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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unser Jrrenwesen

dem geltenden Jrrenrechte. Daß selbst die Grundbegriffe der Lehre von den
Seelenstörungen so wenig bekannt sind, das mag wohl an der späten Ent¬
wicklung dieses Wissenszweiges liegen; daß aber selbst Juristen im Jrrenrecht
so schlecht Bescheid wissen, daran ist seine Zersplitterung schuld. Nur ein
kleiner Teil des Jrrenwesens ist durch Gesetze geregelt, im übrigen gelten Ver¬
waltungsbestimmungen, die nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern
von Provinz zu Provinz wechseln. Verbesserungsvorschläge, die irgend welchen
Wert haben sollen, müssen an die bestehenden Verhältnisse anknüpfen und
müssen vor allem gestützt werden von der genauesten Kenntnis vom Wesen
der Geistesstörung. Nachdem also "unabhängige Laien" und Juristen an¬
gehört worden sind, mögen auch einem Irrenärzte einige Worte zur Aufklärung
erlaubt sein.

In jeder Jrrensache handelt es sich um zweierlei: es ist der Geistes¬
zustand zu untersuchen, und die rechtlichen Folgen sind zu verhängen. Die
Untersuchung hat auch wieder zwei Seiten: es ist festzustellen, ob überhaupt
eine Geistesstörung vorliegt, und die erkannte Störung ist rechtlich zu beur¬
teilen. Die Erwägung und Verfügung der rechtlichen Folgen soll uns in
einem zweiten Aufsatze beschäftigen, hier wollen wir uns der allgemeinern,
grundlegenden Aufgabe zuwenden: dem Erkennen der Geistesstörung. Wer ist
imstande, diese Aufgabe zu lösen? Wer ist der Sachverständige? Diese Streit¬
frage steht hier im Mittelpunkte.

Die Göttinger Herren sind mit vielen andern Laien der Ansicht, daß es
sich bei der Untersuchung des Geisteszustandes überwiegend darum handle,
belastende Thatsachen festzustellen in derselben Weise wie bei einer Anklage,
und die Fähigkeit der Laien hierzu scheint ihnen durch ihre Verwendung im
Schwurgericht bewiesen zu sein. Aber der Vergleich mit der Thätigkeit der
Geschwornen ist völlig unzutreffend. Der Angeklagte wird einer strafbaren
Handlung bezichtigt, die der Vergangenheit angehört und durch Zeugenaussagen
zu beweisen ist; sind diese unzureichend, so muß er freigesprochen werden. Die
Frage nach dem Geisteszustände eines Menschen bezieht sich im allgemeinen
auf die Gegenwart und die Zukunft und ist durch Untersuchung der Person
selbst zu beantworten. Zeugenaussagen können diese Untersuchung wohl unter¬
stützen, da aber die bezeugten Thaten der Vergangenheit angehören, so sichert
nur die Vernehmung dessen, dem sie zur Last gelegt werden, ihre richtige
Deutung für die Gegenwart. Fehlen sichere Zeugnisse, so ist man auf die
bloße Prüfung des Geisteszustandes angewiesen. Der Unterschied der beiden
Aufgaben ist also klar: der Geschworne verwendet Zeugenaussagen zur Fest¬
stellung bestimmter, der Vergangenheit angehöriger Handlungen; wer den
Geisteszustand untersucht, fahndet auf vorher gar nicht zu bestimmende krank¬
hafte innere Thatsachen, die jetzt oder in Zukunft zu störenden Handlungen
führen können und vielleicht schon früher dazu geführt haben.


Unser Jrrenwesen

dem geltenden Jrrenrechte. Daß selbst die Grundbegriffe der Lehre von den
Seelenstörungen so wenig bekannt sind, das mag wohl an der späten Ent¬
wicklung dieses Wissenszweiges liegen; daß aber selbst Juristen im Jrrenrecht
so schlecht Bescheid wissen, daran ist seine Zersplitterung schuld. Nur ein
kleiner Teil des Jrrenwesens ist durch Gesetze geregelt, im übrigen gelten Ver¬
waltungsbestimmungen, die nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern
von Provinz zu Provinz wechseln. Verbesserungsvorschläge, die irgend welchen
Wert haben sollen, müssen an die bestehenden Verhältnisse anknüpfen und
müssen vor allem gestützt werden von der genauesten Kenntnis vom Wesen
der Geistesstörung. Nachdem also „unabhängige Laien" und Juristen an¬
gehört worden sind, mögen auch einem Irrenärzte einige Worte zur Aufklärung
erlaubt sein.

In jeder Jrrensache handelt es sich um zweierlei: es ist der Geistes¬
zustand zu untersuchen, und die rechtlichen Folgen sind zu verhängen. Die
Untersuchung hat auch wieder zwei Seiten: es ist festzustellen, ob überhaupt
eine Geistesstörung vorliegt, und die erkannte Störung ist rechtlich zu beur¬
teilen. Die Erwägung und Verfügung der rechtlichen Folgen soll uns in
einem zweiten Aufsatze beschäftigen, hier wollen wir uns der allgemeinern,
grundlegenden Aufgabe zuwenden: dem Erkennen der Geistesstörung. Wer ist
imstande, diese Aufgabe zu lösen? Wer ist der Sachverständige? Diese Streit¬
frage steht hier im Mittelpunkte.

Die Göttinger Herren sind mit vielen andern Laien der Ansicht, daß es
sich bei der Untersuchung des Geisteszustandes überwiegend darum handle,
belastende Thatsachen festzustellen in derselben Weise wie bei einer Anklage,
und die Fähigkeit der Laien hierzu scheint ihnen durch ihre Verwendung im
Schwurgericht bewiesen zu sein. Aber der Vergleich mit der Thätigkeit der
Geschwornen ist völlig unzutreffend. Der Angeklagte wird einer strafbaren
Handlung bezichtigt, die der Vergangenheit angehört und durch Zeugenaussagen
zu beweisen ist; sind diese unzureichend, so muß er freigesprochen werden. Die
Frage nach dem Geisteszustände eines Menschen bezieht sich im allgemeinen
auf die Gegenwart und die Zukunft und ist durch Untersuchung der Person
selbst zu beantworten. Zeugenaussagen können diese Untersuchung wohl unter¬
stützen, da aber die bezeugten Thaten der Vergangenheit angehören, so sichert
nur die Vernehmung dessen, dem sie zur Last gelegt werden, ihre richtige
Deutung für die Gegenwart. Fehlen sichere Zeugnisse, so ist man auf die
bloße Prüfung des Geisteszustandes angewiesen. Der Unterschied der beiden
Aufgaben ist also klar: der Geschworne verwendet Zeugenaussagen zur Fest¬
stellung bestimmter, der Vergangenheit angehöriger Handlungen; wer den
Geisteszustand untersucht, fahndet auf vorher gar nicht zu bestimmende krank¬
hafte innere Thatsachen, die jetzt oder in Zukunft zu störenden Handlungen
führen können und vielleicht schon früher dazu geführt haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/560>, abgerufen am 22.12.2024.