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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unser Jrrenwesen

einen sichern Untergrund für die rechtliche Beurteilung. Diese kann sich doch
weder auf irgend eine Theorie, noch auf allgemeine praktische Lebenserfahrung
stützen, souderu nur auf die Kenntnis des Charakters und des voraussicht¬
lichen Verlaufs der Geistesstörung. Der Untersuchende muß also über Fach¬
wissen verfügen, er muß eine Menge einzelner Krankheitszeichen kennen und
aufzusuchen verstehen, und er muß wissen, wie sie sich zu Krankheitsbildern
zusammenfügen. Ganz wie er nach einem körperlichen Leiden fahndet, indem
er die Organe der Reihe nach betrachtet, betastet, beklopft und behorcht und
die Ergebnisse zusammenstellt, so wird er auch hier bestimmte Untersuchungs-
methoden anwenden, und sobald er das eine oder das andre charakteristische
Zeichen gefunden hat, sich von ihm in der Weiterprüfung leiten lassen, bis er
aus körperlichen und geistigen Krankheitszeichen ein bekanntes Krankheitsbild
mit Sicherheit erkennt.

Die Lehre von den Geistesstörungen verfügt über solche feststehende
Krankheitsbilder, in Einzelheiten sind sie persönlich gefärbt, in ihren großen
Zügen aber verlaufen sie so gesetzmäßig, daß sich die wichtigsten Schlüsse
ziehen lassen. So weiß man, daß gewisse Kranke zum Selbstmord neigen,
andre äußerst reizbar sind, wieder andre unrettbar und ziemlich rasch dem Tode
entgegengehen, obwohl manche unter ihnen sich vorübergehend so weit erholen,
daß sie Laien als genesen erscheinen. Aber nur der wird die Geistesstörung
erkennen und richtig beurteilen, der die in der Wissenschaft niedergelegten Er¬
fahrungen zu verwerten versteht. Die Göttinger Herren wollen freilich die
Lehre von den Seelenstörungen nicht als Wissenschaft anerkennen, sie stecke
noch zu sehr in den Kinderschuhen, so behaupten sie. Wenn dieser Vorwurf
nur nicht ihre eigne Kenntnis von dieser Lehre trifft!

Die Psychiatrie ist selbstverständlich ebenso wenig abgeschlossen wie irgend
ein andrer Zweig der Heilkunde. Es werden immer neue Krankheitszeichen
entdeckt und neue Krankheitsbilder von den alten getrennt. Aber gerade im
letzten Menschenalter hat die Lehre von den Geistesstörungen außerordentliche
Fortschritte gemacht, und wenn sie hinter der übrigen Pathologie noch zurück¬
steht, so ist das nur in einer Hinsicht der Fall: in der pathologischen Ana¬
tomie. Die anatomischen Veränderungen im Gehirn, die den einzelnen Krank¬
heitsbildern entsprechen, sind uns erst zum Teil bekannt. Aber so wertvoll
auch hierin eine Bereicherung unsrer Kenntnisse wäre, gerade für den in Rede
stehenden Zweck, für das Erkennen der Geistesstörung bei Lebzeiten des Kranken,
käme sie nicht in Betracht. In klinischer Hinsicht braucht die Psychiatrie den
Vergleich mit der übrigen Heilkunde nicht zu scheuen.

Nach diesen Aufklärungen dürfte wohl schon mancher zweifelhaft werden,
ob ihn sein gesunder Laienverstand befähigen werde, eine Untersuchung auf
Geistesstörung vorzunehmen. Selbst wenn ihm manches Krankhafte auffallen
sollte, würde ihm doch das geistige Band sür das Gefuudne fehlen. Es ist


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einen sichern Untergrund für die rechtliche Beurteilung. Diese kann sich doch
weder auf irgend eine Theorie, noch auf allgemeine praktische Lebenserfahrung
stützen, souderu nur auf die Kenntnis des Charakters und des voraussicht¬
lichen Verlaufs der Geistesstörung. Der Untersuchende muß also über Fach¬
wissen verfügen, er muß eine Menge einzelner Krankheitszeichen kennen und
aufzusuchen verstehen, und er muß wissen, wie sie sich zu Krankheitsbildern
zusammenfügen. Ganz wie er nach einem körperlichen Leiden fahndet, indem
er die Organe der Reihe nach betrachtet, betastet, beklopft und behorcht und
die Ergebnisse zusammenstellt, so wird er auch hier bestimmte Untersuchungs-
methoden anwenden, und sobald er das eine oder das andre charakteristische
Zeichen gefunden hat, sich von ihm in der Weiterprüfung leiten lassen, bis er
aus körperlichen und geistigen Krankheitszeichen ein bekanntes Krankheitsbild
mit Sicherheit erkennt.

Die Lehre von den Geistesstörungen verfügt über solche feststehende
Krankheitsbilder, in Einzelheiten sind sie persönlich gefärbt, in ihren großen
Zügen aber verlaufen sie so gesetzmäßig, daß sich die wichtigsten Schlüsse
ziehen lassen. So weiß man, daß gewisse Kranke zum Selbstmord neigen,
andre äußerst reizbar sind, wieder andre unrettbar und ziemlich rasch dem Tode
entgegengehen, obwohl manche unter ihnen sich vorübergehend so weit erholen,
daß sie Laien als genesen erscheinen. Aber nur der wird die Geistesstörung
erkennen und richtig beurteilen, der die in der Wissenschaft niedergelegten Er¬
fahrungen zu verwerten versteht. Die Göttinger Herren wollen freilich die
Lehre von den Seelenstörungen nicht als Wissenschaft anerkennen, sie stecke
noch zu sehr in den Kinderschuhen, so behaupten sie. Wenn dieser Vorwurf
nur nicht ihre eigne Kenntnis von dieser Lehre trifft!

Die Psychiatrie ist selbstverständlich ebenso wenig abgeschlossen wie irgend
ein andrer Zweig der Heilkunde. Es werden immer neue Krankheitszeichen
entdeckt und neue Krankheitsbilder von den alten getrennt. Aber gerade im
letzten Menschenalter hat die Lehre von den Geistesstörungen außerordentliche
Fortschritte gemacht, und wenn sie hinter der übrigen Pathologie noch zurück¬
steht, so ist das nur in einer Hinsicht der Fall: in der pathologischen Ana¬
tomie. Die anatomischen Veränderungen im Gehirn, die den einzelnen Krank¬
heitsbildern entsprechen, sind uns erst zum Teil bekannt. Aber so wertvoll
auch hierin eine Bereicherung unsrer Kenntnisse wäre, gerade für den in Rede
stehenden Zweck, für das Erkennen der Geistesstörung bei Lebzeiten des Kranken,
käme sie nicht in Betracht. In klinischer Hinsicht braucht die Psychiatrie den
Vergleich mit der übrigen Heilkunde nicht zu scheuen.

Nach diesen Aufklärungen dürfte wohl schon mancher zweifelhaft werden,
ob ihn sein gesunder Laienverstand befähigen werde, eine Untersuchung auf
Geistesstörung vorzunehmen. Selbst wenn ihm manches Krankhafte auffallen
sollte, würde ihm doch das geistige Band sür das Gefuudne fehlen. Es ist


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[0562] Unser Jrrenwesen einen sichern Untergrund für die rechtliche Beurteilung. Diese kann sich doch weder auf irgend eine Theorie, noch auf allgemeine praktische Lebenserfahrung stützen, souderu nur auf die Kenntnis des Charakters und des voraussicht¬ lichen Verlaufs der Geistesstörung. Der Untersuchende muß also über Fach¬ wissen verfügen, er muß eine Menge einzelner Krankheitszeichen kennen und aufzusuchen verstehen, und er muß wissen, wie sie sich zu Krankheitsbildern zusammenfügen. Ganz wie er nach einem körperlichen Leiden fahndet, indem er die Organe der Reihe nach betrachtet, betastet, beklopft und behorcht und die Ergebnisse zusammenstellt, so wird er auch hier bestimmte Untersuchungs- methoden anwenden, und sobald er das eine oder das andre charakteristische Zeichen gefunden hat, sich von ihm in der Weiterprüfung leiten lassen, bis er aus körperlichen und geistigen Krankheitszeichen ein bekanntes Krankheitsbild mit Sicherheit erkennt. Die Lehre von den Geistesstörungen verfügt über solche feststehende Krankheitsbilder, in Einzelheiten sind sie persönlich gefärbt, in ihren großen Zügen aber verlaufen sie so gesetzmäßig, daß sich die wichtigsten Schlüsse ziehen lassen. So weiß man, daß gewisse Kranke zum Selbstmord neigen, andre äußerst reizbar sind, wieder andre unrettbar und ziemlich rasch dem Tode entgegengehen, obwohl manche unter ihnen sich vorübergehend so weit erholen, daß sie Laien als genesen erscheinen. Aber nur der wird die Geistesstörung erkennen und richtig beurteilen, der die in der Wissenschaft niedergelegten Er¬ fahrungen zu verwerten versteht. Die Göttinger Herren wollen freilich die Lehre von den Seelenstörungen nicht als Wissenschaft anerkennen, sie stecke noch zu sehr in den Kinderschuhen, so behaupten sie. Wenn dieser Vorwurf nur nicht ihre eigne Kenntnis von dieser Lehre trifft! Die Psychiatrie ist selbstverständlich ebenso wenig abgeschlossen wie irgend ein andrer Zweig der Heilkunde. Es werden immer neue Krankheitszeichen entdeckt und neue Krankheitsbilder von den alten getrennt. Aber gerade im letzten Menschenalter hat die Lehre von den Geistesstörungen außerordentliche Fortschritte gemacht, und wenn sie hinter der übrigen Pathologie noch zurück¬ steht, so ist das nur in einer Hinsicht der Fall: in der pathologischen Ana¬ tomie. Die anatomischen Veränderungen im Gehirn, die den einzelnen Krank¬ heitsbildern entsprechen, sind uns erst zum Teil bekannt. Aber so wertvoll auch hierin eine Bereicherung unsrer Kenntnisse wäre, gerade für den in Rede stehenden Zweck, für das Erkennen der Geistesstörung bei Lebzeiten des Kranken, käme sie nicht in Betracht. In klinischer Hinsicht braucht die Psychiatrie den Vergleich mit der übrigen Heilkunde nicht zu scheuen. Nach diesen Aufklärungen dürfte wohl schon mancher zweifelhaft werden, ob ihn sein gesunder Laienverstand befähigen werde, eine Untersuchung auf Geistesstörung vorzunehmen. Selbst wenn ihm manches Krankhafte auffallen sollte, würde ihm doch das geistige Band sür das Gefuudne fehlen. Es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/562>, abgerufen am 02.10.2024.