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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unser Irrenwesen
^. Der sachverständige

eit einigen Jahren wird die öffentliche Meinung über unser Irren-
Wesen in steigender Aufregung erhalten. In weite Kreise wird
die Besorgnis getragen, daß der Geistesgesunde keine genügende
Sicherheit habe, als Geisteskranker angesehen und behandelt zu
werden. In Rede und Schrift wird für eine Abänderung unsers
Jrrenwesens gewirkt. Am meisten hervorgetreten ist die Göttinger Versamm¬
lung, die im November vorigen Jahres stattfand und sich über eine Reihe von
Sätzen einigte, deren wesentlichen Inhalt folgende zwei Forderungen aus¬
machen. Bei jedem Landgericht soll aus der Zivilkammer und vier Laien als
Beisitzern eine besondre Entmündigungskcnnmer gebildet werden, die alle Ent-
mündiguugen auszusprechen hat. Jede Aufnahme in eine Irrenanstalt soll
von der Entmündigung abhängig sein. Ferner soll bei jedem Oberlandes¬
gericht ein Jrrenaufsichtsamt eingerichtet werden, das aus einen. Richter, einem
Verwaltungsbeamten, einem Arzt, einen: Geistlichen und fünf gewählten Ver¬
trauensmännern zu bestehen hat; dieses soll alle öffentlichen und privaten
Irrenanstalten des Bezirks beaufsichtigen. Gegenwärtig haben Richter, Ver¬
waltungsbeamte und Ärzte über den Geisteszustand zu urteilen und über
Geisteskranke zu entscheiden; !die neuen Vorschläge wollen diesen Beamten die
Entscheidung nehmen und sie größtenteils unabhängigen Laien anvertrauen.

Bühr hat in diesen Blättern das neu vorgeschlagne Entmündigungsver-
fahren mit dem bestehenden verglichen und als eine Verschlechterung aufgedeckt.
Das jetzige Verfahren, sagt er, erledige die unzweifelhaften Fälle durch Be¬
schluß des Amtsgerichts einfach und billig, in den seltnen streitigen Füllen
gewähre es hinreichende Sicherheit durch die Anfechtungsklage beim Land¬
gericht und durch die Berufung an die höhern Gerichte; die Göttinger Be¬
schlüsse fordern überall das gleiche Verfahren, obwohl das im allgemeinen viel
zu umständlich und kostspielig und gerade in zweifelhaften Fällen wegen der
mangelnden Berufung obendrein unsicher sein würde. Wenn auch diese Aus¬
führungen Bührs sicherlich richtig siud, so ist doch zu bezweifeln, daß sie das
herrschende Mißtrauen wesentlich erschüttert haben. Abgesehen davon, daß die




Unser Irrenwesen
^. Der sachverständige

eit einigen Jahren wird die öffentliche Meinung über unser Irren-
Wesen in steigender Aufregung erhalten. In weite Kreise wird
die Besorgnis getragen, daß der Geistesgesunde keine genügende
Sicherheit habe, als Geisteskranker angesehen und behandelt zu
werden. In Rede und Schrift wird für eine Abänderung unsers
Jrrenwesens gewirkt. Am meisten hervorgetreten ist die Göttinger Versamm¬
lung, die im November vorigen Jahres stattfand und sich über eine Reihe von
Sätzen einigte, deren wesentlichen Inhalt folgende zwei Forderungen aus¬
machen. Bei jedem Landgericht soll aus der Zivilkammer und vier Laien als
Beisitzern eine besondre Entmündigungskcnnmer gebildet werden, die alle Ent-
mündiguugen auszusprechen hat. Jede Aufnahme in eine Irrenanstalt soll
von der Entmündigung abhängig sein. Ferner soll bei jedem Oberlandes¬
gericht ein Jrrenaufsichtsamt eingerichtet werden, das aus einen. Richter, einem
Verwaltungsbeamten, einem Arzt, einen: Geistlichen und fünf gewählten Ver¬
trauensmännern zu bestehen hat; dieses soll alle öffentlichen und privaten
Irrenanstalten des Bezirks beaufsichtigen. Gegenwärtig haben Richter, Ver¬
waltungsbeamte und Ärzte über den Geisteszustand zu urteilen und über
Geisteskranke zu entscheiden; !die neuen Vorschläge wollen diesen Beamten die
Entscheidung nehmen und sie größtenteils unabhängigen Laien anvertrauen.

Bühr hat in diesen Blättern das neu vorgeschlagne Entmündigungsver-
fahren mit dem bestehenden verglichen und als eine Verschlechterung aufgedeckt.
Das jetzige Verfahren, sagt er, erledige die unzweifelhaften Fälle durch Be¬
schluß des Amtsgerichts einfach und billig, in den seltnen streitigen Füllen
gewähre es hinreichende Sicherheit durch die Anfechtungsklage beim Land¬
gericht und durch die Berufung an die höhern Gerichte; die Göttinger Be¬
schlüsse fordern überall das gleiche Verfahren, obwohl das im allgemeinen viel
zu umständlich und kostspielig und gerade in zweifelhaften Fällen wegen der
mangelnden Berufung obendrein unsicher sein würde. Wenn auch diese Aus¬
führungen Bührs sicherlich richtig siud, so ist doch zu bezweifeln, daß sie das
herrschende Mißtrauen wesentlich erschüttert haben. Abgesehen davon, daß die


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[0558] [Abbildung] Unser Irrenwesen ^. Der sachverständige eit einigen Jahren wird die öffentliche Meinung über unser Irren- Wesen in steigender Aufregung erhalten. In weite Kreise wird die Besorgnis getragen, daß der Geistesgesunde keine genügende Sicherheit habe, als Geisteskranker angesehen und behandelt zu werden. In Rede und Schrift wird für eine Abänderung unsers Jrrenwesens gewirkt. Am meisten hervorgetreten ist die Göttinger Versamm¬ lung, die im November vorigen Jahres stattfand und sich über eine Reihe von Sätzen einigte, deren wesentlichen Inhalt folgende zwei Forderungen aus¬ machen. Bei jedem Landgericht soll aus der Zivilkammer und vier Laien als Beisitzern eine besondre Entmündigungskcnnmer gebildet werden, die alle Ent- mündiguugen auszusprechen hat. Jede Aufnahme in eine Irrenanstalt soll von der Entmündigung abhängig sein. Ferner soll bei jedem Oberlandes¬ gericht ein Jrrenaufsichtsamt eingerichtet werden, das aus einen. Richter, einem Verwaltungsbeamten, einem Arzt, einen: Geistlichen und fünf gewählten Ver¬ trauensmännern zu bestehen hat; dieses soll alle öffentlichen und privaten Irrenanstalten des Bezirks beaufsichtigen. Gegenwärtig haben Richter, Ver¬ waltungsbeamte und Ärzte über den Geisteszustand zu urteilen und über Geisteskranke zu entscheiden; !die neuen Vorschläge wollen diesen Beamten die Entscheidung nehmen und sie größtenteils unabhängigen Laien anvertrauen. Bühr hat in diesen Blättern das neu vorgeschlagne Entmündigungsver- fahren mit dem bestehenden verglichen und als eine Verschlechterung aufgedeckt. Das jetzige Verfahren, sagt er, erledige die unzweifelhaften Fälle durch Be¬ schluß des Amtsgerichts einfach und billig, in den seltnen streitigen Füllen gewähre es hinreichende Sicherheit durch die Anfechtungsklage beim Land¬ gericht und durch die Berufung an die höhern Gerichte; die Göttinger Be¬ schlüsse fordern überall das gleiche Verfahren, obwohl das im allgemeinen viel zu umständlich und kostspielig und gerade in zweifelhaften Fällen wegen der mangelnden Berufung obendrein unsicher sein würde. Wenn auch diese Aus¬ führungen Bührs sicherlich richtig siud, so ist doch zu bezweifeln, daß sie das herrschende Mißtrauen wesentlich erschüttert haben. Abgesehen davon, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/558>, abgerufen am 22.12.2024.