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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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klärung des vorigen Jahrhunderts beseitigte sie thatsächlich durch die zu¬
nehmende Abwendung der gebildeten Kreise vom Kirchentum; aber die Wiener'
Schlußakte verlieh doch nur den Angehörigen der drei christlichen Hauptkirchen,
der katholischen, der lutherischen und der reformirten Kirche, den gleichen unge¬
schmälerten Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Erst die
neuern Verfassungen seit 1848 haben allen Zusammenhang zwischen der Zuge¬
hörigkeit zu bestimmten Religionsbekenntnissen und dem Vollgenuß der bürger¬
lichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben, und diesen Zustand hat end¬
lich das Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 für den ganzen Norddeutschen Bund
und dann für das ganze Reich bestätigt. So stehen wir heute am Schluß
einer jahrhundertelangen Entwicklung, auf einem dem Ausgangspunkt gerade
entgegengesetzten Punkte.

In den Uranfängen dieser Entwicklung wurzelt der Eid. Seine Grund¬
lage ist der Zustand des Volkslebens, wo sich Rechtsgenossenschaft und Reli¬
gionsgemeinschaft deckten. Als Überbleibsel dieses Zustands ist er geblieben,
auch nachdem der Gesetzgeber diese Grundlage bewußt aufgegeben und eine
neue (allerdings negative) geschaffen hat, bei der der Eid streng genommen in
der Luft schwebt. Es beweist die Macht der Gewohnheit, daß wir trotz dieses
Wegfalls seiner notwendigen Voraussetzung den Eid nicht nur beibehalten haben,
sondern uns seiner Unverträglichkeit mit der gegenwärtigen Grundlage unsers
Staatslebens kaum bewußt werden.

Allerdings ist auch der Eid von dem allgemeinen Entwicklungsgange des
Rechtslebens nicht unberührt geblieben. Die Teilnahme an dieser Entwicklung
zeigt sich bei ihm in einer unausgesetzten Beschränkung seiner Anwendung.

Für die Ausdehnung, in der der Eid im ältern deutschen Recht ange¬
wendet wurde, genügt es, auf die bekannte Einrichtung der Eideshelfer hin-
zuweisen. Das altdeutsche Recht faßte den Grundsatz, daß eine Partei ihre
Behauptungen zu beweisen habe, nicht, wie das heutige Recht, als eine Pflicht
der Partei, sondern als ihr Recht auf. Die Partei, die eine Behauptung zu
beweisen hatte, konnte sich daher -- abgesehen von Zeugen, Urkunden und
dergleichen -- zum Eid erbieten. In der Mehrzahl der Fälle genügte jedoch
ihr Eid allein nicht, sondern sie mußte ihn durch Eideshelfer bekräftigen, d. h.
dnrch Männer, die eidlich als ihre Überzeugung versicherten, daß der Schwö¬
rende die Wahrheit behaupte. Die Zahl der Eideshelfer war verschieden, je nach
dem Gegenstande des Prozesses, und stieg bis auf 72.*) Einen solchen Eid
mit 72 Eideshelfern verlangt z. B. der Sachsenspiegel von dem Kläger, der
gegen einen Erben eine angebliche Schuld des Erblassers einklagt.



*) Mitunter noch weiter. Nach dem Tode des Frankenkönigs Chilpcrich mußte dessen
Witwe, die berüchtigte Fredcgunde, die Echtheit ihres Sohnes, Chlotars II., mit 300 Eides-
Helfern beschwören.


Auch im altrömischen Recht war das Anwendungsgebiet des Eides weit

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klärung des vorigen Jahrhunderts beseitigte sie thatsächlich durch die zu¬
nehmende Abwendung der gebildeten Kreise vom Kirchentum; aber die Wiener'
Schlußakte verlieh doch nur den Angehörigen der drei christlichen Hauptkirchen,
der katholischen, der lutherischen und der reformirten Kirche, den gleichen unge¬
schmälerten Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Erst die
neuern Verfassungen seit 1848 haben allen Zusammenhang zwischen der Zuge¬
hörigkeit zu bestimmten Religionsbekenntnissen und dem Vollgenuß der bürger¬
lichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben, und diesen Zustand hat end¬
lich das Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 für den ganzen Norddeutschen Bund
und dann für das ganze Reich bestätigt. So stehen wir heute am Schluß
einer jahrhundertelangen Entwicklung, auf einem dem Ausgangspunkt gerade
entgegengesetzten Punkte.

In den Uranfängen dieser Entwicklung wurzelt der Eid. Seine Grund¬
lage ist der Zustand des Volkslebens, wo sich Rechtsgenossenschaft und Reli¬
gionsgemeinschaft deckten. Als Überbleibsel dieses Zustands ist er geblieben,
auch nachdem der Gesetzgeber diese Grundlage bewußt aufgegeben und eine
neue (allerdings negative) geschaffen hat, bei der der Eid streng genommen in
der Luft schwebt. Es beweist die Macht der Gewohnheit, daß wir trotz dieses
Wegfalls seiner notwendigen Voraussetzung den Eid nicht nur beibehalten haben,
sondern uns seiner Unverträglichkeit mit der gegenwärtigen Grundlage unsers
Staatslebens kaum bewußt werden.

Allerdings ist auch der Eid von dem allgemeinen Entwicklungsgange des
Rechtslebens nicht unberührt geblieben. Die Teilnahme an dieser Entwicklung
zeigt sich bei ihm in einer unausgesetzten Beschränkung seiner Anwendung.

Für die Ausdehnung, in der der Eid im ältern deutschen Recht ange¬
wendet wurde, genügt es, auf die bekannte Einrichtung der Eideshelfer hin-
zuweisen. Das altdeutsche Recht faßte den Grundsatz, daß eine Partei ihre
Behauptungen zu beweisen habe, nicht, wie das heutige Recht, als eine Pflicht
der Partei, sondern als ihr Recht auf. Die Partei, die eine Behauptung zu
beweisen hatte, konnte sich daher — abgesehen von Zeugen, Urkunden und
dergleichen — zum Eid erbieten. In der Mehrzahl der Fälle genügte jedoch
ihr Eid allein nicht, sondern sie mußte ihn durch Eideshelfer bekräftigen, d. h.
dnrch Männer, die eidlich als ihre Überzeugung versicherten, daß der Schwö¬
rende die Wahrheit behaupte. Die Zahl der Eideshelfer war verschieden, je nach
dem Gegenstande des Prozesses, und stieg bis auf 72.*) Einen solchen Eid
mit 72 Eideshelfern verlangt z. B. der Sachsenspiegel von dem Kläger, der
gegen einen Erben eine angebliche Schuld des Erblassers einklagt.



*) Mitunter noch weiter. Nach dem Tode des Frankenkönigs Chilpcrich mußte dessen
Witwe, die berüchtigte Fredcgunde, die Echtheit ihres Sohnes, Chlotars II., mit 300 Eides-
Helfern beschwören.


Auch im altrömischen Recht war das Anwendungsgebiet des Eides weit
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[0506] Ver gerichtliche Lid klärung des vorigen Jahrhunderts beseitigte sie thatsächlich durch die zu¬ nehmende Abwendung der gebildeten Kreise vom Kirchentum; aber die Wiener' Schlußakte verlieh doch nur den Angehörigen der drei christlichen Hauptkirchen, der katholischen, der lutherischen und der reformirten Kirche, den gleichen unge¬ schmälerten Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Erst die neuern Verfassungen seit 1848 haben allen Zusammenhang zwischen der Zuge¬ hörigkeit zu bestimmten Religionsbekenntnissen und dem Vollgenuß der bürger¬ lichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben, und diesen Zustand hat end¬ lich das Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 für den ganzen Norddeutschen Bund und dann für das ganze Reich bestätigt. So stehen wir heute am Schluß einer jahrhundertelangen Entwicklung, auf einem dem Ausgangspunkt gerade entgegengesetzten Punkte. In den Uranfängen dieser Entwicklung wurzelt der Eid. Seine Grund¬ lage ist der Zustand des Volkslebens, wo sich Rechtsgenossenschaft und Reli¬ gionsgemeinschaft deckten. Als Überbleibsel dieses Zustands ist er geblieben, auch nachdem der Gesetzgeber diese Grundlage bewußt aufgegeben und eine neue (allerdings negative) geschaffen hat, bei der der Eid streng genommen in der Luft schwebt. Es beweist die Macht der Gewohnheit, daß wir trotz dieses Wegfalls seiner notwendigen Voraussetzung den Eid nicht nur beibehalten haben, sondern uns seiner Unverträglichkeit mit der gegenwärtigen Grundlage unsers Staatslebens kaum bewußt werden. Allerdings ist auch der Eid von dem allgemeinen Entwicklungsgange des Rechtslebens nicht unberührt geblieben. Die Teilnahme an dieser Entwicklung zeigt sich bei ihm in einer unausgesetzten Beschränkung seiner Anwendung. Für die Ausdehnung, in der der Eid im ältern deutschen Recht ange¬ wendet wurde, genügt es, auf die bekannte Einrichtung der Eideshelfer hin- zuweisen. Das altdeutsche Recht faßte den Grundsatz, daß eine Partei ihre Behauptungen zu beweisen habe, nicht, wie das heutige Recht, als eine Pflicht der Partei, sondern als ihr Recht auf. Die Partei, die eine Behauptung zu beweisen hatte, konnte sich daher — abgesehen von Zeugen, Urkunden und dergleichen — zum Eid erbieten. In der Mehrzahl der Fälle genügte jedoch ihr Eid allein nicht, sondern sie mußte ihn durch Eideshelfer bekräftigen, d. h. dnrch Männer, die eidlich als ihre Überzeugung versicherten, daß der Schwö¬ rende die Wahrheit behaupte. Die Zahl der Eideshelfer war verschieden, je nach dem Gegenstande des Prozesses, und stieg bis auf 72.*) Einen solchen Eid mit 72 Eideshelfern verlangt z. B. der Sachsenspiegel von dem Kläger, der gegen einen Erben eine angebliche Schuld des Erblassers einklagt. *) Mitunter noch weiter. Nach dem Tode des Frankenkönigs Chilpcrich mußte dessen Witwe, die berüchtigte Fredcgunde, die Echtheit ihres Sohnes, Chlotars II., mit 300 Eides- Helfern beschwören. Auch im altrömischen Recht war das Anwendungsgebiet des Eides weit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/506>, abgerufen am 25.08.2024.