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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

sie damit den festen Punkt gewonnen, von dem aus sie den Hebel für eine
Verbesserung ihrer Stellung mit ganz andrer Kraft ansetzen können. Vor allem
wird sich dünn die Wahlrechtsfrage für sie von selbst entscheiden, denn als
Freeholders haben sie das Wahlrecht von selbst, das in der Mehrzahl der
australischen Kolonien an keine Steuerzahlung gebunden ist. Es ist nur zu
befürchten, daß die immer weiter fortschreitende Schafzucht diese Arbeitermassen
nicht losläßt. Vonseiten der Maschinen ist gerade bei diesem Prozeß keine
Arbeitsersparnis mehr zu erwarten; diesen ist auch beim Schafscheren bereits
alles übertragen, wozu Menschenhände nicht unbedingt nötig sind.

Ein noch ganz unerklärtes Erzeugnis des sozialen Lebens Australiens,
eine Art krankhafter Ausscheidung, sind die "Larrikins" -- ein australisches
Originalwort, wie die Sache selbst australisch ist. Mau versteht darunter ge¬
werbsmäßige Lumpen und Tagediebe von einer unbeschreiblichen Roheit und
Gemeinheit, die uur arbeiten, wenn sie die äußerste Not zwingt, im übrigen
um die Branntweinschenken "herumhüngen" und zu jeder Unthat bereit sind.
Ans offner Straße verüben diese Lotterbuben, zu denen auch bemooste Häupter
von vierzig Jahren gehören, Gewaltthaten, gegen die oft genug die Polizei
ohnmächtig ist, bis sie anfängt, mit dem Totschlüger und der Peitsche zu ar¬
beiten. Der Gedanke liegt ja nahe, daß man es hier mit den Abkömmlingen
der Zucht- und Arbeitshäusler zu thun habe, die früher nach Australien ab¬
geschoben wurden. Die Erblichkeit wird auch hier wohl ihre unheimliche
Rolle spielen. Aber in diesen Banden hat man auch ein eigentümliches Aus¬
scheidungsprodukt eines sozialen Organismus zu sehen, der jung und doch schon
überreif ist. So leicht es dem ehrlichen Arbeiter wird, sich in die Hohe zu
heben, um so tiefer sinkt der Arbeitsscheue, den die Möglichkeit des schranken¬
losen Mißbrauchs der Freiheit und des kolonialen Ellbogenraumes immer weiter
hinabführt. Nicht viele Großstädte der alten Welt haben einen Pöbel aufzu¬
weisen wie Melbourne.

In den obern Klassen herrschen in Stadt und Land die Geschäftsleute,
die Erfolg gehabt und "Geld gemacht" haben, die praktischen Köpfe, nicht die
feinen Geister. Das einzige Privileg kommt vom Geld, allerdings jetzt schon
w großem Maße von dem in Land angelegten. Das Streben des Kapitals,
sich im Lande festzulegen, nimmt natürlich in diesen weiten Räumen gewaltige
Maße an. Das Land ist ungefähr so wohlfeil wie in der merowingischen
^>eit in Ostfranken, und so ausgedehnt sind denn auch die Besitztümer Ein¬
zelner. Es ist sehr begreiflich, daß Henry Georges Ansichten über das Grund¬
eigentum bei den nichtbesitzenden Australiern den größten Anklang gefunden
haben, ohne daß sie aber in der praktischen Politik zu einem Ergebnis geführt
hätten. Lange vor ihnen hat Neusüdwales durch freigebige Landscheukungen
an unbemittelte Einwanderer die Bildung von großen Landgütern, die syste¬
matisch zum Besten englischer Aristokratenkinder betrieben wurde, zu verhindern


Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

sie damit den festen Punkt gewonnen, von dem aus sie den Hebel für eine
Verbesserung ihrer Stellung mit ganz andrer Kraft ansetzen können. Vor allem
wird sich dünn die Wahlrechtsfrage für sie von selbst entscheiden, denn als
Freeholders haben sie das Wahlrecht von selbst, das in der Mehrzahl der
australischen Kolonien an keine Steuerzahlung gebunden ist. Es ist nur zu
befürchten, daß die immer weiter fortschreitende Schafzucht diese Arbeitermassen
nicht losläßt. Vonseiten der Maschinen ist gerade bei diesem Prozeß keine
Arbeitsersparnis mehr zu erwarten; diesen ist auch beim Schafscheren bereits
alles übertragen, wozu Menschenhände nicht unbedingt nötig sind.

Ein noch ganz unerklärtes Erzeugnis des sozialen Lebens Australiens,
eine Art krankhafter Ausscheidung, sind die „Larrikins" — ein australisches
Originalwort, wie die Sache selbst australisch ist. Mau versteht darunter ge¬
werbsmäßige Lumpen und Tagediebe von einer unbeschreiblichen Roheit und
Gemeinheit, die uur arbeiten, wenn sie die äußerste Not zwingt, im übrigen
um die Branntweinschenken „herumhüngen" und zu jeder Unthat bereit sind.
Ans offner Straße verüben diese Lotterbuben, zu denen auch bemooste Häupter
von vierzig Jahren gehören, Gewaltthaten, gegen die oft genug die Polizei
ohnmächtig ist, bis sie anfängt, mit dem Totschlüger und der Peitsche zu ar¬
beiten. Der Gedanke liegt ja nahe, daß man es hier mit den Abkömmlingen
der Zucht- und Arbeitshäusler zu thun habe, die früher nach Australien ab¬
geschoben wurden. Die Erblichkeit wird auch hier wohl ihre unheimliche
Rolle spielen. Aber in diesen Banden hat man auch ein eigentümliches Aus¬
scheidungsprodukt eines sozialen Organismus zu sehen, der jung und doch schon
überreif ist. So leicht es dem ehrlichen Arbeiter wird, sich in die Hohe zu
heben, um so tiefer sinkt der Arbeitsscheue, den die Möglichkeit des schranken¬
losen Mißbrauchs der Freiheit und des kolonialen Ellbogenraumes immer weiter
hinabführt. Nicht viele Großstädte der alten Welt haben einen Pöbel aufzu¬
weisen wie Melbourne.

In den obern Klassen herrschen in Stadt und Land die Geschäftsleute,
die Erfolg gehabt und „Geld gemacht" haben, die praktischen Köpfe, nicht die
feinen Geister. Das einzige Privileg kommt vom Geld, allerdings jetzt schon
w großem Maße von dem in Land angelegten. Das Streben des Kapitals,
sich im Lande festzulegen, nimmt natürlich in diesen weiten Räumen gewaltige
Maße an. Das Land ist ungefähr so wohlfeil wie in der merowingischen
^>eit in Ostfranken, und so ausgedehnt sind denn auch die Besitztümer Ein¬
zelner. Es ist sehr begreiflich, daß Henry Georges Ansichten über das Grund¬
eigentum bei den nichtbesitzenden Australiern den größten Anklang gefunden
haben, ohne daß sie aber in der praktischen Politik zu einem Ergebnis geführt
hätten. Lange vor ihnen hat Neusüdwales durch freigebige Landscheukungen
an unbemittelte Einwanderer die Bildung von großen Landgütern, die syste¬
matisch zum Besten englischer Aristokratenkinder betrieben wurde, zu verhindern


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[0459] Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik sie damit den festen Punkt gewonnen, von dem aus sie den Hebel für eine Verbesserung ihrer Stellung mit ganz andrer Kraft ansetzen können. Vor allem wird sich dünn die Wahlrechtsfrage für sie von selbst entscheiden, denn als Freeholders haben sie das Wahlrecht von selbst, das in der Mehrzahl der australischen Kolonien an keine Steuerzahlung gebunden ist. Es ist nur zu befürchten, daß die immer weiter fortschreitende Schafzucht diese Arbeitermassen nicht losläßt. Vonseiten der Maschinen ist gerade bei diesem Prozeß keine Arbeitsersparnis mehr zu erwarten; diesen ist auch beim Schafscheren bereits alles übertragen, wozu Menschenhände nicht unbedingt nötig sind. Ein noch ganz unerklärtes Erzeugnis des sozialen Lebens Australiens, eine Art krankhafter Ausscheidung, sind die „Larrikins" — ein australisches Originalwort, wie die Sache selbst australisch ist. Mau versteht darunter ge¬ werbsmäßige Lumpen und Tagediebe von einer unbeschreiblichen Roheit und Gemeinheit, die uur arbeiten, wenn sie die äußerste Not zwingt, im übrigen um die Branntweinschenken „herumhüngen" und zu jeder Unthat bereit sind. Ans offner Straße verüben diese Lotterbuben, zu denen auch bemooste Häupter von vierzig Jahren gehören, Gewaltthaten, gegen die oft genug die Polizei ohnmächtig ist, bis sie anfängt, mit dem Totschlüger und der Peitsche zu ar¬ beiten. Der Gedanke liegt ja nahe, daß man es hier mit den Abkömmlingen der Zucht- und Arbeitshäusler zu thun habe, die früher nach Australien ab¬ geschoben wurden. Die Erblichkeit wird auch hier wohl ihre unheimliche Rolle spielen. Aber in diesen Banden hat man auch ein eigentümliches Aus¬ scheidungsprodukt eines sozialen Organismus zu sehen, der jung und doch schon überreif ist. So leicht es dem ehrlichen Arbeiter wird, sich in die Hohe zu heben, um so tiefer sinkt der Arbeitsscheue, den die Möglichkeit des schranken¬ losen Mißbrauchs der Freiheit und des kolonialen Ellbogenraumes immer weiter hinabführt. Nicht viele Großstädte der alten Welt haben einen Pöbel aufzu¬ weisen wie Melbourne. In den obern Klassen herrschen in Stadt und Land die Geschäftsleute, die Erfolg gehabt und „Geld gemacht" haben, die praktischen Köpfe, nicht die feinen Geister. Das einzige Privileg kommt vom Geld, allerdings jetzt schon w großem Maße von dem in Land angelegten. Das Streben des Kapitals, sich im Lande festzulegen, nimmt natürlich in diesen weiten Räumen gewaltige Maße an. Das Land ist ungefähr so wohlfeil wie in der merowingischen ^>eit in Ostfranken, und so ausgedehnt sind denn auch die Besitztümer Ein¬ zelner. Es ist sehr begreiflich, daß Henry Georges Ansichten über das Grund¬ eigentum bei den nichtbesitzenden Australiern den größten Anklang gefunden haben, ohne daß sie aber in der praktischen Politik zu einem Ergebnis geführt hätten. Lange vor ihnen hat Neusüdwales durch freigebige Landscheukungen an unbemittelte Einwanderer die Bildung von großen Landgütern, die syste¬ matisch zum Besten englischer Aristokratenkinder betrieben wurde, zu verhindern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/459>, abgerufen am 25.08.2024.