Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Jrrenwesen

Göttinger eine größere Umständlichkeit sehr wohl mit der viel bedeutender!:
Rolle rechtfertigen könnten, die sie der Entmündigung zugedacht haben, würden
sie über die Form des Verfahrens gewiß in manchen Punkten mit sich reden
lassen. Sie wenden sich ja nicht gegen irgend welche Äußerlichkeiten des
jetzigen Verfahrens, sondern die Leute, die es handhaben, erscheinen ihnen
verdächtig. Sie werfen dein Arzte vor, daß er hinter jeder Ungewöhnlichkeit
Krankheit wittere, und von dem Richter und der Polizei fürchten sie, daß sie
über der Sicherheit des Staates die des Einzelnen vernachlässigten. Sie
glauben den Arzt in medizinischen, den Richter in juristischen Theorien be¬
fangen und ohne Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens. Was
berechtigt sie zu diesem Mißtrauen? Und was berechtigt sie zu der Annahme,
daß der Laie ein geeigneterer Beurteiler sein würde als der Sachverständige?
Was berechtigt sie, im Laien den einzig berufnen Sachverständigen zu sehen?

Die äußere Veranlassung des herrschenden Mißtrauens gab eine Reihe
von Broschüren und Zeitungsartikeln, deren Verfasser sich öffentlich darüber
beschwerten, daß sie zu Unrecht entmündigt oder in Irrenanstalten eingesperrt
worden wären. Diese Schriften bilden wohl den Ausgangspunkt des Mi߬
trauens, reichen aber an sich nicht hin, es zu erklären. Sie sind gering an
Zahl, keine einzige enthält den klaren Nachweis des Irrtums oder des Nechts-
bruchs, vielmehr rühren die meisten von Leuten her, die von den Sachverständigen
übereinstimmend für geisteskrank gehalten wurden. Wenn sie trotzdem so großes
Aufsehn erregen konnten, so wird man sich von Aufklärungen über die einzelnen
Fälle nicht viel versprechen können, zumal da wohl fast nur Leute Auskunft
zu geben vermöchten, die in das allgemeine Mißtrauen eingeschlossen sind. Es
muß daher versucht werden, den tiefern Ursachen dieser in ihrer Allgemeinheit
völlig unbegründeten Beunruhigung entgegenzutreten. Sicherlich ist im Irren-
Wesen nicht alles so, wie es sein sollte, aber die bestehenden Mißstände sind
in ganz andern Richtungen zu suchen, als es von den Göttingern geschieht,
und berechtigen nicht dazu, die Fähigkeit, den guten Willen oder gar die
Gewissenhaftigkeit ganzer Stände zu verdächtigen. So allgemeine Anschul¬
digungen können, gerade herausgesagt, nur eine Quelle haben: die Unwissenheit.

Es herrschen in der That über das Wesen der Geistesstörung auch unter
den Gebildeten so mangelhafte, ja so abenteuerliche Vorstellungen, daß den
meisten ganz die Fähigkeit abgeht, solche Schriftstücke, wie die erwähnten Be¬
schwerden, sachlich zu prüfen oder auch nur anzuzweifeln. Nur diese Un¬
wissenheit verdächtigt Richter und Ärzte, und dieselbe Unwissenheit erzeugt
Vorschlüge zur Abhilfe, über die der wirklich Sachverständige nur lachen kann.
Das Wesen der Seelenstörung verkennt der ganz und gar, der sich einbildet,
sie mit dein bloßen gesunden Menschenverstande ohne besondre Fachbildung
erkennen und beurteilen zu können. Zu der Unkenntnis dessen, was Geistes¬
störung eigentlich ist, gesellt sich aber noch eine mangelnde Vertrautheit mit


Unser Jrrenwesen

Göttinger eine größere Umständlichkeit sehr wohl mit der viel bedeutender!:
Rolle rechtfertigen könnten, die sie der Entmündigung zugedacht haben, würden
sie über die Form des Verfahrens gewiß in manchen Punkten mit sich reden
lassen. Sie wenden sich ja nicht gegen irgend welche Äußerlichkeiten des
jetzigen Verfahrens, sondern die Leute, die es handhaben, erscheinen ihnen
verdächtig. Sie werfen dein Arzte vor, daß er hinter jeder Ungewöhnlichkeit
Krankheit wittere, und von dem Richter und der Polizei fürchten sie, daß sie
über der Sicherheit des Staates die des Einzelnen vernachlässigten. Sie
glauben den Arzt in medizinischen, den Richter in juristischen Theorien be¬
fangen und ohne Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens. Was
berechtigt sie zu diesem Mißtrauen? Und was berechtigt sie zu der Annahme,
daß der Laie ein geeigneterer Beurteiler sein würde als der Sachverständige?
Was berechtigt sie, im Laien den einzig berufnen Sachverständigen zu sehen?

Die äußere Veranlassung des herrschenden Mißtrauens gab eine Reihe
von Broschüren und Zeitungsartikeln, deren Verfasser sich öffentlich darüber
beschwerten, daß sie zu Unrecht entmündigt oder in Irrenanstalten eingesperrt
worden wären. Diese Schriften bilden wohl den Ausgangspunkt des Mi߬
trauens, reichen aber an sich nicht hin, es zu erklären. Sie sind gering an
Zahl, keine einzige enthält den klaren Nachweis des Irrtums oder des Nechts-
bruchs, vielmehr rühren die meisten von Leuten her, die von den Sachverständigen
übereinstimmend für geisteskrank gehalten wurden. Wenn sie trotzdem so großes
Aufsehn erregen konnten, so wird man sich von Aufklärungen über die einzelnen
Fälle nicht viel versprechen können, zumal da wohl fast nur Leute Auskunft
zu geben vermöchten, die in das allgemeine Mißtrauen eingeschlossen sind. Es
muß daher versucht werden, den tiefern Ursachen dieser in ihrer Allgemeinheit
völlig unbegründeten Beunruhigung entgegenzutreten. Sicherlich ist im Irren-
Wesen nicht alles so, wie es sein sollte, aber die bestehenden Mißstände sind
in ganz andern Richtungen zu suchen, als es von den Göttingern geschieht,
und berechtigen nicht dazu, die Fähigkeit, den guten Willen oder gar die
Gewissenhaftigkeit ganzer Stände zu verdächtigen. So allgemeine Anschul¬
digungen können, gerade herausgesagt, nur eine Quelle haben: die Unwissenheit.

Es herrschen in der That über das Wesen der Geistesstörung auch unter
den Gebildeten so mangelhafte, ja so abenteuerliche Vorstellungen, daß den
meisten ganz die Fähigkeit abgeht, solche Schriftstücke, wie die erwähnten Be¬
schwerden, sachlich zu prüfen oder auch nur anzuzweifeln. Nur diese Un¬
wissenheit verdächtigt Richter und Ärzte, und dieselbe Unwissenheit erzeugt
Vorschlüge zur Abhilfe, über die der wirklich Sachverständige nur lachen kann.
Das Wesen der Seelenstörung verkennt der ganz und gar, der sich einbildet,
sie mit dein bloßen gesunden Menschenverstande ohne besondre Fachbildung
erkennen und beurteilen zu können. Zu der Unkenntnis dessen, was Geistes¬
störung eigentlich ist, gesellt sich aber noch eine mangelnde Vertrautheit mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0559" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220235"/>
          <fw type="header" place="top"> Unser Jrrenwesen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2201" prev="#ID_2200"> Göttinger eine größere Umständlichkeit sehr wohl mit der viel bedeutender!:<lb/>
Rolle rechtfertigen könnten, die sie der Entmündigung zugedacht haben, würden<lb/>
sie über die Form des Verfahrens gewiß in manchen Punkten mit sich reden<lb/>
lassen. Sie wenden sich ja nicht gegen irgend welche Äußerlichkeiten des<lb/>
jetzigen Verfahrens, sondern die Leute, die es handhaben, erscheinen ihnen<lb/>
verdächtig. Sie werfen dein Arzte vor, daß er hinter jeder Ungewöhnlichkeit<lb/>
Krankheit wittere, und von dem Richter und der Polizei fürchten sie, daß sie<lb/>
über der Sicherheit des Staates die des Einzelnen vernachlässigten. Sie<lb/>
glauben den Arzt in medizinischen, den Richter in juristischen Theorien be¬<lb/>
fangen und ohne Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens. Was<lb/>
berechtigt sie zu diesem Mißtrauen? Und was berechtigt sie zu der Annahme,<lb/>
daß der Laie ein geeigneterer Beurteiler sein würde als der Sachverständige?<lb/>
Was berechtigt sie, im Laien den einzig berufnen Sachverständigen zu sehen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2202"> Die äußere Veranlassung des herrschenden Mißtrauens gab eine Reihe<lb/>
von Broschüren und Zeitungsartikeln, deren Verfasser sich öffentlich darüber<lb/>
beschwerten, daß sie zu Unrecht entmündigt oder in Irrenanstalten eingesperrt<lb/>
worden wären. Diese Schriften bilden wohl den Ausgangspunkt des Mi߬<lb/>
trauens, reichen aber an sich nicht hin, es zu erklären. Sie sind gering an<lb/>
Zahl, keine einzige enthält den klaren Nachweis des Irrtums oder des Nechts-<lb/>
bruchs, vielmehr rühren die meisten von Leuten her, die von den Sachverständigen<lb/>
übereinstimmend für geisteskrank gehalten wurden. Wenn sie trotzdem so großes<lb/>
Aufsehn erregen konnten, so wird man sich von Aufklärungen über die einzelnen<lb/>
Fälle nicht viel versprechen können, zumal da wohl fast nur Leute Auskunft<lb/>
zu geben vermöchten, die in das allgemeine Mißtrauen eingeschlossen sind. Es<lb/>
muß daher versucht werden, den tiefern Ursachen dieser in ihrer Allgemeinheit<lb/>
völlig unbegründeten Beunruhigung entgegenzutreten. Sicherlich ist im Irren-<lb/>
Wesen nicht alles so, wie es sein sollte, aber die bestehenden Mißstände sind<lb/>
in ganz andern Richtungen zu suchen, als es von den Göttingern geschieht,<lb/>
und berechtigen nicht dazu, die Fähigkeit, den guten Willen oder gar die<lb/>
Gewissenhaftigkeit ganzer Stände zu verdächtigen. So allgemeine Anschul¬<lb/>
digungen können, gerade herausgesagt, nur eine Quelle haben: die Unwissenheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2203" next="#ID_2204"> Es herrschen in der That über das Wesen der Geistesstörung auch unter<lb/>
den Gebildeten so mangelhafte, ja so abenteuerliche Vorstellungen, daß den<lb/>
meisten ganz die Fähigkeit abgeht, solche Schriftstücke, wie die erwähnten Be¬<lb/>
schwerden, sachlich zu prüfen oder auch nur anzuzweifeln. Nur diese Un¬<lb/>
wissenheit verdächtigt Richter und Ärzte, und dieselbe Unwissenheit erzeugt<lb/>
Vorschlüge zur Abhilfe, über die der wirklich Sachverständige nur lachen kann.<lb/>
Das Wesen der Seelenstörung verkennt der ganz und gar, der sich einbildet,<lb/>
sie mit dein bloßen gesunden Menschenverstande ohne besondre Fachbildung<lb/>
erkennen und beurteilen zu können. Zu der Unkenntnis dessen, was Geistes¬<lb/>
störung eigentlich ist, gesellt sich aber noch eine mangelnde Vertrautheit mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0559] Unser Jrrenwesen Göttinger eine größere Umständlichkeit sehr wohl mit der viel bedeutender!: Rolle rechtfertigen könnten, die sie der Entmündigung zugedacht haben, würden sie über die Form des Verfahrens gewiß in manchen Punkten mit sich reden lassen. Sie wenden sich ja nicht gegen irgend welche Äußerlichkeiten des jetzigen Verfahrens, sondern die Leute, die es handhaben, erscheinen ihnen verdächtig. Sie werfen dein Arzte vor, daß er hinter jeder Ungewöhnlichkeit Krankheit wittere, und von dem Richter und der Polizei fürchten sie, daß sie über der Sicherheit des Staates die des Einzelnen vernachlässigten. Sie glauben den Arzt in medizinischen, den Richter in juristischen Theorien be¬ fangen und ohne Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens. Was berechtigt sie zu diesem Mißtrauen? Und was berechtigt sie zu der Annahme, daß der Laie ein geeigneterer Beurteiler sein würde als der Sachverständige? Was berechtigt sie, im Laien den einzig berufnen Sachverständigen zu sehen? Die äußere Veranlassung des herrschenden Mißtrauens gab eine Reihe von Broschüren und Zeitungsartikeln, deren Verfasser sich öffentlich darüber beschwerten, daß sie zu Unrecht entmündigt oder in Irrenanstalten eingesperrt worden wären. Diese Schriften bilden wohl den Ausgangspunkt des Mi߬ trauens, reichen aber an sich nicht hin, es zu erklären. Sie sind gering an Zahl, keine einzige enthält den klaren Nachweis des Irrtums oder des Nechts- bruchs, vielmehr rühren die meisten von Leuten her, die von den Sachverständigen übereinstimmend für geisteskrank gehalten wurden. Wenn sie trotzdem so großes Aufsehn erregen konnten, so wird man sich von Aufklärungen über die einzelnen Fälle nicht viel versprechen können, zumal da wohl fast nur Leute Auskunft zu geben vermöchten, die in das allgemeine Mißtrauen eingeschlossen sind. Es muß daher versucht werden, den tiefern Ursachen dieser in ihrer Allgemeinheit völlig unbegründeten Beunruhigung entgegenzutreten. Sicherlich ist im Irren- Wesen nicht alles so, wie es sein sollte, aber die bestehenden Mißstände sind in ganz andern Richtungen zu suchen, als es von den Göttingern geschieht, und berechtigen nicht dazu, die Fähigkeit, den guten Willen oder gar die Gewissenhaftigkeit ganzer Stände zu verdächtigen. So allgemeine Anschul¬ digungen können, gerade herausgesagt, nur eine Quelle haben: die Unwissenheit. Es herrschen in der That über das Wesen der Geistesstörung auch unter den Gebildeten so mangelhafte, ja so abenteuerliche Vorstellungen, daß den meisten ganz die Fähigkeit abgeht, solche Schriftstücke, wie die erwähnten Be¬ schwerden, sachlich zu prüfen oder auch nur anzuzweifeln. Nur diese Un¬ wissenheit verdächtigt Richter und Ärzte, und dieselbe Unwissenheit erzeugt Vorschlüge zur Abhilfe, über die der wirklich Sachverständige nur lachen kann. Das Wesen der Seelenstörung verkennt der ganz und gar, der sich einbildet, sie mit dein bloßen gesunden Menschenverstande ohne besondre Fachbildung erkennen und beurteilen zu können. Zu der Unkenntnis dessen, was Geistes¬ störung eigentlich ist, gesellt sich aber noch eine mangelnde Vertrautheit mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/559
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/559>, abgerufen am 24.08.2024.