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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

die entweder infolge langer Krankheit abgemagert oder die mit Fettsucht
behaftet waren. Diese Mittelmaße wechseln aber natürlich nach Geschlecht
und Alter. Um ganz genau zu gehen, hat Professor His schließlich nicht die
Mittelmaße aus allen angestellten Messungen, sondern nur aus denen, die er
an acht gesunden Männern zwischen 50 und 72 Jahren vorgenommen hatte,
dem Künstler als Norm übergeben, außerdem ihm für jede Norm den Spiel¬
raum bezeichnet, innerhalb dessen er sich bei seiner Arbeit bewegen dürfe.

Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren, machte sich nun
Herr sessiler noch einmal ganz von frischem an die Arbeit. Er hielt sich
dabei einerseits genau an die ihm von Professor His vorgeschriebnen Maße,
andrerseits an die hervorstechenden und übereinstimmenden Eigentümlichkeiten
der beiden Leipziger Ölbilder. Ein wenig hat er sich allerdings auch durch
den Kütnerschen Stich beeinflussen lassen; doch wäre, auch wenn er das
unterlassen hätte, das Ergebnis seiner Arbeit nicht wesentlich anders aus¬
gefallen. Dieses Ergebnis aber ist, daß Herr sessiler eine Büste Bachs ge¬
schaffen hat, die alle, die sie bis jetzt gesehen haben, mit höchster Freude und
Bewundrung erfüllt hat, da sie alle wesentlichen Züge der Bilder Bachs in
sich vereinigt, an Lebenswahrheit aber und Glaubwürdigkeit die Bilder weit
übertrifft. Ja! so ruft unwillkürlich jeder aus, der vor die Büste tritt,
so hat er ausgesehen, so muß er ausgesehen haben, der gewaltige Meister,
aus dessen Kopf die Matthäuspassion und die Hohe Messe entsprungen sind,
so groß und erhaben und so mild und freundlich zugleich muß er aus seinen
tiefen kleinen Augen in die Welt geblickt haben. Erst jetzt, erst mit dieser
Büste Seffners, haben wir ein wirkliches Abbild Johann Sebastian Bachs!

Die Art, wie sich Wissenschaft und Kunst hier zur Ausführung einer
wissenschaftlichen Untersuchung die Hände gereicht haben, steht bis jetzt wohl
einzig da. Und einzig in seiner Art ist auch das Doppelergcbnis der ge¬
meinschaftlichen Arbeit: die Wissenschaft hat der Kunst die Mittel gewährt zur
Schaffung eines Kunstwerks, das überall, wohin es dringen wird, die Herzen
erfreuen wird, und die Kunst hat der Wissenschaft einen Beweis führen helfen,
der ohne ihre Hilfe ein bloßer Wahrscheinlichkeitsbeweis geblieben wäre, nun
aber bis dicht an die Grenze der Gewißheit geführt worden ist: den Beweis,
daß die am 22. Oktober vorigen Jahres auf dem alten Leipziger Johannis-
kirchhof ausgegrabnen Gebeine eines alten Mannes wirklich die Gebeine Johann
Sebastian Bachs sind. Nur ein ganz unwahrscheinlicher Zufall hätte an jener
Stelle einen Schädel ans Tageslicht bringen können, der alle Bedingungen der
Echtheit in solchem Maße erfüllt wie der vorliegende und doch -- nicht Bachs
Schädel wäre.

Wenn irgend jemand Anlaß hätte, diesem Ergebnis gegenüber nach
Zweifelsgründen zu suchen, so wäre ich es, da ich die Tradition angefochten
und auf Grund archivalischcr Forschungen als unwahrscheinlich hingestellt habe.


Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

die entweder infolge langer Krankheit abgemagert oder die mit Fettsucht
behaftet waren. Diese Mittelmaße wechseln aber natürlich nach Geschlecht
und Alter. Um ganz genau zu gehen, hat Professor His schließlich nicht die
Mittelmaße aus allen angestellten Messungen, sondern nur aus denen, die er
an acht gesunden Männern zwischen 50 und 72 Jahren vorgenommen hatte,
dem Künstler als Norm übergeben, außerdem ihm für jede Norm den Spiel¬
raum bezeichnet, innerhalb dessen er sich bei seiner Arbeit bewegen dürfe.

Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren, machte sich nun
Herr sessiler noch einmal ganz von frischem an die Arbeit. Er hielt sich
dabei einerseits genau an die ihm von Professor His vorgeschriebnen Maße,
andrerseits an die hervorstechenden und übereinstimmenden Eigentümlichkeiten
der beiden Leipziger Ölbilder. Ein wenig hat er sich allerdings auch durch
den Kütnerschen Stich beeinflussen lassen; doch wäre, auch wenn er das
unterlassen hätte, das Ergebnis seiner Arbeit nicht wesentlich anders aus¬
gefallen. Dieses Ergebnis aber ist, daß Herr sessiler eine Büste Bachs ge¬
schaffen hat, die alle, die sie bis jetzt gesehen haben, mit höchster Freude und
Bewundrung erfüllt hat, da sie alle wesentlichen Züge der Bilder Bachs in
sich vereinigt, an Lebenswahrheit aber und Glaubwürdigkeit die Bilder weit
übertrifft. Ja! so ruft unwillkürlich jeder aus, der vor die Büste tritt,
so hat er ausgesehen, so muß er ausgesehen haben, der gewaltige Meister,
aus dessen Kopf die Matthäuspassion und die Hohe Messe entsprungen sind,
so groß und erhaben und so mild und freundlich zugleich muß er aus seinen
tiefen kleinen Augen in die Welt geblickt haben. Erst jetzt, erst mit dieser
Büste Seffners, haben wir ein wirkliches Abbild Johann Sebastian Bachs!

Die Art, wie sich Wissenschaft und Kunst hier zur Ausführung einer
wissenschaftlichen Untersuchung die Hände gereicht haben, steht bis jetzt wohl
einzig da. Und einzig in seiner Art ist auch das Doppelergcbnis der ge¬
meinschaftlichen Arbeit: die Wissenschaft hat der Kunst die Mittel gewährt zur
Schaffung eines Kunstwerks, das überall, wohin es dringen wird, die Herzen
erfreuen wird, und die Kunst hat der Wissenschaft einen Beweis führen helfen,
der ohne ihre Hilfe ein bloßer Wahrscheinlichkeitsbeweis geblieben wäre, nun
aber bis dicht an die Grenze der Gewißheit geführt worden ist: den Beweis,
daß die am 22. Oktober vorigen Jahres auf dem alten Leipziger Johannis-
kirchhof ausgegrabnen Gebeine eines alten Mannes wirklich die Gebeine Johann
Sebastian Bachs sind. Nur ein ganz unwahrscheinlicher Zufall hätte an jener
Stelle einen Schädel ans Tageslicht bringen können, der alle Bedingungen der
Echtheit in solchem Maße erfüllt wie der vorliegende und doch — nicht Bachs
Schädel wäre.

Wenn irgend jemand Anlaß hätte, diesem Ergebnis gegenüber nach
Zweifelsgründen zu suchen, so wäre ich es, da ich die Tradition angefochten
und auf Grund archivalischcr Forschungen als unwahrscheinlich hingestellt habe.


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[0432] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs die entweder infolge langer Krankheit abgemagert oder die mit Fettsucht behaftet waren. Diese Mittelmaße wechseln aber natürlich nach Geschlecht und Alter. Um ganz genau zu gehen, hat Professor His schließlich nicht die Mittelmaße aus allen angestellten Messungen, sondern nur aus denen, die er an acht gesunden Männern zwischen 50 und 72 Jahren vorgenommen hatte, dem Künstler als Norm übergeben, außerdem ihm für jede Norm den Spiel¬ raum bezeichnet, innerhalb dessen er sich bei seiner Arbeit bewegen dürfe. Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren, machte sich nun Herr sessiler noch einmal ganz von frischem an die Arbeit. Er hielt sich dabei einerseits genau an die ihm von Professor His vorgeschriebnen Maße, andrerseits an die hervorstechenden und übereinstimmenden Eigentümlichkeiten der beiden Leipziger Ölbilder. Ein wenig hat er sich allerdings auch durch den Kütnerschen Stich beeinflussen lassen; doch wäre, auch wenn er das unterlassen hätte, das Ergebnis seiner Arbeit nicht wesentlich anders aus¬ gefallen. Dieses Ergebnis aber ist, daß Herr sessiler eine Büste Bachs ge¬ schaffen hat, die alle, die sie bis jetzt gesehen haben, mit höchster Freude und Bewundrung erfüllt hat, da sie alle wesentlichen Züge der Bilder Bachs in sich vereinigt, an Lebenswahrheit aber und Glaubwürdigkeit die Bilder weit übertrifft. Ja! so ruft unwillkürlich jeder aus, der vor die Büste tritt, so hat er ausgesehen, so muß er ausgesehen haben, der gewaltige Meister, aus dessen Kopf die Matthäuspassion und die Hohe Messe entsprungen sind, so groß und erhaben und so mild und freundlich zugleich muß er aus seinen tiefen kleinen Augen in die Welt geblickt haben. Erst jetzt, erst mit dieser Büste Seffners, haben wir ein wirkliches Abbild Johann Sebastian Bachs! Die Art, wie sich Wissenschaft und Kunst hier zur Ausführung einer wissenschaftlichen Untersuchung die Hände gereicht haben, steht bis jetzt wohl einzig da. Und einzig in seiner Art ist auch das Doppelergcbnis der ge¬ meinschaftlichen Arbeit: die Wissenschaft hat der Kunst die Mittel gewährt zur Schaffung eines Kunstwerks, das überall, wohin es dringen wird, die Herzen erfreuen wird, und die Kunst hat der Wissenschaft einen Beweis führen helfen, der ohne ihre Hilfe ein bloßer Wahrscheinlichkeitsbeweis geblieben wäre, nun aber bis dicht an die Grenze der Gewißheit geführt worden ist: den Beweis, daß die am 22. Oktober vorigen Jahres auf dem alten Leipziger Johannis- kirchhof ausgegrabnen Gebeine eines alten Mannes wirklich die Gebeine Johann Sebastian Bachs sind. Nur ein ganz unwahrscheinlicher Zufall hätte an jener Stelle einen Schädel ans Tageslicht bringen können, der alle Bedingungen der Echtheit in solchem Maße erfüllt wie der vorliegende und doch — nicht Bachs Schädel wäre. Wenn irgend jemand Anlaß hätte, diesem Ergebnis gegenüber nach Zweifelsgründen zu suchen, so wäre ich es, da ich die Tradition angefochten und auf Grund archivalischcr Forschungen als unwahrscheinlich hingestellt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/432>, abgerufen am 24.08.2024.