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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

die Frage nahe zu legen: Blcnniren wir uns nicht, wenn wir von der Tribüne
des Reichstages herab Urteile über militärische Dinge fällen, von denen wir
im Grunde genommen nichts verstehen und mit denen kein Fachmann, weder
hier noch im Auslande, einverstanden sein kann? Aber nein; es kommt ja
nicht auf Überzeugung und Feststellung der Wahrheit an, sondern auf Agi¬
tation, auf die Verbreitung von Unzufriedenheit -- wenn irgend möglich auch
in den Kasernen --, und auf rednerische Leistungen für die große Masse, der
das eigne Urteil fehlt, und der das im Reichstag gesprochn? Wort bis zum
Beweise des Gegenteils als Wahrheit erscheint.




Zur Kenntnis der englischen ZVeltpolitik
5. Australien
(Schluß)

le Zeit, Wo die Schafschur besorgt wird, ist beschränkt. DaS
Geschüft leidet keinen Verzug, die auf den engsten Raum zu-
sammengetriebncn Schafe müssen bald wieder auf ihre Weiden
zurück, und so wandern denn die Scherer von einer Hürde zur
andern, und die tüchtigsten unter ihnen scheren ihre 115 Schafe
täglich. Die durchschnittliche Bezahlung ist 20 Reichsmark für 100. Durch
harte Arbeit können sich diese Leute also eine schöne Summe verdienen, wenn
sie von einem Bezirk in den andern ziehen, wobei sie wohl auf eine Arbeits¬
zeit von vier Monaten kommen können. Aber das wandernde Leben demo-
ralisirt sie, neun Zehntel von ihnen haben weder Weib noch Kind noch Haus,
und wenn die Arbeitszeit vorbei ist, verfügen sie sich in das nächste Städtchen
und verjubeln ihren Verdienst, indem sie die ganze Summe dem Kneipwirt über¬
geben, der sie fo lange speist und tränkt, als das Geld reicht, und dann auf das
Pflaster wirft. Nun tritt die Not an sie heran, sie suchen vergebens Arbeit, sie
sind auch zu wenig Beschäftigungen geeignet, viele haben auch jede Lust zu etwas
anderm als Schafscheren verloren. Daher der riesige Erfolg der Sozialdemokraten
in dieser verwilderten Gesellschaft, von der jedes Jahr einige, die umherwandernd
verdurstet oder erfroren sind, im Busch als Skeelett gefunden werden. Auch
das Delirium hält furchtbare Ernten unter ihnen. Es ist eine der seltsamsten
Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens, halb barbarisch und halb über-
kultivirt, dieses kraftverwüstende, jedes Behagens bare, dem Nichts zutreibende
Leben einer grosu'ndustriellen Arbeiterschar mitten in der freien Natur einer


Grenzboten II 1895 57
Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

die Frage nahe zu legen: Blcnniren wir uns nicht, wenn wir von der Tribüne
des Reichstages herab Urteile über militärische Dinge fällen, von denen wir
im Grunde genommen nichts verstehen und mit denen kein Fachmann, weder
hier noch im Auslande, einverstanden sein kann? Aber nein; es kommt ja
nicht auf Überzeugung und Feststellung der Wahrheit an, sondern auf Agi¬
tation, auf die Verbreitung von Unzufriedenheit — wenn irgend möglich auch
in den Kasernen —, und auf rednerische Leistungen für die große Masse, der
das eigne Urteil fehlt, und der das im Reichstag gesprochn? Wort bis zum
Beweise des Gegenteils als Wahrheit erscheint.




Zur Kenntnis der englischen ZVeltpolitik
5. Australien
(Schluß)

le Zeit, Wo die Schafschur besorgt wird, ist beschränkt. DaS
Geschüft leidet keinen Verzug, die auf den engsten Raum zu-
sammengetriebncn Schafe müssen bald wieder auf ihre Weiden
zurück, und so wandern denn die Scherer von einer Hürde zur
andern, und die tüchtigsten unter ihnen scheren ihre 115 Schafe
täglich. Die durchschnittliche Bezahlung ist 20 Reichsmark für 100. Durch
harte Arbeit können sich diese Leute also eine schöne Summe verdienen, wenn
sie von einem Bezirk in den andern ziehen, wobei sie wohl auf eine Arbeits¬
zeit von vier Monaten kommen können. Aber das wandernde Leben demo-
ralisirt sie, neun Zehntel von ihnen haben weder Weib noch Kind noch Haus,
und wenn die Arbeitszeit vorbei ist, verfügen sie sich in das nächste Städtchen
und verjubeln ihren Verdienst, indem sie die ganze Summe dem Kneipwirt über¬
geben, der sie fo lange speist und tränkt, als das Geld reicht, und dann auf das
Pflaster wirft. Nun tritt die Not an sie heran, sie suchen vergebens Arbeit, sie
sind auch zu wenig Beschäftigungen geeignet, viele haben auch jede Lust zu etwas
anderm als Schafscheren verloren. Daher der riesige Erfolg der Sozialdemokraten
in dieser verwilderten Gesellschaft, von der jedes Jahr einige, die umherwandernd
verdurstet oder erfroren sind, im Busch als Skeelett gefunden werden. Auch
das Delirium hält furchtbare Ernten unter ihnen. Es ist eine der seltsamsten
Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens, halb barbarisch und halb über-
kultivirt, dieses kraftverwüstende, jedes Behagens bare, dem Nichts zutreibende
Leben einer grosu'ndustriellen Arbeiterschar mitten in der freien Natur einer


Grenzboten II 1895 57
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[0457] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik die Frage nahe zu legen: Blcnniren wir uns nicht, wenn wir von der Tribüne des Reichstages herab Urteile über militärische Dinge fällen, von denen wir im Grunde genommen nichts verstehen und mit denen kein Fachmann, weder hier noch im Auslande, einverstanden sein kann? Aber nein; es kommt ja nicht auf Überzeugung und Feststellung der Wahrheit an, sondern auf Agi¬ tation, auf die Verbreitung von Unzufriedenheit — wenn irgend möglich auch in den Kasernen —, und auf rednerische Leistungen für die große Masse, der das eigne Urteil fehlt, und der das im Reichstag gesprochn? Wort bis zum Beweise des Gegenteils als Wahrheit erscheint. Zur Kenntnis der englischen ZVeltpolitik 5. Australien (Schluß) le Zeit, Wo die Schafschur besorgt wird, ist beschränkt. DaS Geschüft leidet keinen Verzug, die auf den engsten Raum zu- sammengetriebncn Schafe müssen bald wieder auf ihre Weiden zurück, und so wandern denn die Scherer von einer Hürde zur andern, und die tüchtigsten unter ihnen scheren ihre 115 Schafe täglich. Die durchschnittliche Bezahlung ist 20 Reichsmark für 100. Durch harte Arbeit können sich diese Leute also eine schöne Summe verdienen, wenn sie von einem Bezirk in den andern ziehen, wobei sie wohl auf eine Arbeits¬ zeit von vier Monaten kommen können. Aber das wandernde Leben demo- ralisirt sie, neun Zehntel von ihnen haben weder Weib noch Kind noch Haus, und wenn die Arbeitszeit vorbei ist, verfügen sie sich in das nächste Städtchen und verjubeln ihren Verdienst, indem sie die ganze Summe dem Kneipwirt über¬ geben, der sie fo lange speist und tränkt, als das Geld reicht, und dann auf das Pflaster wirft. Nun tritt die Not an sie heran, sie suchen vergebens Arbeit, sie sind auch zu wenig Beschäftigungen geeignet, viele haben auch jede Lust zu etwas anderm als Schafscheren verloren. Daher der riesige Erfolg der Sozialdemokraten in dieser verwilderten Gesellschaft, von der jedes Jahr einige, die umherwandernd verdurstet oder erfroren sind, im Busch als Skeelett gefunden werden. Auch das Delirium hält furchtbare Ernten unter ihnen. Es ist eine der seltsamsten Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens, halb barbarisch und halb über- kultivirt, dieses kraftverwüstende, jedes Behagens bare, dem Nichts zutreibende Leben einer grosu'ndustriellen Arbeiterschar mitten in der freien Natur einer Grenzboten II 1895 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/457>, abgerufen am 26.08.2024.