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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen weltpolitik

abgelehnt. Dann folgten Jahrzehnte ruhiger Entwicklung, bis mit den ersten
Goldfunden in Viktoria (1851) die Periode der Goldüberschwemmung kam,
in der wir, trotz der immer wiederkehrenden Geldkrisen, noch heute stehen.
Die junge Pflanzung werdender Staaten wurde durch die massenhafte Zufuhr
von Geld -- Australien hat der Welt über sechs Milliarden Reichsmark Gold
in vier Jahren gegeben und dazu eine Staatsschuld von vier Milliarden zu¬
sammengeborgt -- in einen Zustand versetzt, für den nur die englische Sprache
einen Ausdruck hat: Ovöroaxitiüiög.lion. Es ist wie Überfütterung oder Über¬
düngung. Ein für dies Jugendalter viel zu rasches Wachstum mit frühreifer
Entwicklung und Störungen der Organe, die erst einem höhern Alter zu dienen
haben, ist die ungesunde Folge. Ein weites Land, wo Raum für jeden sein
sollte und ein Proletariat, das nicht einmal ein Wellenblechdach zum Schlaf
hat; die Möglichkeit der Freiheit, bürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichheit
und die Wirklichkeit fast aller Formen von Sklaverei, die möglich sind; endlich
die schönsten Anfänge des Großgrundbesitzer- und Großkapitalistentums. Der
äußerlichste, aber sehr bezeichnende Ausdruck dieses vergeltenden Wachstums
sind die vielbewunderten Großstädte Australiens: Melbourne '/z Million,
Sydney 383000, Adelaide 133000, Brisbane 96000. In den Hauptstädten
der Kolonien, wo soviel Raum zur Zerstreuung über das Land hin ist, wohnen
ungefähr 28 Prozent der ganzen Bevölkerung. Da steht London mit seinen
4,2 Millionen verhältnismäßig klein der neunmal so großen Bevölkerung des
Vereinigten Königreichs gegenüber.

Hier liegt die Ursache der großen Aufstände, die mit dem Gold und
der Wolle am meisten beigetragen haben, Australien der Aufmerksamkeit der
Europäer nahe zu bringen. Das bezeichnendste an ihnen ist, daß gerade
die größten von ihnen nicht über Lohnfragen -- den Achtstundentag hat
Viktoria durch Parlameutsbeschluß --, sondern über Orgcmisatiousfragen
ausgebrochen sind. Der große Aufstand von 1890 entstand bei den Woll-
scherern im Innern, die sich weigerten, Arbeiter aufzunehmen, die keinem
Gewerkverein angehörten. Daß es keine sozialistische Partei in Australien
gebe, ist eine ganz äußerliche Behauptung. Europäer lassen sich durch das
ruhige, anständige, loyale Betragen der englischen Arbeiter täuschen, die so
praktisch sind, nicht gleich die äußersten Forderungen zu stellen. Was aber
die Mewerkvereine immer wieder zu ihren Mobilmachungen gegen die Ar¬
beitgebervereinigungen getrieben hat und treiben wird, ist doch nichts andres
als der Kapitalismus, der wahrhaft tropische Ausdehnungen annimmt. Alle
Kolonialwirtschaft geht ins Große, ins Weite; sie hat ja einen scheinbar un¬
absehbaren Raum und eine Fülle unentwickelter Hilfsquellen vor sich. Daher
breitet sie sich rasch aus, wählt die besten Gelegenheiten: Goldfelder, Silber¬
bergwerke, das beste Ackerland, die schönsten Wälder, und bevorzugt die Wirt¬
schaftszweige, die auf weitem Raum im großen Stile gedeihen. Daher der


Zur Kenntnis der englischen weltpolitik

abgelehnt. Dann folgten Jahrzehnte ruhiger Entwicklung, bis mit den ersten
Goldfunden in Viktoria (1851) die Periode der Goldüberschwemmung kam,
in der wir, trotz der immer wiederkehrenden Geldkrisen, noch heute stehen.
Die junge Pflanzung werdender Staaten wurde durch die massenhafte Zufuhr
von Geld — Australien hat der Welt über sechs Milliarden Reichsmark Gold
in vier Jahren gegeben und dazu eine Staatsschuld von vier Milliarden zu¬
sammengeborgt — in einen Zustand versetzt, für den nur die englische Sprache
einen Ausdruck hat: Ovöroaxitiüiög.lion. Es ist wie Überfütterung oder Über¬
düngung. Ein für dies Jugendalter viel zu rasches Wachstum mit frühreifer
Entwicklung und Störungen der Organe, die erst einem höhern Alter zu dienen
haben, ist die ungesunde Folge. Ein weites Land, wo Raum für jeden sein
sollte und ein Proletariat, das nicht einmal ein Wellenblechdach zum Schlaf
hat; die Möglichkeit der Freiheit, bürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichheit
und die Wirklichkeit fast aller Formen von Sklaverei, die möglich sind; endlich
die schönsten Anfänge des Großgrundbesitzer- und Großkapitalistentums. Der
äußerlichste, aber sehr bezeichnende Ausdruck dieses vergeltenden Wachstums
sind die vielbewunderten Großstädte Australiens: Melbourne '/z Million,
Sydney 383000, Adelaide 133000, Brisbane 96000. In den Hauptstädten
der Kolonien, wo soviel Raum zur Zerstreuung über das Land hin ist, wohnen
ungefähr 28 Prozent der ganzen Bevölkerung. Da steht London mit seinen
4,2 Millionen verhältnismäßig klein der neunmal so großen Bevölkerung des
Vereinigten Königreichs gegenüber.

Hier liegt die Ursache der großen Aufstände, die mit dem Gold und
der Wolle am meisten beigetragen haben, Australien der Aufmerksamkeit der
Europäer nahe zu bringen. Das bezeichnendste an ihnen ist, daß gerade
die größten von ihnen nicht über Lohnfragen — den Achtstundentag hat
Viktoria durch Parlameutsbeschluß —, sondern über Orgcmisatiousfragen
ausgebrochen sind. Der große Aufstand von 1890 entstand bei den Woll-
scherern im Innern, die sich weigerten, Arbeiter aufzunehmen, die keinem
Gewerkverein angehörten. Daß es keine sozialistische Partei in Australien
gebe, ist eine ganz äußerliche Behauptung. Europäer lassen sich durch das
ruhige, anständige, loyale Betragen der englischen Arbeiter täuschen, die so
praktisch sind, nicht gleich die äußersten Forderungen zu stellen. Was aber
die Mewerkvereine immer wieder zu ihren Mobilmachungen gegen die Ar¬
beitgebervereinigungen getrieben hat und treiben wird, ist doch nichts andres
als der Kapitalismus, der wahrhaft tropische Ausdehnungen annimmt. Alle
Kolonialwirtschaft geht ins Große, ins Weite; sie hat ja einen scheinbar un¬
absehbaren Raum und eine Fülle unentwickelter Hilfsquellen vor sich. Daher
breitet sie sich rasch aus, wählt die besten Gelegenheiten: Goldfelder, Silber¬
bergwerke, das beste Ackerland, die schönsten Wälder, und bevorzugt die Wirt¬
schaftszweige, die auf weitem Raum im großen Stile gedeihen. Daher der


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[0320] Zur Kenntnis der englischen weltpolitik abgelehnt. Dann folgten Jahrzehnte ruhiger Entwicklung, bis mit den ersten Goldfunden in Viktoria (1851) die Periode der Goldüberschwemmung kam, in der wir, trotz der immer wiederkehrenden Geldkrisen, noch heute stehen. Die junge Pflanzung werdender Staaten wurde durch die massenhafte Zufuhr von Geld — Australien hat der Welt über sechs Milliarden Reichsmark Gold in vier Jahren gegeben und dazu eine Staatsschuld von vier Milliarden zu¬ sammengeborgt — in einen Zustand versetzt, für den nur die englische Sprache einen Ausdruck hat: Ovöroaxitiüiög.lion. Es ist wie Überfütterung oder Über¬ düngung. Ein für dies Jugendalter viel zu rasches Wachstum mit frühreifer Entwicklung und Störungen der Organe, die erst einem höhern Alter zu dienen haben, ist die ungesunde Folge. Ein weites Land, wo Raum für jeden sein sollte und ein Proletariat, das nicht einmal ein Wellenblechdach zum Schlaf hat; die Möglichkeit der Freiheit, bürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichheit und die Wirklichkeit fast aller Formen von Sklaverei, die möglich sind; endlich die schönsten Anfänge des Großgrundbesitzer- und Großkapitalistentums. Der äußerlichste, aber sehr bezeichnende Ausdruck dieses vergeltenden Wachstums sind die vielbewunderten Großstädte Australiens: Melbourne '/z Million, Sydney 383000, Adelaide 133000, Brisbane 96000. In den Hauptstädten der Kolonien, wo soviel Raum zur Zerstreuung über das Land hin ist, wohnen ungefähr 28 Prozent der ganzen Bevölkerung. Da steht London mit seinen 4,2 Millionen verhältnismäßig klein der neunmal so großen Bevölkerung des Vereinigten Königreichs gegenüber. Hier liegt die Ursache der großen Aufstände, die mit dem Gold und der Wolle am meisten beigetragen haben, Australien der Aufmerksamkeit der Europäer nahe zu bringen. Das bezeichnendste an ihnen ist, daß gerade die größten von ihnen nicht über Lohnfragen — den Achtstundentag hat Viktoria durch Parlameutsbeschluß —, sondern über Orgcmisatiousfragen ausgebrochen sind. Der große Aufstand von 1890 entstand bei den Woll- scherern im Innern, die sich weigerten, Arbeiter aufzunehmen, die keinem Gewerkverein angehörten. Daß es keine sozialistische Partei in Australien gebe, ist eine ganz äußerliche Behauptung. Europäer lassen sich durch das ruhige, anständige, loyale Betragen der englischen Arbeiter täuschen, die so praktisch sind, nicht gleich die äußersten Forderungen zu stellen. Was aber die Mewerkvereine immer wieder zu ihren Mobilmachungen gegen die Ar¬ beitgebervereinigungen getrieben hat und treiben wird, ist doch nichts andres als der Kapitalismus, der wahrhaft tropische Ausdehnungen annimmt. Alle Kolonialwirtschaft geht ins Große, ins Weite; sie hat ja einen scheinbar un¬ absehbaren Raum und eine Fülle unentwickelter Hilfsquellen vor sich. Daher breitet sie sich rasch aus, wählt die besten Gelegenheiten: Goldfelder, Silber¬ bergwerke, das beste Ackerland, die schönsten Wälder, und bevorzugt die Wirt¬ schaftszweige, die auf weitem Raum im großen Stile gedeihen. Daher der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/320>, abgerufen am 25.08.2024.