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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der erste Beste

Hier unten weißt du ja nun schon Bescheid, was? fragte Fritz, als sie
wieder auf dem Flur standen.

Nur oberflächlich! antwortete Margarete. Also auf dieser Seite liegt nur
Speisezimmer und Küche?

Ja, und natürlich Vorratskammern und sonstige wirtschaftliche Neben¬
geschichten.

Und hier gegenüber kommt man wohl in dein Arbeitszimmer?

Richtig. Das sieht nach hinten hinaus.

Laß uns doch einmal durchgehen; ich hab gestern Abend nur flüchtig
hineingeguckt.

Viel zu sehen ist nicht dran. Aber komm!

Sie war auch bald genug mit dem Betrachten des schlichten Raumes
fertig und trat durch die Verbindungsthür in das mittlere, in ihr eignes
Zimmer.

Die Vormittagssonne schien hell zum Erkerfenster herein. Von neuem
kam die stürmische Freude über sie. Die gefalteten Hände unters Kinn ge¬
drückt, sah sie sich strahlend ringsum und wandte sich dann zu Fritz. Der
hatte, als achtete er gar nicht auf sie, das Buch vom Sofatischchen genommen
und blätterte darin.

Sie sah ihm zu; die zärtlich dankbaren Worte, die ihr eben über die
Lippen gewollt hatten, blieben ungesprochen. Sein unbeweglich gleichmütiges
Gesicht hatte sie erdrückt. Wie ganz, ganz anders sah er aus als gestern
Abend!

Er schüttelte leicht den Kopf, als er bald da, bald dort auf Striche traf,
die einzelne Stellen hervorhoben, anmerkten. Jetzt schlug er die Seite auf,
an der das Zeichen lag. Es war der Beginn der "Sprüche"; der erste war
wieder angestrichen.

Margarete machte eine hastige Bewegung, wie um ihm das Buch weg¬
zunehmen; aber er hatte die winzigen, haarfeinen Bleistiftziffern schon gesehen,
die daneben standen. Er senkte das Buch ein wenig, sodciß die Sonne hell
darauf schien, und las: 23.6.92. Nun erst las er auch den Spruch:

Der vierundzwanzigste Juni war ihr Hochzeitstag.

Er sah noch einige Augenblicke unbeweglich auf das Blatt nieder. Sein
Gesicht war um einen Schatten blasser geworden. Dann schlug er das Buch
zu und legte es hin.

Margarete zitterte; es war ihr unbeschreiblich elend zu Mute. Sie schämte
sich, sie war außer sich. Wie hatte sie das thun können, war sie denn wahn¬
sinnig gewesen? Und nun hatte er das gelesen, hier, in diesem Zimmer, und
sie stand da, umgeben von den Zeichen seiner Liebe. Was sollte nun werden?

Fritz wandte sich wieder zu ihr, wenn auch ohne sie ganz anzusehen; mit
einer Kopfbewegung deutete er auf das Buch zurück.

Das viele Anstreichen, sagte er ruhig, find ich eigentlich nicht hübsch.
Man kann sich doch auch ohnedas die Stellen merken, die einem gefallen,
meinst du nicht?


Grenzboten II 1895 67
Der erste Beste

Hier unten weißt du ja nun schon Bescheid, was? fragte Fritz, als sie
wieder auf dem Flur standen.

Nur oberflächlich! antwortete Margarete. Also auf dieser Seite liegt nur
Speisezimmer und Küche?

Ja, und natürlich Vorratskammern und sonstige wirtschaftliche Neben¬
geschichten.

Und hier gegenüber kommt man wohl in dein Arbeitszimmer?

Richtig. Das sieht nach hinten hinaus.

Laß uns doch einmal durchgehen; ich hab gestern Abend nur flüchtig
hineingeguckt.

Viel zu sehen ist nicht dran. Aber komm!

Sie war auch bald genug mit dem Betrachten des schlichten Raumes
fertig und trat durch die Verbindungsthür in das mittlere, in ihr eignes
Zimmer.

Die Vormittagssonne schien hell zum Erkerfenster herein. Von neuem
kam die stürmische Freude über sie. Die gefalteten Hände unters Kinn ge¬
drückt, sah sie sich strahlend ringsum und wandte sich dann zu Fritz. Der
hatte, als achtete er gar nicht auf sie, das Buch vom Sofatischchen genommen
und blätterte darin.

Sie sah ihm zu; die zärtlich dankbaren Worte, die ihr eben über die
Lippen gewollt hatten, blieben ungesprochen. Sein unbeweglich gleichmütiges
Gesicht hatte sie erdrückt. Wie ganz, ganz anders sah er aus als gestern
Abend!

Er schüttelte leicht den Kopf, als er bald da, bald dort auf Striche traf,
die einzelne Stellen hervorhoben, anmerkten. Jetzt schlug er die Seite auf,
an der das Zeichen lag. Es war der Beginn der „Sprüche"; der erste war
wieder angestrichen.

Margarete machte eine hastige Bewegung, wie um ihm das Buch weg¬
zunehmen; aber er hatte die winzigen, haarfeinen Bleistiftziffern schon gesehen,
die daneben standen. Er senkte das Buch ein wenig, sodciß die Sonne hell
darauf schien, und las: 23.6.92. Nun erst las er auch den Spruch:

Der vierundzwanzigste Juni war ihr Hochzeitstag.

Er sah noch einige Augenblicke unbeweglich auf das Blatt nieder. Sein
Gesicht war um einen Schatten blasser geworden. Dann schlug er das Buch
zu und legte es hin.

Margarete zitterte; es war ihr unbeschreiblich elend zu Mute. Sie schämte
sich, sie war außer sich. Wie hatte sie das thun können, war sie denn wahn¬
sinnig gewesen? Und nun hatte er das gelesen, hier, in diesem Zimmer, und
sie stand da, umgeben von den Zeichen seiner Liebe. Was sollte nun werden?

Fritz wandte sich wieder zu ihr, wenn auch ohne sie ganz anzusehen; mit
einer Kopfbewegung deutete er auf das Buch zurück.

Das viele Anstreichen, sagte er ruhig, find ich eigentlich nicht hübsch.
Man kann sich doch auch ohnedas die Stellen merken, die einem gefallen,
meinst du nicht?


Grenzboten II 1895 67
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[0537] Der erste Beste Hier unten weißt du ja nun schon Bescheid, was? fragte Fritz, als sie wieder auf dem Flur standen. Nur oberflächlich! antwortete Margarete. Also auf dieser Seite liegt nur Speisezimmer und Küche? Ja, und natürlich Vorratskammern und sonstige wirtschaftliche Neben¬ geschichten. Und hier gegenüber kommt man wohl in dein Arbeitszimmer? Richtig. Das sieht nach hinten hinaus. Laß uns doch einmal durchgehen; ich hab gestern Abend nur flüchtig hineingeguckt. Viel zu sehen ist nicht dran. Aber komm! Sie war auch bald genug mit dem Betrachten des schlichten Raumes fertig und trat durch die Verbindungsthür in das mittlere, in ihr eignes Zimmer. Die Vormittagssonne schien hell zum Erkerfenster herein. Von neuem kam die stürmische Freude über sie. Die gefalteten Hände unters Kinn ge¬ drückt, sah sie sich strahlend ringsum und wandte sich dann zu Fritz. Der hatte, als achtete er gar nicht auf sie, das Buch vom Sofatischchen genommen und blätterte darin. Sie sah ihm zu; die zärtlich dankbaren Worte, die ihr eben über die Lippen gewollt hatten, blieben ungesprochen. Sein unbeweglich gleichmütiges Gesicht hatte sie erdrückt. Wie ganz, ganz anders sah er aus als gestern Abend! Er schüttelte leicht den Kopf, als er bald da, bald dort auf Striche traf, die einzelne Stellen hervorhoben, anmerkten. Jetzt schlug er die Seite auf, an der das Zeichen lag. Es war der Beginn der „Sprüche"; der erste war wieder angestrichen. Margarete machte eine hastige Bewegung, wie um ihm das Buch weg¬ zunehmen; aber er hatte die winzigen, haarfeinen Bleistiftziffern schon gesehen, die daneben standen. Er senkte das Buch ein wenig, sodciß die Sonne hell darauf schien, und las: 23.6.92. Nun erst las er auch den Spruch: Der vierundzwanzigste Juni war ihr Hochzeitstag. Er sah noch einige Augenblicke unbeweglich auf das Blatt nieder. Sein Gesicht war um einen Schatten blasser geworden. Dann schlug er das Buch zu und legte es hin. Margarete zitterte; es war ihr unbeschreiblich elend zu Mute. Sie schämte sich, sie war außer sich. Wie hatte sie das thun können, war sie denn wahn¬ sinnig gewesen? Und nun hatte er das gelesen, hier, in diesem Zimmer, und sie stand da, umgeben von den Zeichen seiner Liebe. Was sollte nun werden? Fritz wandte sich wieder zu ihr, wenn auch ohne sie ganz anzusehen; mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Buch zurück. Das viele Anstreichen, sagte er ruhig, find ich eigentlich nicht hübsch. Man kann sich doch auch ohnedas die Stellen merken, die einem gefallen, meinst du nicht? Grenzboten II 1895 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/537>, abgerufen am 22.12.2024.