entgehen sie oft vollständig, und das in Fällen, wo sie für die
Beurteilung den Ausschlag geben. Es giebt Geisteskrankheiten, die ganz ver¬
schieden enden, aber zu einer Zeit in ihren geistigen Anzeichen so ähnlich sind,
daß sie nur durch die körperlichen Krankheitserscheinungen sicher getrennt werden
können. Auch ereignet es sich bei der unter dem Namen der Gehirnerweichung
bekannten unheilbaren Geisteskrankheit nicht selten, daß die geistigen Störungen
bis zur Unkenntlichkeit verschwinden. Der Arzt stützt sein Urteil dann allein
auf die körperlichen Krankheitszeichen, und indem er die freie Selbstbestimmung
des Kranken verhindert, bewahrt er dessen Familie vor schwerer Schädigung.

Wie man verschiedne Leiden des Körpers, ja jedes einzelnen Körperteils
unterscheidet, wie z.B. die Lunge von der Schwindsucht, der Lungenentzün¬
dung, dem Lungenbrand u. s. w. befallen sein kann, so giebt es auch eine
ganze Anzahl verschiedner Geistesstörungen, von denen jede besondre Krank¬
heitszeichen und besondern Verlauf hat. Die Untersuchung eines erkrankten
Körpers wird man nicht eher für abgeschlossen halten, als bis Sitz und Art
der Krankheit gefunden sind. Ebenso wenig aber wird man sich mit dem all¬
gemeinen Ergebnis, daß Geistesstörung bestehe, zufrieden geben können. Nur
wenn die bestimmte Gattung der vorliegenden Störung ermittelt ist, hat man


Grenzboten II 1895 70
Unser Jrrenwesen

Aber auch die reine Prüfung des Geisteszustandes erscheint den Göttinger
Herren als eine Aufgabe, der der gebildete Laie ohne weiteres gewachsen sei.
Sie meinen, da sie die gesunde Geistesthätigkeit kennen, müßten sie die Ab¬
weichungen wahrnehmen. Sie stellen sich die Sache so vor, als gäbe es
zwischen Gesundheit und Krankheit einen allmählichen Übergang, und als käme
es nur darauf an, nach einem praktischen Maßstabe zu entscheiden, ob die Ab¬
weichung stark genug sei, die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen oder nicht.
Wie dieser Maßstab beschaffen sein soll, darüber bewahren sie wohlweislich
Stillschweigen.

Um sich von den Geistesstörungen ein Bild zu machen, muß man sie mit
den Leiden des Körpers vergleichen. Die Trennung beider ist zwar wohl be¬
gründet, bedeutet aber keineswegs, daß sie ihrem innersten Wesen nach ver¬
schieden wären. Im Gegenteil: Krankheit des Geistes ist stets zugleich Krank¬
heit des Körpers, und zwar eines bestimmten Körperteils, des Gehirns. Als
Gehirnleiden ist sie an bestimmten körperlichen Erscheinungen kenntlich. In¬
soweit diese Krnnkheitszeichen im Gehirn selbst ihren Sitz haben, lassen sie sich
erst nach dem Tode beobachten; da aber das Gehirn mit dem ganzen übrigen
Körper innig verbunden ist, so rufen seine Störungen auch in andern Körper¬
teilen Krankheitserscheinungen hervor. Diese mittelbaren Zeichen können in
allgemeiner Steigerung oder Abschwächung der Bewegungen bis hin zur Re¬
gungslosigkeit, in absonderlichen Bewegungsreihen und in Krümpfen oder Läh¬
mungen bestehen. Natürlich kommen nur solche körperliche Erscheinungen in
Betracht, die als untrügliche Merkmale einer Geistesstörung bekannt sind. Dmi
Unkundigen entgehen sie oft vollständig, und das in Fällen, wo sie für die
Beurteilung den Ausschlag geben. Es giebt Geisteskrankheiten, die ganz ver¬
schieden enden, aber zu einer Zeit in ihren geistigen Anzeichen so ähnlich sind,
daß sie nur durch die körperlichen Krankheitserscheinungen sicher getrennt werden
können. Auch ereignet es sich bei der unter dem Namen der Gehirnerweichung
bekannten unheilbaren Geisteskrankheit nicht selten, daß die geistigen Störungen
bis zur Unkenntlichkeit verschwinden. Der Arzt stützt sein Urteil dann allein
auf die körperlichen Krankheitszeichen, und indem er die freie Selbstbestimmung
des Kranken verhindert, bewahrt er dessen Familie vor schwerer Schädigung.

Wie man verschiedne Leiden des Körpers, ja jedes einzelnen Körperteils
unterscheidet, wie z.B. die Lunge von der Schwindsucht, der Lungenentzün¬
dung, dem Lungenbrand u. s. w. befallen sein kann, so giebt es auch eine
ganze Anzahl verschiedner Geistesstörungen, von denen jede besondre Krank¬
heitszeichen und besondern Verlauf hat. Die Untersuchung eines erkrankten
Körpers wird man nicht eher für abgeschlossen halten, als bis Sitz und Art
der Krankheit gefunden sind. Ebenso wenig aber wird man sich mit dem all¬
gemeinen Ergebnis, daß Geistesstörung bestehe, zufrieden geben können. Nur
wenn die bestimmte Gattung der vorliegenden Störung ermittelt ist, hat man


Grenzboten II 1895 70
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[0561] Unser Jrrenwesen Aber auch die reine Prüfung des Geisteszustandes erscheint den Göttinger Herren als eine Aufgabe, der der gebildete Laie ohne weiteres gewachsen sei. Sie meinen, da sie die gesunde Geistesthätigkeit kennen, müßten sie die Ab¬ weichungen wahrnehmen. Sie stellen sich die Sache so vor, als gäbe es zwischen Gesundheit und Krankheit einen allmählichen Übergang, und als käme es nur darauf an, nach einem praktischen Maßstabe zu entscheiden, ob die Ab¬ weichung stark genug sei, die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen oder nicht. Wie dieser Maßstab beschaffen sein soll, darüber bewahren sie wohlweislich Stillschweigen. Um sich von den Geistesstörungen ein Bild zu machen, muß man sie mit den Leiden des Körpers vergleichen. Die Trennung beider ist zwar wohl be¬ gründet, bedeutet aber keineswegs, daß sie ihrem innersten Wesen nach ver¬ schieden wären. Im Gegenteil: Krankheit des Geistes ist stets zugleich Krank¬ heit des Körpers, und zwar eines bestimmten Körperteils, des Gehirns. Als Gehirnleiden ist sie an bestimmten körperlichen Erscheinungen kenntlich. In¬ soweit diese Krnnkheitszeichen im Gehirn selbst ihren Sitz haben, lassen sie sich erst nach dem Tode beobachten; da aber das Gehirn mit dem ganzen übrigen Körper innig verbunden ist, so rufen seine Störungen auch in andern Körper¬ teilen Krankheitserscheinungen hervor. Diese mittelbaren Zeichen können in allgemeiner Steigerung oder Abschwächung der Bewegungen bis hin zur Re¬ gungslosigkeit, in absonderlichen Bewegungsreihen und in Krümpfen oder Läh¬ mungen bestehen. Natürlich kommen nur solche körperliche Erscheinungen in Betracht, die als untrügliche Merkmale einer Geistesstörung bekannt sind. Dmi Unkundigen entgehen sie oft vollständig, und das in Fällen, wo sie für die Beurteilung den Ausschlag geben. Es giebt Geisteskrankheiten, die ganz ver¬ schieden enden, aber zu einer Zeit in ihren geistigen Anzeichen so ähnlich sind, daß sie nur durch die körperlichen Krankheitserscheinungen sicher getrennt werden können. Auch ereignet es sich bei der unter dem Namen der Gehirnerweichung bekannten unheilbaren Geisteskrankheit nicht selten, daß die geistigen Störungen bis zur Unkenntlichkeit verschwinden. Der Arzt stützt sein Urteil dann allein auf die körperlichen Krankheitszeichen, und indem er die freie Selbstbestimmung des Kranken verhindert, bewahrt er dessen Familie vor schwerer Schädigung. Wie man verschiedne Leiden des Körpers, ja jedes einzelnen Körperteils unterscheidet, wie z.B. die Lunge von der Schwindsucht, der Lungenentzün¬ dung, dem Lungenbrand u. s. w. befallen sein kann, so giebt es auch eine ganze Anzahl verschiedner Geistesstörungen, von denen jede besondre Krank¬ heitszeichen und besondern Verlauf hat. Die Untersuchung eines erkrankten Körpers wird man nicht eher für abgeschlossen halten, als bis Sitz und Art der Krankheit gefunden sind. Ebenso wenig aber wird man sich mit dem all¬ gemeinen Ergebnis, daß Geistesstörung bestehe, zufrieden geben können. Nur wenn die bestimmte Gattung der vorliegenden Störung ermittelt ist, hat man Grenzboten II 1895 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/561>, abgerufen am 24.08.2024.