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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Großvaters, und vor allem: er hat die "fliehende" Stirn, die an dem aus-
gegrabnen Schädel so auffällig ist.

Wir kommen nun zu der zweiten anatomischen Aufgabe. Als Herr
sessiler seinen so überraschend gelungner ersten Nekonstruktionsversuch gemacht
hatte, wurde von verschiednen Seiten behauptet, darauf sei nicht viel zu geben,
denn ein geschickter Künstler müsse imstande sein, jedes verlangte Gesicht über
einen einigermaßen formverwandten Schädel zu bilden; es wurde auch
an Herrn sessiler geradezu das Ansinnen gestellt, das Gesicht Bachs einmal
über einen beliebigen andern, nicht allzu verschiedenartigen Schädel zu bilden,
und umgekehrt über den vorliegenden das Gesicht irgend eines andern be¬
rühmten Mannes, etwa Händels. Herr sessiler mit seinem sichern Künstler¬
auge wehrte sich gegen dieses Ansinnen als gegen etwas ganz Unmögliches
und Unausführbares. Und mit Recht; auch ohne Künstler zu sein, begreift
man, daß über einen hohen Schädel mit schmaler Stirn nicht ein Gesicht von
der Breite des Beethovenschen gebildet werden kann. Dennoch verstand sich
schließlich Herr sessiler. mehr um den Leuten den Willen zu thun, zu dem
Versuch, über den vorliegenden Schädel einmal das Gesicht Händels zu formen.
Der Versuch gelang -- äußerlich; inwendig war er eine anatomische Lüge,
denn an der Stirn, wo die Weichteile den Knochen nur dünn aufsitzen, hatte
der Künstler auf den Schüdelabguß eine dicke Thonschicht auflegen müssen,
und am Kinn, das beim Lebenden dick mit Fleisch gepolstert ist, lag der
Schädelabguß beinahe zu Tage. So entstand denn die Frage, die in der
That in dieser ganz bestimmten Fassung vom Künstler an den Anatomen ge¬
stellt wurde: Giebt es gewisse Gesetze über die Dicke der Weichteile in den
einzelnen Bezirken des Gesichts?

Auf diese Frage ließ sich nicht ohne weiteres antworten. Obwohl in
den letzten beiden Jahrzehnten Anatomen wiederholt vor die Aufgabe gestellt
worden sind, sich über die Echtheit bestimmter Schädel auszusprechen -- so
Professor Kupffer in Königsberg 1881 über den Schädel Kants, Professor
Welcker in Halle 1883 über den angeblichen Schädel Schillers in Weimar
und neuerdings Professor Virchow über einen in Menidi gefundnen Schädel,
den man für den des Sophokles (!) halten wollte -- diese Frage hat keiner
gestellt und noch weniger beantwortet; Professor His hat sie im vorliegenden
Falle zum erstenmale zu beantworten gesucht. Er hat im Laufe des letzten
Winters an 37 menschlichen Körpern an 15 bestimmten Punkten des Gesichts
(oberer Stirnrand, unterer Stirnrand. Nasenwurzel, Nasenrücken, Wurzel der
Oberlippe, Oberlippengrübchen u. s. w.) Messungen vorgenommen, um über
die Frage ins Klare zu kommen. Das Ergebnis war, daß in der That für
jede Stelle des Gesichts eine gewisse Normaldicke der Weichteile angenommen
werden kann, die bei gesunden Menschen innerhalb ganz enger Grenzen schwankt.
Größere Abweichungen von den Mittelmaßen fanden sich nur bei Menschen,


Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Großvaters, und vor allem: er hat die „fliehende" Stirn, die an dem aus-
gegrabnen Schädel so auffällig ist.

Wir kommen nun zu der zweiten anatomischen Aufgabe. Als Herr
sessiler seinen so überraschend gelungner ersten Nekonstruktionsversuch gemacht
hatte, wurde von verschiednen Seiten behauptet, darauf sei nicht viel zu geben,
denn ein geschickter Künstler müsse imstande sein, jedes verlangte Gesicht über
einen einigermaßen formverwandten Schädel zu bilden; es wurde auch
an Herrn sessiler geradezu das Ansinnen gestellt, das Gesicht Bachs einmal
über einen beliebigen andern, nicht allzu verschiedenartigen Schädel zu bilden,
und umgekehrt über den vorliegenden das Gesicht irgend eines andern be¬
rühmten Mannes, etwa Händels. Herr sessiler mit seinem sichern Künstler¬
auge wehrte sich gegen dieses Ansinnen als gegen etwas ganz Unmögliches
und Unausführbares. Und mit Recht; auch ohne Künstler zu sein, begreift
man, daß über einen hohen Schädel mit schmaler Stirn nicht ein Gesicht von
der Breite des Beethovenschen gebildet werden kann. Dennoch verstand sich
schließlich Herr sessiler. mehr um den Leuten den Willen zu thun, zu dem
Versuch, über den vorliegenden Schädel einmal das Gesicht Händels zu formen.
Der Versuch gelang — äußerlich; inwendig war er eine anatomische Lüge,
denn an der Stirn, wo die Weichteile den Knochen nur dünn aufsitzen, hatte
der Künstler auf den Schüdelabguß eine dicke Thonschicht auflegen müssen,
und am Kinn, das beim Lebenden dick mit Fleisch gepolstert ist, lag der
Schädelabguß beinahe zu Tage. So entstand denn die Frage, die in der
That in dieser ganz bestimmten Fassung vom Künstler an den Anatomen ge¬
stellt wurde: Giebt es gewisse Gesetze über die Dicke der Weichteile in den
einzelnen Bezirken des Gesichts?

Auf diese Frage ließ sich nicht ohne weiteres antworten. Obwohl in
den letzten beiden Jahrzehnten Anatomen wiederholt vor die Aufgabe gestellt
worden sind, sich über die Echtheit bestimmter Schädel auszusprechen — so
Professor Kupffer in Königsberg 1881 über den Schädel Kants, Professor
Welcker in Halle 1883 über den angeblichen Schädel Schillers in Weimar
und neuerdings Professor Virchow über einen in Menidi gefundnen Schädel,
den man für den des Sophokles (!) halten wollte — diese Frage hat keiner
gestellt und noch weniger beantwortet; Professor His hat sie im vorliegenden
Falle zum erstenmale zu beantworten gesucht. Er hat im Laufe des letzten
Winters an 37 menschlichen Körpern an 15 bestimmten Punkten des Gesichts
(oberer Stirnrand, unterer Stirnrand. Nasenwurzel, Nasenrücken, Wurzel der
Oberlippe, Oberlippengrübchen u. s. w.) Messungen vorgenommen, um über
die Frage ins Klare zu kommen. Das Ergebnis war, daß in der That für
jede Stelle des Gesichts eine gewisse Normaldicke der Weichteile angenommen
werden kann, die bei gesunden Menschen innerhalb ganz enger Grenzen schwankt.
Größere Abweichungen von den Mittelmaßen fanden sich nur bei Menschen,


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[0431] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs Großvaters, und vor allem: er hat die „fliehende" Stirn, die an dem aus- gegrabnen Schädel so auffällig ist. Wir kommen nun zu der zweiten anatomischen Aufgabe. Als Herr sessiler seinen so überraschend gelungner ersten Nekonstruktionsversuch gemacht hatte, wurde von verschiednen Seiten behauptet, darauf sei nicht viel zu geben, denn ein geschickter Künstler müsse imstande sein, jedes verlangte Gesicht über einen einigermaßen formverwandten Schädel zu bilden; es wurde auch an Herrn sessiler geradezu das Ansinnen gestellt, das Gesicht Bachs einmal über einen beliebigen andern, nicht allzu verschiedenartigen Schädel zu bilden, und umgekehrt über den vorliegenden das Gesicht irgend eines andern be¬ rühmten Mannes, etwa Händels. Herr sessiler mit seinem sichern Künstler¬ auge wehrte sich gegen dieses Ansinnen als gegen etwas ganz Unmögliches und Unausführbares. Und mit Recht; auch ohne Künstler zu sein, begreift man, daß über einen hohen Schädel mit schmaler Stirn nicht ein Gesicht von der Breite des Beethovenschen gebildet werden kann. Dennoch verstand sich schließlich Herr sessiler. mehr um den Leuten den Willen zu thun, zu dem Versuch, über den vorliegenden Schädel einmal das Gesicht Händels zu formen. Der Versuch gelang — äußerlich; inwendig war er eine anatomische Lüge, denn an der Stirn, wo die Weichteile den Knochen nur dünn aufsitzen, hatte der Künstler auf den Schüdelabguß eine dicke Thonschicht auflegen müssen, und am Kinn, das beim Lebenden dick mit Fleisch gepolstert ist, lag der Schädelabguß beinahe zu Tage. So entstand denn die Frage, die in der That in dieser ganz bestimmten Fassung vom Künstler an den Anatomen ge¬ stellt wurde: Giebt es gewisse Gesetze über die Dicke der Weichteile in den einzelnen Bezirken des Gesichts? Auf diese Frage ließ sich nicht ohne weiteres antworten. Obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten Anatomen wiederholt vor die Aufgabe gestellt worden sind, sich über die Echtheit bestimmter Schädel auszusprechen — so Professor Kupffer in Königsberg 1881 über den Schädel Kants, Professor Welcker in Halle 1883 über den angeblichen Schädel Schillers in Weimar und neuerdings Professor Virchow über einen in Menidi gefundnen Schädel, den man für den des Sophokles (!) halten wollte — diese Frage hat keiner gestellt und noch weniger beantwortet; Professor His hat sie im vorliegenden Falle zum erstenmale zu beantworten gesucht. Er hat im Laufe des letzten Winters an 37 menschlichen Körpern an 15 bestimmten Punkten des Gesichts (oberer Stirnrand, unterer Stirnrand. Nasenwurzel, Nasenrücken, Wurzel der Oberlippe, Oberlippengrübchen u. s. w.) Messungen vorgenommen, um über die Frage ins Klare zu kommen. Das Ergebnis war, daß in der That für jede Stelle des Gesichts eine gewisse Normaldicke der Weichteile angenommen werden kann, die bei gesunden Menschen innerhalb ganz enger Grenzen schwankt. Größere Abweichungen von den Mittelmaßen fanden sich nur bei Menschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/431>, abgerufen am 24.08.2024.