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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

häßlich weit vor- und dabei nach der Seite gerückt, der Mund, im Original
leicht gewellt, ist so häßlich zu einer geraden Linie verzerrt, daß ein ganz
andres Gesicht mit einem unwilligen, fast wütigen Ausdruck daraus ge¬
worden ist.

Um jedoch ganz sicher zu gehen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen,
ob es sich hier wirklich nur um Stichfehler oder um Wiedergabe von Zügen
der Originale handle, die etwa durch spätere Übermalungen verloren gegangen
wären, that die Kommission noch ein übriges: sie ließ mit Bewilligung der
Besitzer die beiden Leipziger Bilder durch einen sachkundigen und zuverlässigen
Gemälderestaurator, Herrn Schönfelder in Berlin, reinigen, den alten, braun
gewordnen Firniß herunternehmen und die Bilder ans etwaige Übermalungen
hin untersuchen. Das Ergebnis war, daß das Bild des Herrn Dr. Abraham
keine Spur einer Übermalung zeigte. Das Bild der Thomasschule war aller¬
dings an ein paar Stellen schon früher einmal ausgebessert worden; diese
Ausbesserungen hat Herr Schönfelder heruntergenommen und die verletzten
Stellen (eine an der Stirn, die andre am Munde) seinerseits wieder mit pein¬
lichster Gewissenhaftigkeit nachgebessert. Im übrigen war aber auch dieses Bild
völlig frei von Übermalungen. Weder der Sichlingsche noch der Kütnersche
Stich also kann den Originalen gegenüber irgend welche Bedeutung bean¬
spruchen. Die sorgfältigere, elegantere Modellirung bei Sichling kommt eben
auf Rechnung der Stechertechnik und des Bestrebens, ein "schönes" Blatt zu
liefern, und bei Kütner handelt es sich um nichts als grobe Verzeichnungen.
Es bleibt also auch nach der sorgfältigsten Prüfung dabei, daß die beiden Leip¬
ziger Ölbilder für eine Rekonstruktion von Bachs Antlitz die Hauptgrundlage
abzugeben haben.*)

Einiges Interesse kann noch ein Bild eines Enkels von Johann Sebastian
Bach und Sohnes von Philipp Emanuel Bach beanspruchen, Johann Samuel
Bach, der als Landschaftszeichner 1778 in Rom gestorben ist. Er war ein
Schüler Ösers, und Oser hat ein Porträt von ihm gezeichnet, das, in einem
Stich von Grießmann, auch einem Schüler Barsch, dem dreiundvierzigsten Bande
der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften (Leipzig, 1791) als Titelbild
beigegeben ist. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß körperliche und geistige
Eigenschaften oft viel deutlicher beim Enkel als beim Sohne wiederkehren. Das
trifft auch hier wieder zu. Johann Sebastian Bach war kurzsichtig; der Enkel
ist hier in einem Buche lesend dargestellt mit den deutlichen Zeichen der
Kurzsichtigkeit. Er hat auch die engen Lidspalten und die große Nase des



Professor His ist andrer Ansicht, er ist geneigt, dem Kütncrschen Stich eine selbstän¬
dige Bedeutung zuzuschreiben. Das wäre aber doch nur dann möglich, wenn man annehmen
dürfte oder müßte, daß er nicht auf das Abrahamsche Bild, sondern auf ein andres, nicht
nachweisbares Original zurückginge, von dem dann das Abrahamsche Bild eine abweichende
und verschönernde Kopie wäre. Vorläufig spricht nichts für diese Annahme.
Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

häßlich weit vor- und dabei nach der Seite gerückt, der Mund, im Original
leicht gewellt, ist so häßlich zu einer geraden Linie verzerrt, daß ein ganz
andres Gesicht mit einem unwilligen, fast wütigen Ausdruck daraus ge¬
worden ist.

Um jedoch ganz sicher zu gehen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen,
ob es sich hier wirklich nur um Stichfehler oder um Wiedergabe von Zügen
der Originale handle, die etwa durch spätere Übermalungen verloren gegangen
wären, that die Kommission noch ein übriges: sie ließ mit Bewilligung der
Besitzer die beiden Leipziger Bilder durch einen sachkundigen und zuverlässigen
Gemälderestaurator, Herrn Schönfelder in Berlin, reinigen, den alten, braun
gewordnen Firniß herunternehmen und die Bilder ans etwaige Übermalungen
hin untersuchen. Das Ergebnis war, daß das Bild des Herrn Dr. Abraham
keine Spur einer Übermalung zeigte. Das Bild der Thomasschule war aller¬
dings an ein paar Stellen schon früher einmal ausgebessert worden; diese
Ausbesserungen hat Herr Schönfelder heruntergenommen und die verletzten
Stellen (eine an der Stirn, die andre am Munde) seinerseits wieder mit pein¬
lichster Gewissenhaftigkeit nachgebessert. Im übrigen war aber auch dieses Bild
völlig frei von Übermalungen. Weder der Sichlingsche noch der Kütnersche
Stich also kann den Originalen gegenüber irgend welche Bedeutung bean¬
spruchen. Die sorgfältigere, elegantere Modellirung bei Sichling kommt eben
auf Rechnung der Stechertechnik und des Bestrebens, ein „schönes" Blatt zu
liefern, und bei Kütner handelt es sich um nichts als grobe Verzeichnungen.
Es bleibt also auch nach der sorgfältigsten Prüfung dabei, daß die beiden Leip¬
ziger Ölbilder für eine Rekonstruktion von Bachs Antlitz die Hauptgrundlage
abzugeben haben.*)

Einiges Interesse kann noch ein Bild eines Enkels von Johann Sebastian
Bach und Sohnes von Philipp Emanuel Bach beanspruchen, Johann Samuel
Bach, der als Landschaftszeichner 1778 in Rom gestorben ist. Er war ein
Schüler Ösers, und Oser hat ein Porträt von ihm gezeichnet, das, in einem
Stich von Grießmann, auch einem Schüler Barsch, dem dreiundvierzigsten Bande
der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften (Leipzig, 1791) als Titelbild
beigegeben ist. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß körperliche und geistige
Eigenschaften oft viel deutlicher beim Enkel als beim Sohne wiederkehren. Das
trifft auch hier wieder zu. Johann Sebastian Bach war kurzsichtig; der Enkel
ist hier in einem Buche lesend dargestellt mit den deutlichen Zeichen der
Kurzsichtigkeit. Er hat auch die engen Lidspalten und die große Nase des



Professor His ist andrer Ansicht, er ist geneigt, dem Kütncrschen Stich eine selbstän¬
dige Bedeutung zuzuschreiben. Das wäre aber doch nur dann möglich, wenn man annehmen
dürfte oder müßte, daß er nicht auf das Abrahamsche Bild, sondern auf ein andres, nicht
nachweisbares Original zurückginge, von dem dann das Abrahamsche Bild eine abweichende
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[0430] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs häßlich weit vor- und dabei nach der Seite gerückt, der Mund, im Original leicht gewellt, ist so häßlich zu einer geraden Linie verzerrt, daß ein ganz andres Gesicht mit einem unwilligen, fast wütigen Ausdruck daraus ge¬ worden ist. Um jedoch ganz sicher zu gehen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen, ob es sich hier wirklich nur um Stichfehler oder um Wiedergabe von Zügen der Originale handle, die etwa durch spätere Übermalungen verloren gegangen wären, that die Kommission noch ein übriges: sie ließ mit Bewilligung der Besitzer die beiden Leipziger Bilder durch einen sachkundigen und zuverlässigen Gemälderestaurator, Herrn Schönfelder in Berlin, reinigen, den alten, braun gewordnen Firniß herunternehmen und die Bilder ans etwaige Übermalungen hin untersuchen. Das Ergebnis war, daß das Bild des Herrn Dr. Abraham keine Spur einer Übermalung zeigte. Das Bild der Thomasschule war aller¬ dings an ein paar Stellen schon früher einmal ausgebessert worden; diese Ausbesserungen hat Herr Schönfelder heruntergenommen und die verletzten Stellen (eine an der Stirn, die andre am Munde) seinerseits wieder mit pein¬ lichster Gewissenhaftigkeit nachgebessert. Im übrigen war aber auch dieses Bild völlig frei von Übermalungen. Weder der Sichlingsche noch der Kütnersche Stich also kann den Originalen gegenüber irgend welche Bedeutung bean¬ spruchen. Die sorgfältigere, elegantere Modellirung bei Sichling kommt eben auf Rechnung der Stechertechnik und des Bestrebens, ein „schönes" Blatt zu liefern, und bei Kütner handelt es sich um nichts als grobe Verzeichnungen. Es bleibt also auch nach der sorgfältigsten Prüfung dabei, daß die beiden Leip¬ ziger Ölbilder für eine Rekonstruktion von Bachs Antlitz die Hauptgrundlage abzugeben haben.*) Einiges Interesse kann noch ein Bild eines Enkels von Johann Sebastian Bach und Sohnes von Philipp Emanuel Bach beanspruchen, Johann Samuel Bach, der als Landschaftszeichner 1778 in Rom gestorben ist. Er war ein Schüler Ösers, und Oser hat ein Porträt von ihm gezeichnet, das, in einem Stich von Grießmann, auch einem Schüler Barsch, dem dreiundvierzigsten Bande der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften (Leipzig, 1791) als Titelbild beigegeben ist. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß körperliche und geistige Eigenschaften oft viel deutlicher beim Enkel als beim Sohne wiederkehren. Das trifft auch hier wieder zu. Johann Sebastian Bach war kurzsichtig; der Enkel ist hier in einem Buche lesend dargestellt mit den deutlichen Zeichen der Kurzsichtigkeit. Er hat auch die engen Lidspalten und die große Nase des Professor His ist andrer Ansicht, er ist geneigt, dem Kütncrschen Stich eine selbstän¬ dige Bedeutung zuzuschreiben. Das wäre aber doch nur dann möglich, wenn man annehmen dürfte oder müßte, daß er nicht auf das Abrahamsche Bild, sondern auf ein andres, nicht nachweisbares Original zurückginge, von dem dann das Abrahamsche Bild eine abweichende und verschönernde Kopie wäre. Vorläufig spricht nichts für diese Annahme.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/430>, abgerufen am 25.08.2024.