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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wirren und Ivege

so gesünder für die überlebenden, werden die Nietzschianer sagen, in Ahnungs-
lvsigkeit über die furchtbaren Leiden, mit denen Menschen heimgesucht werden
können, und oft gerade sehr gute Menschen. Diese hundert Mark hat zu der¬
selben Zeit in tausendfacher Anzahl ein Kapitalist, der sie, anstatt bei darbenden
Landsleuten segenbringend zu verwenden, in exotischen Werten, argentinischen
oder nordamerikanischen Papieren, demnächst wohl auch in chinesischen, anlegt
und -- zum größten Teil verliert. Ganz gewiß ist es ja sür ein Volk als
Ganzes ein Glück, wenn es sich durch seine Kapitalisten andre Länder
tributpflichtig macht. Bedenkt man aber das Risiko und erinnert man sich
an Christenpflicht, so wäre es noch ein größeres Glück, wenn die bei aus¬
wärtigen Kapitalanlagen verloren gehenden Summen entweder gar nicht durch
deutsche Arbeit aufgebracht oder doch wenigstens zu Nutz und Frommen
notleidender Arbeiter gestiftet worden wären. Dem Kapitalisten schadet ja
seine Selbstsucht oder sein Mangel an Solidaritätsgefühl zunächst noch
nichts. Aber auch der Kapitalist hat seine Kinder lieb, und es ist ihm
nicht gleichartig, was seine Kindeskinder erleben werden. Sieht er denn aber
gar nicht, daß die Klust, die das Kapital zwischen seinem Besitzer und dem
Arbeiter reißt und immer mehr vergrößert, für Kinder und Enkel zum höllischen
Abgrund werden kann? Es giebt doch keine einfachere Moral als die, die das
Wohlergehen des Kindes zum Grundsatz und Ausgangspunkt des Handelns
nimmt. Es kann nicht genug betont werden, daß man zur Lösung der sozialen
Schwierigkeiten die Menschen bei der Liebe zu ihren Kindern anpacken muß.
Zwar ist das nur Militaristische Moral, aber es genügt, wenn etwas damit
erreicht wird. Gebe ich einem Kapitalisten ein Kompendium der Ethik vou
K00 bis 800 Seiten, so bemitleidet er mit Recht meine Naivität. Weise ich
ihn aber z. B. darauf hin, wie man in Berlin zur Zeit der letzten Cholera
in dem vornehmen L'A auf einmal inne wurde, daß es doch gut gewesen
wäre, wenn man Schmutz und Elend im ol nicht so sehr hätte anwachsen
lassen (denn bei Epidemien quittirt der Tod für die Unterlassungssünden der
Reichen), so lernt der Kapitalist mehr daraus sür seiue soziale Verantwortlichkeit
als aus einem Philosophieprvfessorenelaborat, in das er keinen Blick wirft.
Von Nutzen und von Vorteilen läßt sich zu den Menschen reden, überschwäng-
liche Gefühlsmvral macht sie lachen. Wenn sich in den größer" Städten Deutsch¬
lands nur je zehn Kapitalisten fänden, deren soziales Wissen weit und lebhaft
genug wäre, die Chancen ihrer Nachkommenschaft allseitig zu erwügeu, so könnte
sich ein sehr stattlicher Kapitalistenbund bilden, der durch Kapitalgewährung für
einen zureichenden Menschenexport aus Deutschland nach den Kolonien sorgte
und so die Chancen für die Kapitalistennachkommenschaft verbesserte. Aber jenes
lebhafte, den Willen anschirrende soziale Wissen fehlt eben, und darum fehlt es
auch an weit verbreiteten sozialen Tugenden. Gerade das Gegenteil scheint
heute durch unsre glorreiche Naturwissenschaft als das Richtige verbürgt zu


Wirren und Ivege

so gesünder für die überlebenden, werden die Nietzschianer sagen, in Ahnungs-
lvsigkeit über die furchtbaren Leiden, mit denen Menschen heimgesucht werden
können, und oft gerade sehr gute Menschen. Diese hundert Mark hat zu der¬
selben Zeit in tausendfacher Anzahl ein Kapitalist, der sie, anstatt bei darbenden
Landsleuten segenbringend zu verwenden, in exotischen Werten, argentinischen
oder nordamerikanischen Papieren, demnächst wohl auch in chinesischen, anlegt
und — zum größten Teil verliert. Ganz gewiß ist es ja sür ein Volk als
Ganzes ein Glück, wenn es sich durch seine Kapitalisten andre Länder
tributpflichtig macht. Bedenkt man aber das Risiko und erinnert man sich
an Christenpflicht, so wäre es noch ein größeres Glück, wenn die bei aus¬
wärtigen Kapitalanlagen verloren gehenden Summen entweder gar nicht durch
deutsche Arbeit aufgebracht oder doch wenigstens zu Nutz und Frommen
notleidender Arbeiter gestiftet worden wären. Dem Kapitalisten schadet ja
seine Selbstsucht oder sein Mangel an Solidaritätsgefühl zunächst noch
nichts. Aber auch der Kapitalist hat seine Kinder lieb, und es ist ihm
nicht gleichartig, was seine Kindeskinder erleben werden. Sieht er denn aber
gar nicht, daß die Klust, die das Kapital zwischen seinem Besitzer und dem
Arbeiter reißt und immer mehr vergrößert, für Kinder und Enkel zum höllischen
Abgrund werden kann? Es giebt doch keine einfachere Moral als die, die das
Wohlergehen des Kindes zum Grundsatz und Ausgangspunkt des Handelns
nimmt. Es kann nicht genug betont werden, daß man zur Lösung der sozialen
Schwierigkeiten die Menschen bei der Liebe zu ihren Kindern anpacken muß.
Zwar ist das nur Militaristische Moral, aber es genügt, wenn etwas damit
erreicht wird. Gebe ich einem Kapitalisten ein Kompendium der Ethik vou
K00 bis 800 Seiten, so bemitleidet er mit Recht meine Naivität. Weise ich
ihn aber z. B. darauf hin, wie man in Berlin zur Zeit der letzten Cholera
in dem vornehmen L'A auf einmal inne wurde, daß es doch gut gewesen
wäre, wenn man Schmutz und Elend im ol nicht so sehr hätte anwachsen
lassen (denn bei Epidemien quittirt der Tod für die Unterlassungssünden der
Reichen), so lernt der Kapitalist mehr daraus sür seiue soziale Verantwortlichkeit
als aus einem Philosophieprvfessorenelaborat, in das er keinen Blick wirft.
Von Nutzen und von Vorteilen läßt sich zu den Menschen reden, überschwäng-
liche Gefühlsmvral macht sie lachen. Wenn sich in den größer» Städten Deutsch¬
lands nur je zehn Kapitalisten fänden, deren soziales Wissen weit und lebhaft
genug wäre, die Chancen ihrer Nachkommenschaft allseitig zu erwügeu, so könnte
sich ein sehr stattlicher Kapitalistenbund bilden, der durch Kapitalgewährung für
einen zureichenden Menschenexport aus Deutschland nach den Kolonien sorgte
und so die Chancen für die Kapitalistennachkommenschaft verbesserte. Aber jenes
lebhafte, den Willen anschirrende soziale Wissen fehlt eben, und darum fehlt es
auch an weit verbreiteten sozialen Tugenden. Gerade das Gegenteil scheint
heute durch unsre glorreiche Naturwissenschaft als das Richtige verbürgt zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/403>, abgerufen am 24.08.2024.