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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

gesucht. Der Geldbedarf hat aber dann doch zu großen Landverkäufen ge¬
führt, die manchmal 20 Prozent der Jahreseinnahme einer Kolonie bildeten,
sodaß sich die Politiker daran gewöhnten, das noch freie Land einfach als
Einnahmequelle zu betrachten. Die gewaltigen Landvergebungen an Eisen¬
bahngesellschaften haben, wie in Amerika, verderblich gewirkt, und merkwürdiger¬
weise ist in der Praxis keine einzige Partei über diese kurzsichtige Auffassung
von dem politischen Werte des Landes hinweggekommen. Es ist fraglich, ob
die Arbeiterparteien, die allerdings den Schutzzoll auch im finanziellen Interesse
des Staats begünstigt haben, der Versuchung widerstehen würden, diesen
unschätzbaren Besitz, der den kommenden Geschlechtern bewahrt werden sollte,
wie ein "Eselein streck dich" zu behandeln. Der riesige Geldbedarf der jungen
Länder scheint keinen politischen Grundsatz undurchlöchert zu lassen.

Niemand wird sich unterfangen, die politische Zukunft dieser jungen Länder
zu deuten. Im Vollgefühle schwelgend, "ein neues Volk auf neuem Land zu
stehn," sind sie mit Neuerungen rasch bei der Hand. Sogar den Vereinigten
Staaten sind sie in manchen Maßregeln vorangeschritten, so in der energischen
Behandlung der Chinesenfrage und in dem Verbot der Einwandrung Kranker
und Mittelloser, in der Wahlgesetzgebung und in den Arbeiterfragen. Durch
die Behandlung der Landfrage haben sie sich aber die Reform auf dem soizaleu
Gebiete schon jetzt außerordentlich erschwert. Mit dem Kapitalbedarf hängt sie
zusammen, und durch ihn wird sie auch immer noch weiter abwärts geführt
werden. Daß die politisch so selbständig sich entfaltenden Kolonien wirt¬
schaftlich und sozial so ganz hilflos in das alteuropäische Fahrwasser geraten
sind, wird immer ein merkwürdiger Beweis für die Zähigkeit der gesellschaft¬
lichen Gedanken und Einrichtungen im Vergleich mit den politischen bleiben.
Freilich hat dazu auch von der politischen Seite her das echt jugendliche Über¬
maß des Parteitreibens mitgewirkt. Diese Kolonien haben nicht die in vielen
Beziehungen so heilsame Einrichtung der Vereinigten Staaten, daß nnr der
Präsident deu parlamentarischen Körperschaften verantwortlich ist, von denen
seine Minister demgemäß gnr nicht abhängen, sondern die englische Partei¬
regierung. Daher ein beständiges Schaukeln der Machtverteilung, wobei sehr
häufig kleine mittlere Parteien den Ausschlag geben; dem Ehrgeiz der Um¬
reisen und Halbgebildeten ist dadurch ein allzu weites Feld geöffnet, und die
Staatsangelegenheiten werden leicht nach der Schablone behandelt. In den
wichtigsten Fragen spielen die persönlichen Neigungen und Feindseligkeiten
der Parteiführer eine große Rolle. Die auswärtigen Angelegenheiten werden
aus beschränkten Parteiansichten heraus behandelt. Als Deutschland seine
Hand auf einen kleinen Teil von Neuguinea legte, entfachten die Poli¬
tiker und Zeitungen Australiens einen Sturm, wie ihn über eine aus¬
wärtige Frage das Land noch nie erlebt hatte, glücklicherweise ebenso kurz
wie heftig. Die unglaubliche Anmaßung, in der Entfernung von 2000


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

gesucht. Der Geldbedarf hat aber dann doch zu großen Landverkäufen ge¬
führt, die manchmal 20 Prozent der Jahreseinnahme einer Kolonie bildeten,
sodaß sich die Politiker daran gewöhnten, das noch freie Land einfach als
Einnahmequelle zu betrachten. Die gewaltigen Landvergebungen an Eisen¬
bahngesellschaften haben, wie in Amerika, verderblich gewirkt, und merkwürdiger¬
weise ist in der Praxis keine einzige Partei über diese kurzsichtige Auffassung
von dem politischen Werte des Landes hinweggekommen. Es ist fraglich, ob
die Arbeiterparteien, die allerdings den Schutzzoll auch im finanziellen Interesse
des Staats begünstigt haben, der Versuchung widerstehen würden, diesen
unschätzbaren Besitz, der den kommenden Geschlechtern bewahrt werden sollte,
wie ein „Eselein streck dich" zu behandeln. Der riesige Geldbedarf der jungen
Länder scheint keinen politischen Grundsatz undurchlöchert zu lassen.

Niemand wird sich unterfangen, die politische Zukunft dieser jungen Länder
zu deuten. Im Vollgefühle schwelgend, „ein neues Volk auf neuem Land zu
stehn," sind sie mit Neuerungen rasch bei der Hand. Sogar den Vereinigten
Staaten sind sie in manchen Maßregeln vorangeschritten, so in der energischen
Behandlung der Chinesenfrage und in dem Verbot der Einwandrung Kranker
und Mittelloser, in der Wahlgesetzgebung und in den Arbeiterfragen. Durch
die Behandlung der Landfrage haben sie sich aber die Reform auf dem soizaleu
Gebiete schon jetzt außerordentlich erschwert. Mit dem Kapitalbedarf hängt sie
zusammen, und durch ihn wird sie auch immer noch weiter abwärts geführt
werden. Daß die politisch so selbständig sich entfaltenden Kolonien wirt¬
schaftlich und sozial so ganz hilflos in das alteuropäische Fahrwasser geraten
sind, wird immer ein merkwürdiger Beweis für die Zähigkeit der gesellschaft¬
lichen Gedanken und Einrichtungen im Vergleich mit den politischen bleiben.
Freilich hat dazu auch von der politischen Seite her das echt jugendliche Über¬
maß des Parteitreibens mitgewirkt. Diese Kolonien haben nicht die in vielen
Beziehungen so heilsame Einrichtung der Vereinigten Staaten, daß nnr der
Präsident deu parlamentarischen Körperschaften verantwortlich ist, von denen
seine Minister demgemäß gnr nicht abhängen, sondern die englische Partei¬
regierung. Daher ein beständiges Schaukeln der Machtverteilung, wobei sehr
häufig kleine mittlere Parteien den Ausschlag geben; dem Ehrgeiz der Um¬
reisen und Halbgebildeten ist dadurch ein allzu weites Feld geöffnet, und die
Staatsangelegenheiten werden leicht nach der Schablone behandelt. In den
wichtigsten Fragen spielen die persönlichen Neigungen und Feindseligkeiten
der Parteiführer eine große Rolle. Die auswärtigen Angelegenheiten werden
aus beschränkten Parteiansichten heraus behandelt. Als Deutschland seine
Hand auf einen kleinen Teil von Neuguinea legte, entfachten die Poli¬
tiker und Zeitungen Australiens einen Sturm, wie ihn über eine aus¬
wärtige Frage das Land noch nie erlebt hatte, glücklicherweise ebenso kurz
wie heftig. Die unglaubliche Anmaßung, in der Entfernung von 2000


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[0460] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik gesucht. Der Geldbedarf hat aber dann doch zu großen Landverkäufen ge¬ führt, die manchmal 20 Prozent der Jahreseinnahme einer Kolonie bildeten, sodaß sich die Politiker daran gewöhnten, das noch freie Land einfach als Einnahmequelle zu betrachten. Die gewaltigen Landvergebungen an Eisen¬ bahngesellschaften haben, wie in Amerika, verderblich gewirkt, und merkwürdiger¬ weise ist in der Praxis keine einzige Partei über diese kurzsichtige Auffassung von dem politischen Werte des Landes hinweggekommen. Es ist fraglich, ob die Arbeiterparteien, die allerdings den Schutzzoll auch im finanziellen Interesse des Staats begünstigt haben, der Versuchung widerstehen würden, diesen unschätzbaren Besitz, der den kommenden Geschlechtern bewahrt werden sollte, wie ein „Eselein streck dich" zu behandeln. Der riesige Geldbedarf der jungen Länder scheint keinen politischen Grundsatz undurchlöchert zu lassen. Niemand wird sich unterfangen, die politische Zukunft dieser jungen Länder zu deuten. Im Vollgefühle schwelgend, „ein neues Volk auf neuem Land zu stehn," sind sie mit Neuerungen rasch bei der Hand. Sogar den Vereinigten Staaten sind sie in manchen Maßregeln vorangeschritten, so in der energischen Behandlung der Chinesenfrage und in dem Verbot der Einwandrung Kranker und Mittelloser, in der Wahlgesetzgebung und in den Arbeiterfragen. Durch die Behandlung der Landfrage haben sie sich aber die Reform auf dem soizaleu Gebiete schon jetzt außerordentlich erschwert. Mit dem Kapitalbedarf hängt sie zusammen, und durch ihn wird sie auch immer noch weiter abwärts geführt werden. Daß die politisch so selbständig sich entfaltenden Kolonien wirt¬ schaftlich und sozial so ganz hilflos in das alteuropäische Fahrwasser geraten sind, wird immer ein merkwürdiger Beweis für die Zähigkeit der gesellschaft¬ lichen Gedanken und Einrichtungen im Vergleich mit den politischen bleiben. Freilich hat dazu auch von der politischen Seite her das echt jugendliche Über¬ maß des Parteitreibens mitgewirkt. Diese Kolonien haben nicht die in vielen Beziehungen so heilsame Einrichtung der Vereinigten Staaten, daß nnr der Präsident deu parlamentarischen Körperschaften verantwortlich ist, von denen seine Minister demgemäß gnr nicht abhängen, sondern die englische Partei¬ regierung. Daher ein beständiges Schaukeln der Machtverteilung, wobei sehr häufig kleine mittlere Parteien den Ausschlag geben; dem Ehrgeiz der Um¬ reisen und Halbgebildeten ist dadurch ein allzu weites Feld geöffnet, und die Staatsangelegenheiten werden leicht nach der Schablone behandelt. In den wichtigsten Fragen spielen die persönlichen Neigungen und Feindseligkeiten der Parteiführer eine große Rolle. Die auswärtigen Angelegenheiten werden aus beschränkten Parteiansichten heraus behandelt. Als Deutschland seine Hand auf einen kleinen Teil von Neuguinea legte, entfachten die Poli¬ tiker und Zeitungen Australiens einen Sturm, wie ihn über eine aus¬ wärtige Frage das Land noch nie erlebt hatte, glücklicherweise ebenso kurz wie heftig. Die unglaubliche Anmaßung, in der Entfernung von 2000

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/460>, abgerufen am 25.08.2024.