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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Stehendes Heer und Miliz

Weise verwendbar wäre? Man vergegenwärtige sich die Kosten, die alsdann
die unerläßlichen Befestigungen längs der Ost- und Westgrenze verschlingen
würden! Ohne diese würde aber ein noch so starkes Milizheer, auch nur zu Ver¬
teidigungszwecken, schlechterdings keinen Wert haben.

Wenden wir uns nun zu der Frage des militärischen Vorunterrichts.
Auch hier stoßen wir bei Liebknecht auf eine große Unkenntnis der thatsäch¬
lichen Verhältnisse. Wenn uns auch die Verhältnisse in Deutschland in ihren
Einzelheiten nicht bekannt sind, so glauben wir doch behaupten zu dürfen, daß
für die Vorbildung der Jugend durch Turnunterricht und sonstige gymnastische
Übungen in Deutschland mindestens ebenso gut gesorgt ist wie in der Schweiz,
wo vieles zu wünschen übrig bleibt. Wir entnehmen dem Berichte des Bundes¬
rath an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1894
einige hierauf bezügliche Angaben.

Von 3882 Primarschulgemeinden der Schweiz haben 72,3 Prozent ge¬
nügende Turnplätze, 14,8 Prozent ungenügende und 12,9 Prozent gar keine.
38,3 Prozent dieser Gemeinden haben alle vorgeschriebnen Geräte; 43,2 Pro¬
zent nur einen Teil, 18,5 Prozent gar keine. Eine Turnhalle haben nur
17,2 Prozent aller Primarschulgemeinden. Von 5145 Primärschulen wird nur
in 1229 24 Prozent) das ganze Jahr über Turnunterricht erteilt; in 3344
65 Prozent) nur einen Teil des Jahres, und in 572 (^11 Prozent) noch
gar nicht. Die Ansprüche, die das Gesetz an die Zahl der Turnstunden stellt,
sind sehr bescheiden; das Geringste sind jährlich 60 Stunden, und doch wird
in 73,6 Prozent aller Primärschulen diese Zahl nicht erreicht. Der Turn¬
unterricht der Ergünzungs- und Fortbildungsschulen -- die es übrigens nicht
in allen Kantonen giebt -- ist ein freiwilliger. In den Kantonen Zürich und
Glarus z. B. wird an diesen Schulen kein Turnunterricht erteilt. Der eben¬
falls freiwillige sogenannte "militärische Vorunterricht," für dessen Erteilung
vom Austritt aus der Schule bis zum zwanzigsten Lebensjahre die Kantone
zu sorgen haben (Artikel 81 der Militürorganisation von 1874) findet nur in
einigen Kantonen, nämlich in Basel, Zürich, Bern, Luzern und neuerdings
Se. Gallen statt. Über seinen Wert hört man verschiedne Urteile; sehr schwierig
lst es, geeignete Lehrkräfte zu finden. Daß aber solche nur in einzelnen Kan¬
tonen nach Belieben stattfindende Übungen keinen Einfluß auf die militärische
Ausbildung eines Heeres haben und nicht einen großen Teil der Dienstzeit
entbehrlich machen können, das wird wohl auch Herrn Liebknecht einleuchten.

Die Behauptung, daß der einem stehenden Heere angehörende Soldat
seinem bürgerlichen Beruf entrissen werde, der Milizsoldat hingegen nicht, und
daß deshalb der Milizsoldat seiner militärischen Dienstpflicht lieber nachkomme,
ist schon in dem Aufsatz der Allgemeinen Zeitung sehr richtig widerlegt. Dort
heißt es etwa: In Deutschland weiß der junge Mann, der aufgehoben wird,
daß er nun für zwei oder drei Jahre Soldat ist; er giebt seinen bürgerlichen


Stehendes Heer und Miliz

Weise verwendbar wäre? Man vergegenwärtige sich die Kosten, die alsdann
die unerläßlichen Befestigungen längs der Ost- und Westgrenze verschlingen
würden! Ohne diese würde aber ein noch so starkes Milizheer, auch nur zu Ver¬
teidigungszwecken, schlechterdings keinen Wert haben.

Wenden wir uns nun zu der Frage des militärischen Vorunterrichts.
Auch hier stoßen wir bei Liebknecht auf eine große Unkenntnis der thatsäch¬
lichen Verhältnisse. Wenn uns auch die Verhältnisse in Deutschland in ihren
Einzelheiten nicht bekannt sind, so glauben wir doch behaupten zu dürfen, daß
für die Vorbildung der Jugend durch Turnunterricht und sonstige gymnastische
Übungen in Deutschland mindestens ebenso gut gesorgt ist wie in der Schweiz,
wo vieles zu wünschen übrig bleibt. Wir entnehmen dem Berichte des Bundes¬
rath an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1894
einige hierauf bezügliche Angaben.

Von 3882 Primarschulgemeinden der Schweiz haben 72,3 Prozent ge¬
nügende Turnplätze, 14,8 Prozent ungenügende und 12,9 Prozent gar keine.
38,3 Prozent dieser Gemeinden haben alle vorgeschriebnen Geräte; 43,2 Pro¬
zent nur einen Teil, 18,5 Prozent gar keine. Eine Turnhalle haben nur
17,2 Prozent aller Primarschulgemeinden. Von 5145 Primärschulen wird nur
in 1229 24 Prozent) das ganze Jahr über Turnunterricht erteilt; in 3344
65 Prozent) nur einen Teil des Jahres, und in 572 (^11 Prozent) noch
gar nicht. Die Ansprüche, die das Gesetz an die Zahl der Turnstunden stellt,
sind sehr bescheiden; das Geringste sind jährlich 60 Stunden, und doch wird
in 73,6 Prozent aller Primärschulen diese Zahl nicht erreicht. Der Turn¬
unterricht der Ergünzungs- und Fortbildungsschulen — die es übrigens nicht
in allen Kantonen giebt — ist ein freiwilliger. In den Kantonen Zürich und
Glarus z. B. wird an diesen Schulen kein Turnunterricht erteilt. Der eben¬
falls freiwillige sogenannte „militärische Vorunterricht," für dessen Erteilung
vom Austritt aus der Schule bis zum zwanzigsten Lebensjahre die Kantone
zu sorgen haben (Artikel 81 der Militürorganisation von 1874) findet nur in
einigen Kantonen, nämlich in Basel, Zürich, Bern, Luzern und neuerdings
Se. Gallen statt. Über seinen Wert hört man verschiedne Urteile; sehr schwierig
lst es, geeignete Lehrkräfte zu finden. Daß aber solche nur in einzelnen Kan¬
tonen nach Belieben stattfindende Übungen keinen Einfluß auf die militärische
Ausbildung eines Heeres haben und nicht einen großen Teil der Dienstzeit
entbehrlich machen können, das wird wohl auch Herrn Liebknecht einleuchten.

Die Behauptung, daß der einem stehenden Heere angehörende Soldat
seinem bürgerlichen Beruf entrissen werde, der Milizsoldat hingegen nicht, und
daß deshalb der Milizsoldat seiner militärischen Dienstpflicht lieber nachkomme,
ist schon in dem Aufsatz der Allgemeinen Zeitung sehr richtig widerlegt. Dort
heißt es etwa: In Deutschland weiß der junge Mann, der aufgehoben wird,
daß er nun für zwei oder drei Jahre Soldat ist; er giebt seinen bürgerlichen


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[0453] Stehendes Heer und Miliz Weise verwendbar wäre? Man vergegenwärtige sich die Kosten, die alsdann die unerläßlichen Befestigungen längs der Ost- und Westgrenze verschlingen würden! Ohne diese würde aber ein noch so starkes Milizheer, auch nur zu Ver¬ teidigungszwecken, schlechterdings keinen Wert haben. Wenden wir uns nun zu der Frage des militärischen Vorunterrichts. Auch hier stoßen wir bei Liebknecht auf eine große Unkenntnis der thatsäch¬ lichen Verhältnisse. Wenn uns auch die Verhältnisse in Deutschland in ihren Einzelheiten nicht bekannt sind, so glauben wir doch behaupten zu dürfen, daß für die Vorbildung der Jugend durch Turnunterricht und sonstige gymnastische Übungen in Deutschland mindestens ebenso gut gesorgt ist wie in der Schweiz, wo vieles zu wünschen übrig bleibt. Wir entnehmen dem Berichte des Bundes¬ rath an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1894 einige hierauf bezügliche Angaben. Von 3882 Primarschulgemeinden der Schweiz haben 72,3 Prozent ge¬ nügende Turnplätze, 14,8 Prozent ungenügende und 12,9 Prozent gar keine. 38,3 Prozent dieser Gemeinden haben alle vorgeschriebnen Geräte; 43,2 Pro¬ zent nur einen Teil, 18,5 Prozent gar keine. Eine Turnhalle haben nur 17,2 Prozent aller Primarschulgemeinden. Von 5145 Primärschulen wird nur in 1229 24 Prozent) das ganze Jahr über Turnunterricht erteilt; in 3344 65 Prozent) nur einen Teil des Jahres, und in 572 (^11 Prozent) noch gar nicht. Die Ansprüche, die das Gesetz an die Zahl der Turnstunden stellt, sind sehr bescheiden; das Geringste sind jährlich 60 Stunden, und doch wird in 73,6 Prozent aller Primärschulen diese Zahl nicht erreicht. Der Turn¬ unterricht der Ergünzungs- und Fortbildungsschulen — die es übrigens nicht in allen Kantonen giebt — ist ein freiwilliger. In den Kantonen Zürich und Glarus z. B. wird an diesen Schulen kein Turnunterricht erteilt. Der eben¬ falls freiwillige sogenannte „militärische Vorunterricht," für dessen Erteilung vom Austritt aus der Schule bis zum zwanzigsten Lebensjahre die Kantone zu sorgen haben (Artikel 81 der Militürorganisation von 1874) findet nur in einigen Kantonen, nämlich in Basel, Zürich, Bern, Luzern und neuerdings Se. Gallen statt. Über seinen Wert hört man verschiedne Urteile; sehr schwierig lst es, geeignete Lehrkräfte zu finden. Daß aber solche nur in einzelnen Kan¬ tonen nach Belieben stattfindende Übungen keinen Einfluß auf die militärische Ausbildung eines Heeres haben und nicht einen großen Teil der Dienstzeit entbehrlich machen können, das wird wohl auch Herrn Liebknecht einleuchten. Die Behauptung, daß der einem stehenden Heere angehörende Soldat seinem bürgerlichen Beruf entrissen werde, der Milizsoldat hingegen nicht, und daß deshalb der Milizsoldat seiner militärischen Dienstpflicht lieber nachkomme, ist schon in dem Aufsatz der Allgemeinen Zeitung sehr richtig widerlegt. Dort heißt es etwa: In Deutschland weiß der junge Mann, der aufgehoben wird, daß er nun für zwei oder drei Jahre Soldat ist; er giebt seinen bürgerlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/453>, abgerufen am 22.12.2024.