Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geisteskrankheiten im Heere

von Knochenwucherungen, die sich an Schädelverletzungen angeschlossen hatten,
oder von Knochensplittern, die von der innern Schädelplatte abgesprungen
waren. Oder es handelte sich um Blutergüsse, um Hirnhautentzündungen, um
das Eindringen von Geschoßteilen ins Schädelinnere. Hirnverletzungen er¬
zeugten manchmal erst spät nach der Verwundung epileptische Anfalle. Mit¬
unter kamen sie dadurch zu stände, daß äußere Einflüsse einen Reiz auf eine
alte Narbe ausübten; die unregelmäßig geformten Narben von Schußverletzungen
des Kopfes sollen hier besonders gefährlich sein. Gelegentlich war auch irgend
eine Narbe, die sich gar nicht am Kopf, sondern an irgend einer andern Stelle
des Körpers befand, die Ursache des epileptischen Irreseins; dies gilt nament¬
lich von Narben an Nerven. Nach dem amtlichen Sanitätsbericht über den
letzten Feldzug wurden aber auch im Anschluß an innere Krankheiten epilep¬
tische Zustände beobachtet, und zwar nach Ruhr, Typhus, Pocken und nach
syphilitischen Hirnveränderungen. Allgemein anerkannt als Ursache der Krank¬
heit ist der Alkoholmißbrauch. Auch ein heftiger Schreck hat nach den An¬
gaben französischer Irrenärzte oft den ersten Anfall erzeugt, und zwar handelte
es sich gewöhnlich um plötzliche Erregung des Gehörs- oder Gesichtsnerven
durch Krachen der Gewehre, Zerspringen von Granaten, plötzliche Lichterschei-
nungen n. dergl. nervöse Personen sind derartigen Einflüssen gegenüber natür¬
lich widerstandsunfähiger als gesunde. Endlich sind die Aufregung der Schlachten,
körperliche Überanstrengungen, ja sogar Entbehrungen und die Unbilden der
Witterung verantwortlich gemacht worden. Namentlich bei der letzten Gruppe
ist es möglich, daß die Betreffenden vielleicht schon jahrelang vor ihrer Aus¬
hebung zum Militär unbemerkt epileptisch waren, oder daß wenigstens die An¬
lage zur Epilepsie schon lange in ihnen schlummerte.

Das epileptische Irresein zeigt sich in sehr verschiedner Weise. Leicht zu
erkennen ist die Art geistiger Störungen, die mit den bekannten Krampfanfällen
verbunden ist. Das Irresein geht hier diesen Krampfanfällen voraus oder
schließt sich ihnen unmittelbar an und besteht in Bewußtseinsstörungen, die
oft mit Sinnestäuschungen verbunden sind. Ganz ähnliche "Dämmerzustände"
stellen sich auch periodisch ein, ohne daß es zu Krampfanfällen kommt. Häufiger
verkannt werden solche Anfülle von Epileptikern, bei denen zusammenhängende
Reden und scheinbar geplante Handlungen infolge einer geringern Trübung
des Bewußtseins möglich sind. Die Kranken sind bei diesen Anfällen aus
Minuten, Stunden oder Tage verstimmt, empfindlich und ungemein reizbar,
lassen sich leicht zu gewaltsamen Handlungen fortreißen, widersprechen wo¬
möglich vor der Front, sind ungehorsam gegen ihre Vorgesetzten, benehmen
sich im höchsten Grade rücksichtslos gegen ihre Untergebnen. Sie legen Feuer
an, suchen sich und andre umzubringen, verlassen plötzlich ihren Posten, machen
eine Reise, ohne um Urlaub zu fragen n. a. in. Solche und andre Anfälle
kehren ohne oder mit Anlaß meist in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder.


Die Geisteskrankheiten im Heere

von Knochenwucherungen, die sich an Schädelverletzungen angeschlossen hatten,
oder von Knochensplittern, die von der innern Schädelplatte abgesprungen
waren. Oder es handelte sich um Blutergüsse, um Hirnhautentzündungen, um
das Eindringen von Geschoßteilen ins Schädelinnere. Hirnverletzungen er¬
zeugten manchmal erst spät nach der Verwundung epileptische Anfalle. Mit¬
unter kamen sie dadurch zu stände, daß äußere Einflüsse einen Reiz auf eine
alte Narbe ausübten; die unregelmäßig geformten Narben von Schußverletzungen
des Kopfes sollen hier besonders gefährlich sein. Gelegentlich war auch irgend
eine Narbe, die sich gar nicht am Kopf, sondern an irgend einer andern Stelle
des Körpers befand, die Ursache des epileptischen Irreseins; dies gilt nament¬
lich von Narben an Nerven. Nach dem amtlichen Sanitätsbericht über den
letzten Feldzug wurden aber auch im Anschluß an innere Krankheiten epilep¬
tische Zustände beobachtet, und zwar nach Ruhr, Typhus, Pocken und nach
syphilitischen Hirnveränderungen. Allgemein anerkannt als Ursache der Krank¬
heit ist der Alkoholmißbrauch. Auch ein heftiger Schreck hat nach den An¬
gaben französischer Irrenärzte oft den ersten Anfall erzeugt, und zwar handelte
es sich gewöhnlich um plötzliche Erregung des Gehörs- oder Gesichtsnerven
durch Krachen der Gewehre, Zerspringen von Granaten, plötzliche Lichterschei-
nungen n. dergl. nervöse Personen sind derartigen Einflüssen gegenüber natür¬
lich widerstandsunfähiger als gesunde. Endlich sind die Aufregung der Schlachten,
körperliche Überanstrengungen, ja sogar Entbehrungen und die Unbilden der
Witterung verantwortlich gemacht worden. Namentlich bei der letzten Gruppe
ist es möglich, daß die Betreffenden vielleicht schon jahrelang vor ihrer Aus¬
hebung zum Militär unbemerkt epileptisch waren, oder daß wenigstens die An¬
lage zur Epilepsie schon lange in ihnen schlummerte.

Das epileptische Irresein zeigt sich in sehr verschiedner Weise. Leicht zu
erkennen ist die Art geistiger Störungen, die mit den bekannten Krampfanfällen
verbunden ist. Das Irresein geht hier diesen Krampfanfällen voraus oder
schließt sich ihnen unmittelbar an und besteht in Bewußtseinsstörungen, die
oft mit Sinnestäuschungen verbunden sind. Ganz ähnliche „Dämmerzustände"
stellen sich auch periodisch ein, ohne daß es zu Krampfanfällen kommt. Häufiger
verkannt werden solche Anfülle von Epileptikern, bei denen zusammenhängende
Reden und scheinbar geplante Handlungen infolge einer geringern Trübung
des Bewußtseins möglich sind. Die Kranken sind bei diesen Anfällen aus
Minuten, Stunden oder Tage verstimmt, empfindlich und ungemein reizbar,
lassen sich leicht zu gewaltsamen Handlungen fortreißen, widersprechen wo¬
möglich vor der Front, sind ungehorsam gegen ihre Vorgesetzten, benehmen
sich im höchsten Grade rücksichtslos gegen ihre Untergebnen. Sie legen Feuer
an, suchen sich und andre umzubringen, verlassen plötzlich ihren Posten, machen
eine Reise, ohne um Urlaub zu fragen n. a. in. Solche und andre Anfälle
kehren ohne oder mit Anlaß meist in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219953"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Geisteskrankheiten im Heere</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_974" prev="#ID_973"> von Knochenwucherungen, die sich an Schädelverletzungen angeschlossen hatten,<lb/>
oder von Knochensplittern, die von der innern Schädelplatte abgesprungen<lb/>
waren. Oder es handelte sich um Blutergüsse, um Hirnhautentzündungen, um<lb/>
das Eindringen von Geschoßteilen ins Schädelinnere. Hirnverletzungen er¬<lb/>
zeugten manchmal erst spät nach der Verwundung epileptische Anfalle. Mit¬<lb/>
unter kamen sie dadurch zu stände, daß äußere Einflüsse einen Reiz auf eine<lb/>
alte Narbe ausübten; die unregelmäßig geformten Narben von Schußverletzungen<lb/>
des Kopfes sollen hier besonders gefährlich sein. Gelegentlich war auch irgend<lb/>
eine Narbe, die sich gar nicht am Kopf, sondern an irgend einer andern Stelle<lb/>
des Körpers befand, die Ursache des epileptischen Irreseins; dies gilt nament¬<lb/>
lich von Narben an Nerven. Nach dem amtlichen Sanitätsbericht über den<lb/>
letzten Feldzug wurden aber auch im Anschluß an innere Krankheiten epilep¬<lb/>
tische Zustände beobachtet, und zwar nach Ruhr, Typhus, Pocken und nach<lb/>
syphilitischen Hirnveränderungen. Allgemein anerkannt als Ursache der Krank¬<lb/>
heit ist der Alkoholmißbrauch. Auch ein heftiger Schreck hat nach den An¬<lb/>
gaben französischer Irrenärzte oft den ersten Anfall erzeugt, und zwar handelte<lb/>
es sich gewöhnlich um plötzliche Erregung des Gehörs- oder Gesichtsnerven<lb/>
durch Krachen der Gewehre, Zerspringen von Granaten, plötzliche Lichterschei-<lb/>
nungen n. dergl. nervöse Personen sind derartigen Einflüssen gegenüber natür¬<lb/>
lich widerstandsunfähiger als gesunde. Endlich sind die Aufregung der Schlachten,<lb/>
körperliche Überanstrengungen, ja sogar Entbehrungen und die Unbilden der<lb/>
Witterung verantwortlich gemacht worden. Namentlich bei der letzten Gruppe<lb/>
ist es möglich, daß die Betreffenden vielleicht schon jahrelang vor ihrer Aus¬<lb/>
hebung zum Militär unbemerkt epileptisch waren, oder daß wenigstens die An¬<lb/>
lage zur Epilepsie schon lange in ihnen schlummerte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_975" next="#ID_976"> Das epileptische Irresein zeigt sich in sehr verschiedner Weise. Leicht zu<lb/>
erkennen ist die Art geistiger Störungen, die mit den bekannten Krampfanfällen<lb/>
verbunden ist. Das Irresein geht hier diesen Krampfanfällen voraus oder<lb/>
schließt sich ihnen unmittelbar an und besteht in Bewußtseinsstörungen, die<lb/>
oft mit Sinnestäuschungen verbunden sind. Ganz ähnliche &#x201E;Dämmerzustände"<lb/>
stellen sich auch periodisch ein, ohne daß es zu Krampfanfällen kommt. Häufiger<lb/>
verkannt werden solche Anfülle von Epileptikern, bei denen zusammenhängende<lb/>
Reden und scheinbar geplante Handlungen infolge einer geringern Trübung<lb/>
des Bewußtseins möglich sind. Die Kranken sind bei diesen Anfällen aus<lb/>
Minuten, Stunden oder Tage verstimmt, empfindlich und ungemein reizbar,<lb/>
lassen sich leicht zu gewaltsamen Handlungen fortreißen, widersprechen wo¬<lb/>
möglich vor der Front, sind ungehorsam gegen ihre Vorgesetzten, benehmen<lb/>
sich im höchsten Grade rücksichtslos gegen ihre Untergebnen. Sie legen Feuer<lb/>
an, suchen sich und andre umzubringen, verlassen plötzlich ihren Posten, machen<lb/>
eine Reise, ohne um Urlaub zu fragen n. a. in. Solche und andre Anfälle<lb/>
kehren ohne oder mit Anlaß meist in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Die Geisteskrankheiten im Heere von Knochenwucherungen, die sich an Schädelverletzungen angeschlossen hatten, oder von Knochensplittern, die von der innern Schädelplatte abgesprungen waren. Oder es handelte sich um Blutergüsse, um Hirnhautentzündungen, um das Eindringen von Geschoßteilen ins Schädelinnere. Hirnverletzungen er¬ zeugten manchmal erst spät nach der Verwundung epileptische Anfalle. Mit¬ unter kamen sie dadurch zu stände, daß äußere Einflüsse einen Reiz auf eine alte Narbe ausübten; die unregelmäßig geformten Narben von Schußverletzungen des Kopfes sollen hier besonders gefährlich sein. Gelegentlich war auch irgend eine Narbe, die sich gar nicht am Kopf, sondern an irgend einer andern Stelle des Körpers befand, die Ursache des epileptischen Irreseins; dies gilt nament¬ lich von Narben an Nerven. Nach dem amtlichen Sanitätsbericht über den letzten Feldzug wurden aber auch im Anschluß an innere Krankheiten epilep¬ tische Zustände beobachtet, und zwar nach Ruhr, Typhus, Pocken und nach syphilitischen Hirnveränderungen. Allgemein anerkannt als Ursache der Krank¬ heit ist der Alkoholmißbrauch. Auch ein heftiger Schreck hat nach den An¬ gaben französischer Irrenärzte oft den ersten Anfall erzeugt, und zwar handelte es sich gewöhnlich um plötzliche Erregung des Gehörs- oder Gesichtsnerven durch Krachen der Gewehre, Zerspringen von Granaten, plötzliche Lichterschei- nungen n. dergl. nervöse Personen sind derartigen Einflüssen gegenüber natür¬ lich widerstandsunfähiger als gesunde. Endlich sind die Aufregung der Schlachten, körperliche Überanstrengungen, ja sogar Entbehrungen und die Unbilden der Witterung verantwortlich gemacht worden. Namentlich bei der letzten Gruppe ist es möglich, daß die Betreffenden vielleicht schon jahrelang vor ihrer Aus¬ hebung zum Militär unbemerkt epileptisch waren, oder daß wenigstens die An¬ lage zur Epilepsie schon lange in ihnen schlummerte. Das epileptische Irresein zeigt sich in sehr verschiedner Weise. Leicht zu erkennen ist die Art geistiger Störungen, die mit den bekannten Krampfanfällen verbunden ist. Das Irresein geht hier diesen Krampfanfällen voraus oder schließt sich ihnen unmittelbar an und besteht in Bewußtseinsstörungen, die oft mit Sinnestäuschungen verbunden sind. Ganz ähnliche „Dämmerzustände" stellen sich auch periodisch ein, ohne daß es zu Krampfanfällen kommt. Häufiger verkannt werden solche Anfülle von Epileptikern, bei denen zusammenhängende Reden und scheinbar geplante Handlungen infolge einer geringern Trübung des Bewußtseins möglich sind. Die Kranken sind bei diesen Anfällen aus Minuten, Stunden oder Tage verstimmt, empfindlich und ungemein reizbar, lassen sich leicht zu gewaltsamen Handlungen fortreißen, widersprechen wo¬ möglich vor der Front, sind ungehorsam gegen ihre Vorgesetzten, benehmen sich im höchsten Grade rücksichtslos gegen ihre Untergebnen. Sie legen Feuer an, suchen sich und andre umzubringen, verlassen plötzlich ihren Posten, machen eine Reise, ohne um Urlaub zu fragen n. a. in. Solche und andre Anfälle kehren ohne oder mit Anlaß meist in unregelmäßigen Zwischenräumen wieder.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/277>, abgerufen am 26.08.2024.