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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Und zur Not ließe sich ja auch jetzt noch ein Häkchen finden, an dem ein Zweifel¬
süchtiger Anstoß nehmen konnte: die Tiefe des aufgedeckten Grabes nämüch.
Bach ist unzweifelhaft in einem flachen, nur für eine Person berechneten Grabe
beerdigt worden. Nun hat man aber unmittelbar über Bachs Gebeinen noch
die Gebeine einer andern Person gefunden. Das stimmt nicht mit dem alten
Doppelgräberbuche. Dennoch fällt es mir nicht ein, mich an dieses Häkchen
zu stoßen. Wir wissen nicht, wie sich die Vorschriften über die Tiefenmaße der
Gräber seit 1750 geändert haben, oder ob man sich nicht in Zeiten großer
Sterblichkeit bisweilen mit geringern Tiefen begnügt und in Gräber, die ur¬
sprünglich für eine Person bestimmt waren, noch eine zweite gelegt hat. Ich
zweifle nicht an der Echtheit des Schädels, gebe also zu, daß die Tradition
in diesem Falle einmal Recht gehabt hat. Genau an der von ihr bezeichneten
Stelle sind die Gebeine freilich nicht gefunden worden, aber doch auch nicht
allzu weit davon/") Gemeine, kann man sagen, hat die Tradition die richtige
Stelle. Daß sie angezweifelt worden ist, darüber kann sie sich nicht wundern;
es geht ihr wie dem Hirten in der Fabel: Wer einmal lügt u. f. w.

Die Hissche Veröffentlichung ist. der Würde des Gegenstandes entsprechend,
von der Verlagshandlung aufs vornehmste ausgestattet und reich mit Abbil¬
dungen versehen worden. Die wichtigsten in Frage kommenden Bildnisse sind,
ebenso wie die Seffnersche Büste, in Heliogravüren beigegeben, außerdem Ab¬
bildungen des Schädels in der Vorder- und in der Seitenansicht. Nicht die
schönste, aber ohne Zweifel die wichtigste und überzeugendste Abbildung und
die, die bei Anatomen, Künstlern und Laien das größte Interesse erregen wird,
ist die, die den Längsdurchschnitt der Seffnerschen Büste wiedergiebt und
zeigt, wie gewissenhaft und naturgetreu der Schädel vom Künstler mit den
Weichteilen bekleidet worden ist. Wer vor dieser Tafel noch zweifelt, der wird
durch eine Untersuchung wie diese überhaupt nicht zu überzeugen sein.

Die Gebeine Bachs sollen -- nach dem Wunsche des Kirchenvorstandes --
in der im Van begriffnen neuen Johanniskirche wieder beigesetzt werden, neben
ihnen die Gebeine Gellerts, dessen Ruhestätte 1850 bei der Aufhebung des
alten Johanniskirchhofs unberührt gelassen worden ist. der man aber heute,
wo sich der gleichgiltige Straßenverkehr an ihr vorübertreibt, einen stilleren
Platz wünschen möchte. Ein schöner Gedanke: der fromme Kirchenliederdichter
und der größte Meister der protestantischen Kirchenmusik vor dem Altarplatze des
neuen Gotteshauses neben einander ruhend. Möge er freundliche Förderer finden.


G- Wust manu



*) Der Zufall hat es gefügt daß eine Gedenktafel, die 1836 an der Kirche angebracht
wurde und die die Inschrift trug-' Auf dieser Seite des ehemaligen Johanniskirchhofs wurde
Johann Sebastian Bach am 31. Juli 1750 begraben," sich fast genau der Fundstätte der Ge¬
beine gegenüber befand.
Grenzboten II 1895 54
Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

Und zur Not ließe sich ja auch jetzt noch ein Häkchen finden, an dem ein Zweifel¬
süchtiger Anstoß nehmen konnte: die Tiefe des aufgedeckten Grabes nämüch.
Bach ist unzweifelhaft in einem flachen, nur für eine Person berechneten Grabe
beerdigt worden. Nun hat man aber unmittelbar über Bachs Gebeinen noch
die Gebeine einer andern Person gefunden. Das stimmt nicht mit dem alten
Doppelgräberbuche. Dennoch fällt es mir nicht ein, mich an dieses Häkchen
zu stoßen. Wir wissen nicht, wie sich die Vorschriften über die Tiefenmaße der
Gräber seit 1750 geändert haben, oder ob man sich nicht in Zeiten großer
Sterblichkeit bisweilen mit geringern Tiefen begnügt und in Gräber, die ur¬
sprünglich für eine Person bestimmt waren, noch eine zweite gelegt hat. Ich
zweifle nicht an der Echtheit des Schädels, gebe also zu, daß die Tradition
in diesem Falle einmal Recht gehabt hat. Genau an der von ihr bezeichneten
Stelle sind die Gebeine freilich nicht gefunden worden, aber doch auch nicht
allzu weit davon/") Gemeine, kann man sagen, hat die Tradition die richtige
Stelle. Daß sie angezweifelt worden ist, darüber kann sie sich nicht wundern;
es geht ihr wie dem Hirten in der Fabel: Wer einmal lügt u. f. w.

Die Hissche Veröffentlichung ist. der Würde des Gegenstandes entsprechend,
von der Verlagshandlung aufs vornehmste ausgestattet und reich mit Abbil¬
dungen versehen worden. Die wichtigsten in Frage kommenden Bildnisse sind,
ebenso wie die Seffnersche Büste, in Heliogravüren beigegeben, außerdem Ab¬
bildungen des Schädels in der Vorder- und in der Seitenansicht. Nicht die
schönste, aber ohne Zweifel die wichtigste und überzeugendste Abbildung und
die, die bei Anatomen, Künstlern und Laien das größte Interesse erregen wird,
ist die, die den Längsdurchschnitt der Seffnerschen Büste wiedergiebt und
zeigt, wie gewissenhaft und naturgetreu der Schädel vom Künstler mit den
Weichteilen bekleidet worden ist. Wer vor dieser Tafel noch zweifelt, der wird
durch eine Untersuchung wie diese überhaupt nicht zu überzeugen sein.

Die Gebeine Bachs sollen — nach dem Wunsche des Kirchenvorstandes —
in der im Van begriffnen neuen Johanniskirche wieder beigesetzt werden, neben
ihnen die Gebeine Gellerts, dessen Ruhestätte 1850 bei der Aufhebung des
alten Johanniskirchhofs unberührt gelassen worden ist. der man aber heute,
wo sich der gleichgiltige Straßenverkehr an ihr vorübertreibt, einen stilleren
Platz wünschen möchte. Ein schöner Gedanke: der fromme Kirchenliederdichter
und der größte Meister der protestantischen Kirchenmusik vor dem Altarplatze des
neuen Gotteshauses neben einander ruhend. Möge er freundliche Förderer finden.


G- Wust manu



*) Der Zufall hat es gefügt daß eine Gedenktafel, die 1836 an der Kirche angebracht
wurde und die die Inschrift trug-' Auf dieser Seite des ehemaligen Johanniskirchhofs wurde
Johann Sebastian Bach am 31. Juli 1750 begraben," sich fast genau der Fundstätte der Ge¬
beine gegenüber befand.
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[0433] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs Und zur Not ließe sich ja auch jetzt noch ein Häkchen finden, an dem ein Zweifel¬ süchtiger Anstoß nehmen konnte: die Tiefe des aufgedeckten Grabes nämüch. Bach ist unzweifelhaft in einem flachen, nur für eine Person berechneten Grabe beerdigt worden. Nun hat man aber unmittelbar über Bachs Gebeinen noch die Gebeine einer andern Person gefunden. Das stimmt nicht mit dem alten Doppelgräberbuche. Dennoch fällt es mir nicht ein, mich an dieses Häkchen zu stoßen. Wir wissen nicht, wie sich die Vorschriften über die Tiefenmaße der Gräber seit 1750 geändert haben, oder ob man sich nicht in Zeiten großer Sterblichkeit bisweilen mit geringern Tiefen begnügt und in Gräber, die ur¬ sprünglich für eine Person bestimmt waren, noch eine zweite gelegt hat. Ich zweifle nicht an der Echtheit des Schädels, gebe also zu, daß die Tradition in diesem Falle einmal Recht gehabt hat. Genau an der von ihr bezeichneten Stelle sind die Gebeine freilich nicht gefunden worden, aber doch auch nicht allzu weit davon/") Gemeine, kann man sagen, hat die Tradition die richtige Stelle. Daß sie angezweifelt worden ist, darüber kann sie sich nicht wundern; es geht ihr wie dem Hirten in der Fabel: Wer einmal lügt u. f. w. Die Hissche Veröffentlichung ist. der Würde des Gegenstandes entsprechend, von der Verlagshandlung aufs vornehmste ausgestattet und reich mit Abbil¬ dungen versehen worden. Die wichtigsten in Frage kommenden Bildnisse sind, ebenso wie die Seffnersche Büste, in Heliogravüren beigegeben, außerdem Ab¬ bildungen des Schädels in der Vorder- und in der Seitenansicht. Nicht die schönste, aber ohne Zweifel die wichtigste und überzeugendste Abbildung und die, die bei Anatomen, Künstlern und Laien das größte Interesse erregen wird, ist die, die den Längsdurchschnitt der Seffnerschen Büste wiedergiebt und zeigt, wie gewissenhaft und naturgetreu der Schädel vom Künstler mit den Weichteilen bekleidet worden ist. Wer vor dieser Tafel noch zweifelt, der wird durch eine Untersuchung wie diese überhaupt nicht zu überzeugen sein. Die Gebeine Bachs sollen — nach dem Wunsche des Kirchenvorstandes — in der im Van begriffnen neuen Johanniskirche wieder beigesetzt werden, neben ihnen die Gebeine Gellerts, dessen Ruhestätte 1850 bei der Aufhebung des alten Johanniskirchhofs unberührt gelassen worden ist. der man aber heute, wo sich der gleichgiltige Straßenverkehr an ihr vorübertreibt, einen stilleren Platz wünschen möchte. Ein schöner Gedanke: der fromme Kirchenliederdichter und der größte Meister der protestantischen Kirchenmusik vor dem Altarplatze des neuen Gotteshauses neben einander ruhend. Möge er freundliche Förderer finden. G- Wust manu *) Der Zufall hat es gefügt daß eine Gedenktafel, die 1836 an der Kirche angebracht wurde und die die Inschrift trug-' Auf dieser Seite des ehemaligen Johanniskirchhofs wurde Johann Sebastian Bach am 31. Juli 1750 begraben," sich fast genau der Fundstätte der Ge¬ beine gegenüber befand. Grenzboten II 1895 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/433>, abgerufen am 24.08.2024.