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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wirren und Wege

sein. Man bedenke, wie sittlich verheerend im Volke Schlagwörter wie der
"Kampf ums Dasein" wirken müssen! Dieses Gleichnis spiegelt sich in den
Köpfen vieler als ein Gesetz, wonach Auffressen und Vertilgen unter den
Menschen so gut wie unter den Tieren eine heilige Natureinrichtung sei. Wiederum
als Gesetz, und nicht als theoretische Widerspiegelung vorübergehender und
durch den menschlichen Verstand nusmerzbarer Naturverfehltheiten treibt der
Malthusianismus sein gespenstisches Wesen. Ferner kann man, sogar von ge¬
bildeten Anhängern der Sozialdemokratie, in öffentlichen Diskusstonen die Lehre
verfochten hören, daß die Verschiedenheit der Menschen ein Produkt der wirt¬
schaftlichen Verhältnisse sei! Noch schlimmer ist, daß man selten eine gründ¬
liche Widerlegung solcher plumpen Theorien vernimmt. Wie vergröbernd auf
das Denken wirkt ferner jene Naturforscherweisheit, wonach der Mensch ist,
was er ißt! Es lohnt wahrlich der Mühe, die Unfähigkeit zu feinerem Denken
bei den modernen Käferspießern und Pflanzentrocknern energisch zu beleuchten.
Was nützt es, wenn auch in jenen Naturforschermätzchen ein Stückchen Wahr¬
heit enthalten ist -- im Volke kursireu diese rohen Begriffe als wahr, so gut
wie die unterwertigeu Silbermünzen für voll gelten. "Es giebt keine allge¬
mein giltigen Wahrheiten, es giebt keine allgemein anerkannte Ethik," so ruft
wissensstvlz ein Mensch, der von Nietzsche hat läuten hören oder auch bereits
weiß, daß bei dem einen Volk etwas für sittlich, bei dem andern dasselbe für
unsittlich gilt. Sieht man denn die Gefahren nicht, die aus solchen unge¬
klärten Vorstellungen für die Zukunft unsers Volks erwachsen? Aber was
kümmert das die Schulmeister! Die reformiren zumeist nach der flachen Seite,
der eignen Bequemlichkeit und der der Schüler Rechnung tragend. Eine ge¬
sunde Schulreform sollte, denke ich, mit einer Reform in der Erziehung der
Lehrer anfangen, und die wiederum erheischt eine Reform der Universitäten,
mindestens eine Reform des Handwerks der Philologieprofessoren, die, wie
neulich in diesen Blättern sehr richtig bemerkt wurde, die Arbeitslust der jungen
Studenten auf eine fürchterliche Probe stellen.

Es ist doch merkwürdig und nicht von ungefähr, daß hervorragende Geister
der Gegenwart ihr Mühen nicht auf soziales Flickwerk, sondern auf Beein¬
flussung der Geister verwandt haben. Dühring, Nietzsche und Tolstoi stimmen
darin ttberein, daß ohne die Heranzüchtung besserer Menschen die gesellschaft¬
liche Not nicht zu heben sei. Bessere die Geister, so bessert ihr die Verhält¬
nisse -- wer das übersieht, der begeht einen großen Fehler. Hertzkas Frei¬
landunternehmen war darum verfehlt, weil er den Hebel einzig und allein an
die wirtschaftlichen Verhältnisse setzte. Das Meer sozialer und politischer Un¬
geheuerlichkeiten wäre nicht möglich, wenn nicht Tropfen, Bäche und Ströme
menschlicher Schlechtigkeit oder Charakterschwäche in eins zusammenflossen.
Darum wird die gründlichste Reform bei dem Einzelnen einzusetzen und dessen
Erziehung vor allem ins Auge zu fassen haben.


Wirren und Wege

sein. Man bedenke, wie sittlich verheerend im Volke Schlagwörter wie der
„Kampf ums Dasein" wirken müssen! Dieses Gleichnis spiegelt sich in den
Köpfen vieler als ein Gesetz, wonach Auffressen und Vertilgen unter den
Menschen so gut wie unter den Tieren eine heilige Natureinrichtung sei. Wiederum
als Gesetz, und nicht als theoretische Widerspiegelung vorübergehender und
durch den menschlichen Verstand nusmerzbarer Naturverfehltheiten treibt der
Malthusianismus sein gespenstisches Wesen. Ferner kann man, sogar von ge¬
bildeten Anhängern der Sozialdemokratie, in öffentlichen Diskusstonen die Lehre
verfochten hören, daß die Verschiedenheit der Menschen ein Produkt der wirt¬
schaftlichen Verhältnisse sei! Noch schlimmer ist, daß man selten eine gründ¬
liche Widerlegung solcher plumpen Theorien vernimmt. Wie vergröbernd auf
das Denken wirkt ferner jene Naturforscherweisheit, wonach der Mensch ist,
was er ißt! Es lohnt wahrlich der Mühe, die Unfähigkeit zu feinerem Denken
bei den modernen Käferspießern und Pflanzentrocknern energisch zu beleuchten.
Was nützt es, wenn auch in jenen Naturforschermätzchen ein Stückchen Wahr¬
heit enthalten ist — im Volke kursireu diese rohen Begriffe als wahr, so gut
wie die unterwertigeu Silbermünzen für voll gelten. „Es giebt keine allge¬
mein giltigen Wahrheiten, es giebt keine allgemein anerkannte Ethik," so ruft
wissensstvlz ein Mensch, der von Nietzsche hat läuten hören oder auch bereits
weiß, daß bei dem einen Volk etwas für sittlich, bei dem andern dasselbe für
unsittlich gilt. Sieht man denn die Gefahren nicht, die aus solchen unge¬
klärten Vorstellungen für die Zukunft unsers Volks erwachsen? Aber was
kümmert das die Schulmeister! Die reformiren zumeist nach der flachen Seite,
der eignen Bequemlichkeit und der der Schüler Rechnung tragend. Eine ge¬
sunde Schulreform sollte, denke ich, mit einer Reform in der Erziehung der
Lehrer anfangen, und die wiederum erheischt eine Reform der Universitäten,
mindestens eine Reform des Handwerks der Philologieprofessoren, die, wie
neulich in diesen Blättern sehr richtig bemerkt wurde, die Arbeitslust der jungen
Studenten auf eine fürchterliche Probe stellen.

Es ist doch merkwürdig und nicht von ungefähr, daß hervorragende Geister
der Gegenwart ihr Mühen nicht auf soziales Flickwerk, sondern auf Beein¬
flussung der Geister verwandt haben. Dühring, Nietzsche und Tolstoi stimmen
darin ttberein, daß ohne die Heranzüchtung besserer Menschen die gesellschaft¬
liche Not nicht zu heben sei. Bessere die Geister, so bessert ihr die Verhält¬
nisse — wer das übersieht, der begeht einen großen Fehler. Hertzkas Frei¬
landunternehmen war darum verfehlt, weil er den Hebel einzig und allein an
die wirtschaftlichen Verhältnisse setzte. Das Meer sozialer und politischer Un¬
geheuerlichkeiten wäre nicht möglich, wenn nicht Tropfen, Bäche und Ströme
menschlicher Schlechtigkeit oder Charakterschwäche in eins zusammenflossen.
Darum wird die gründlichste Reform bei dem Einzelnen einzusetzen und dessen
Erziehung vor allem ins Auge zu fassen haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/404>, abgerufen am 24.08.2024.