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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Hailslicks Lebenserinnerungeii

herzigenswert und geeignet, uns mit hoher Achtung zu erfüllen. Gleich
seine kleinen kritischen Anfänge nahm er sehr ernst: "Ich urteilte über keine
Komposition, erzählt er, ohne sie vor und nochmals nach der Auffüh¬
rung zu lesen oder durchzuspielen -- eine Gewohnheit, der ich bis auf den
heutigen Tag, also nahezu ein halbes Jahrhundert, treu geblieben bin."
Ein ausgezeichneter Grundsatz, der nicht genug zur Nachahmung empfohlen
werden kann. Natürlich hat das seine Grenzen; ein ganz neues Werk, das
nur im Manuskript vorliegt, kann man weder vor noch nach der Aufführung
lesen, und in der hohen Saison, wenn die musikalischen Wellen links und
rechts über Bord schlagen, kann unmöglich jede einzelne genau geprüft werden.
Beschönigendes Überfirnissen der Kritiken durch den Redakteur, der keinen An¬
stoß erregen will, oder auch glaubt, er verstehe die Sache besser, weil er am
Nedaktionstische sitzt, ist ihm ein Greuel, ebenso die "Unsitte der Nachtkritikeu,
diese ärgste Pein. Wie leicht thut man da, müde und aufgeregt, jemandem
Unrecht!"

Das Wichtigste, was Hanslick über seinen kritischen Beruf zu sagen hat,
kleidet er in die Form eines Gesprächs mit Billroth. Die beiden Freunde
sind dabei fein und treffend charalterisirt. Billroth stellt seine Fragen so, daß
Hanslick nicht umhin kann, ihm seine innersten Ansichten und Empfindungen
zu erschließen.

Hanslick ist weit entfernt, sich vor der Rückkehr nach Wien und vor dem
Ansturm von Opern und Konzerten zu fürchten. Wenn ihm auch die Leichtig¬
keit des Produzirens abhanden gekommen ist, so hat er doch noch die frische
Empfänglichkeit wie früher. Warum sollte er auch seiner Thätigkeit nicht mit
Freuden entgegensehen? Sie hat neben manchen schlimmen auch ihre guten
Seiten. In erster Linie genießt der Kritiker vor dem auf eigne Erfindung
angewiesenen Dichter den Vorteil, daß ihm fortwährend neuer Stoff zuströmt.
Der Zwang, so viel Mittelmäßiges und gänzlich Wertloses mit in den Kauf
zu nehmen, ist sicher unangenehm, aber man ist eben nicht nur Kritiker, sondern
auch Mensch: "Nein aus Mitleid opfert man unersetzliche Abende, erduldet
zum tausendstenmal dieselben Rhapsodien von Liszt, Nocturnes von Chopin,
Phantasien von Wieniawsky, lediglich weil die "Virtuosin" mit ihrer Kunst
eine Schwester oder Mutter erhält." Deu Einfluß des Kritikers auf die Künstler
hält Hanslick für mehr als zweifelhaft. Er selbst hat den Grundsatz, nur zum
Publikum, nie zum Künstler zu sprechen, der ja meist nur das Lob für be¬
gründet hält. Aber auch dein Publikum gegenüber ist die Kritik von that¬
sächlichem Einfluß nur dann, "wenn sie -- kurz gesagt -- Recht hat. Das
Publikum läßt sich nichts weis machen. Es folgt seinen eignen Eindrücken,
und diese sind meistens -- nicht immer -- richtig." Am kräftigsten vermag
die Kritik da einzugreifen, wo das Publikum einer neuen Erscheinung gegen¬
über das Nichtige zwar ahnt, aber seines Urteils doch nicht sicher genug ist,


Eduard Hailslicks Lebenserinnerungeii

herzigenswert und geeignet, uns mit hoher Achtung zu erfüllen. Gleich
seine kleinen kritischen Anfänge nahm er sehr ernst: „Ich urteilte über keine
Komposition, erzählt er, ohne sie vor und nochmals nach der Auffüh¬
rung zu lesen oder durchzuspielen — eine Gewohnheit, der ich bis auf den
heutigen Tag, also nahezu ein halbes Jahrhundert, treu geblieben bin."
Ein ausgezeichneter Grundsatz, der nicht genug zur Nachahmung empfohlen
werden kann. Natürlich hat das seine Grenzen; ein ganz neues Werk, das
nur im Manuskript vorliegt, kann man weder vor noch nach der Aufführung
lesen, und in der hohen Saison, wenn die musikalischen Wellen links und
rechts über Bord schlagen, kann unmöglich jede einzelne genau geprüft werden.
Beschönigendes Überfirnissen der Kritiken durch den Redakteur, der keinen An¬
stoß erregen will, oder auch glaubt, er verstehe die Sache besser, weil er am
Nedaktionstische sitzt, ist ihm ein Greuel, ebenso die „Unsitte der Nachtkritikeu,
diese ärgste Pein. Wie leicht thut man da, müde und aufgeregt, jemandem
Unrecht!"

Das Wichtigste, was Hanslick über seinen kritischen Beruf zu sagen hat,
kleidet er in die Form eines Gesprächs mit Billroth. Die beiden Freunde
sind dabei fein und treffend charalterisirt. Billroth stellt seine Fragen so, daß
Hanslick nicht umhin kann, ihm seine innersten Ansichten und Empfindungen
zu erschließen.

Hanslick ist weit entfernt, sich vor der Rückkehr nach Wien und vor dem
Ansturm von Opern und Konzerten zu fürchten. Wenn ihm auch die Leichtig¬
keit des Produzirens abhanden gekommen ist, so hat er doch noch die frische
Empfänglichkeit wie früher. Warum sollte er auch seiner Thätigkeit nicht mit
Freuden entgegensehen? Sie hat neben manchen schlimmen auch ihre guten
Seiten. In erster Linie genießt der Kritiker vor dem auf eigne Erfindung
angewiesenen Dichter den Vorteil, daß ihm fortwährend neuer Stoff zuströmt.
Der Zwang, so viel Mittelmäßiges und gänzlich Wertloses mit in den Kauf
zu nehmen, ist sicher unangenehm, aber man ist eben nicht nur Kritiker, sondern
auch Mensch: „Nein aus Mitleid opfert man unersetzliche Abende, erduldet
zum tausendstenmal dieselben Rhapsodien von Liszt, Nocturnes von Chopin,
Phantasien von Wieniawsky, lediglich weil die »Virtuosin« mit ihrer Kunst
eine Schwester oder Mutter erhält." Deu Einfluß des Kritikers auf die Künstler
hält Hanslick für mehr als zweifelhaft. Er selbst hat den Grundsatz, nur zum
Publikum, nie zum Künstler zu sprechen, der ja meist nur das Lob für be¬
gründet hält. Aber auch dein Publikum gegenüber ist die Kritik von that¬
sächlichem Einfluß nur dann, „wenn sie — kurz gesagt — Recht hat. Das
Publikum läßt sich nichts weis machen. Es folgt seinen eignen Eindrücken,
und diese sind meistens — nicht immer — richtig." Am kräftigsten vermag
die Kritik da einzugreifen, wo das Publikum einer neuen Erscheinung gegen¬
über das Nichtige zwar ahnt, aber seines Urteils doch nicht sicher genug ist,


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[0332] Eduard Hailslicks Lebenserinnerungeii herzigenswert und geeignet, uns mit hoher Achtung zu erfüllen. Gleich seine kleinen kritischen Anfänge nahm er sehr ernst: „Ich urteilte über keine Komposition, erzählt er, ohne sie vor und nochmals nach der Auffüh¬ rung zu lesen oder durchzuspielen — eine Gewohnheit, der ich bis auf den heutigen Tag, also nahezu ein halbes Jahrhundert, treu geblieben bin." Ein ausgezeichneter Grundsatz, der nicht genug zur Nachahmung empfohlen werden kann. Natürlich hat das seine Grenzen; ein ganz neues Werk, das nur im Manuskript vorliegt, kann man weder vor noch nach der Aufführung lesen, und in der hohen Saison, wenn die musikalischen Wellen links und rechts über Bord schlagen, kann unmöglich jede einzelne genau geprüft werden. Beschönigendes Überfirnissen der Kritiken durch den Redakteur, der keinen An¬ stoß erregen will, oder auch glaubt, er verstehe die Sache besser, weil er am Nedaktionstische sitzt, ist ihm ein Greuel, ebenso die „Unsitte der Nachtkritikeu, diese ärgste Pein. Wie leicht thut man da, müde und aufgeregt, jemandem Unrecht!" Das Wichtigste, was Hanslick über seinen kritischen Beruf zu sagen hat, kleidet er in die Form eines Gesprächs mit Billroth. Die beiden Freunde sind dabei fein und treffend charalterisirt. Billroth stellt seine Fragen so, daß Hanslick nicht umhin kann, ihm seine innersten Ansichten und Empfindungen zu erschließen. Hanslick ist weit entfernt, sich vor der Rückkehr nach Wien und vor dem Ansturm von Opern und Konzerten zu fürchten. Wenn ihm auch die Leichtig¬ keit des Produzirens abhanden gekommen ist, so hat er doch noch die frische Empfänglichkeit wie früher. Warum sollte er auch seiner Thätigkeit nicht mit Freuden entgegensehen? Sie hat neben manchen schlimmen auch ihre guten Seiten. In erster Linie genießt der Kritiker vor dem auf eigne Erfindung angewiesenen Dichter den Vorteil, daß ihm fortwährend neuer Stoff zuströmt. Der Zwang, so viel Mittelmäßiges und gänzlich Wertloses mit in den Kauf zu nehmen, ist sicher unangenehm, aber man ist eben nicht nur Kritiker, sondern auch Mensch: „Nein aus Mitleid opfert man unersetzliche Abende, erduldet zum tausendstenmal dieselben Rhapsodien von Liszt, Nocturnes von Chopin, Phantasien von Wieniawsky, lediglich weil die »Virtuosin« mit ihrer Kunst eine Schwester oder Mutter erhält." Deu Einfluß des Kritikers auf die Künstler hält Hanslick für mehr als zweifelhaft. Er selbst hat den Grundsatz, nur zum Publikum, nie zum Künstler zu sprechen, der ja meist nur das Lob für be¬ gründet hält. Aber auch dein Publikum gegenüber ist die Kritik von that¬ sächlichem Einfluß nur dann, „wenn sie — kurz gesagt — Recht hat. Das Publikum läßt sich nichts weis machen. Es folgt seinen eignen Eindrücken, und diese sind meistens — nicht immer — richtig." Am kräftigsten vermag die Kritik da einzugreifen, wo das Publikum einer neuen Erscheinung gegen¬ über das Nichtige zwar ahnt, aber seines Urteils doch nicht sicher genug ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/332>, abgerufen am 26.08.2024.