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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Geisteskrankheiten im Heere

Oft gleicht ein Anfall genau dem andern, übrigens zeigen sich die Anfälle
oft auch in der Form, daß die Kranken den unbezwingbaren Drang haben,
zu trinken. Sie sind zunächst nur schwer verstimmt und geängstigt. Diese
Verstimmung wollen sie, einem dunkeln Drange folgend, durch Bier oder
Schnaps beseitigen. Der Alkohol ist aber, wie auch sonst, gerade im Anfall
für sie ein äußerst gefährliches Gift. Kaum beginnt seine Wirkung, so kommt
es zu den größten Erregungen, zu Sinnestäuschungen, zu gewaltthätigen
Handlungen. Viele sogenannte Quartalsäufer leiden an dieser Form der
Epilepsie.

Das epileptische Irresein kommt im Frieden wie im Kriege sehr häufig
vor. Die verbreitete Meinung, daß das wesentliche dabei eine tiefe, mit voll¬
ständigem Mangel an Erinnerung verknüpfte Bewußtseinsstörung sei, entspricht
nicht immer den Thatsachen. Kurz nach dem Anfall besinnen sich die Kranken
oft ziemlich gut auf das, was sie unter dem Zwange der Krankheit angestellt
haben. Oft schwindet freilich später die Erinnerung wie bei den Erlebnissen
im Traum. Daß die Angaben über die Erinnerung zu verschiednen Zeiten
widersprechen, hatte nicht selten zu der irrtümlichen Annahme von Simulation
geführt. Die durch äußere Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen an
Epilepsie sind manchmal auf operativen Wege heilbar. Im allgemeinen ist
aber das epileptische Irresein als ein unheilbares, früher oder später zu
geistiger Schwäche führendes Leiden zu bezeichnen.

Von einzelnen Ärzten wird der Einfluß bedeutender klimatischer Verände¬
rungen auf die Entwicklung von Geisteskrankheiten im Kriege hervorgehoben.
Durchnüssungen und Erkältungen können wohl nur dadurch die Ursache vou
Seelenstörungen werden, daß sie die Entstehung vorausgehender innerer Krank¬
heiten begünstigen. Sonnenstich soll psychische Erkrankungen, z. B. solche an
fortschreitender Hirnlähmung zur Folge gehabt haben.

Endlich ist der körperlich und geistig aufreibende, entbehrungsreiche und
verantwortungsvolle Dienst auf Vorposten und bei der Belagerung fester
Plätze von vielen Seiten zur Erklärung von geistigen Erkrankungen heran¬
gezogen worden. Es ist auch recht gut zu verstehen, daß die übermäßige
Anspannung der Aufmerksamkeit, das Bewußtsein der überall und jederzeit
drohenden Gefahr, der mangelhafte Schlaf, die unregelmäßige Ernährung, die
Winterkälte und andres viele Soldaten der deutschen Armeen, die Paris ein¬
geschlossen hielten, im höchsten Grade nervös und reizbar gemacht hat. Viele
sind nach diesen ungeheuern Anstrengungen neurasthenisch und melancholisch
geworden, andre äußerten hypochondrische Ideen, noch andre wurden stumpf
und gleichgiltig. Manche alterten rasch nach dem Feldzug und sanken früh
ins Grab. Ein sehr erfahrner Offizier hat mir versichert, daß der Truppen¬
teil, der im Gefecht steht, wo alle Ereignisse schnell aufeinanderfolgen, wo
häufige Bewegungen stattfinden, gemütlich nicht so mitgenommen wird, wie


Die Geisteskrankheiten im Heere

Oft gleicht ein Anfall genau dem andern, übrigens zeigen sich die Anfälle
oft auch in der Form, daß die Kranken den unbezwingbaren Drang haben,
zu trinken. Sie sind zunächst nur schwer verstimmt und geängstigt. Diese
Verstimmung wollen sie, einem dunkeln Drange folgend, durch Bier oder
Schnaps beseitigen. Der Alkohol ist aber, wie auch sonst, gerade im Anfall
für sie ein äußerst gefährliches Gift. Kaum beginnt seine Wirkung, so kommt
es zu den größten Erregungen, zu Sinnestäuschungen, zu gewaltthätigen
Handlungen. Viele sogenannte Quartalsäufer leiden an dieser Form der
Epilepsie.

Das epileptische Irresein kommt im Frieden wie im Kriege sehr häufig
vor. Die verbreitete Meinung, daß das wesentliche dabei eine tiefe, mit voll¬
ständigem Mangel an Erinnerung verknüpfte Bewußtseinsstörung sei, entspricht
nicht immer den Thatsachen. Kurz nach dem Anfall besinnen sich die Kranken
oft ziemlich gut auf das, was sie unter dem Zwange der Krankheit angestellt
haben. Oft schwindet freilich später die Erinnerung wie bei den Erlebnissen
im Traum. Daß die Angaben über die Erinnerung zu verschiednen Zeiten
widersprechen, hatte nicht selten zu der irrtümlichen Annahme von Simulation
geführt. Die durch äußere Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen an
Epilepsie sind manchmal auf operativen Wege heilbar. Im allgemeinen ist
aber das epileptische Irresein als ein unheilbares, früher oder später zu
geistiger Schwäche führendes Leiden zu bezeichnen.

Von einzelnen Ärzten wird der Einfluß bedeutender klimatischer Verände¬
rungen auf die Entwicklung von Geisteskrankheiten im Kriege hervorgehoben.
Durchnüssungen und Erkältungen können wohl nur dadurch die Ursache vou
Seelenstörungen werden, daß sie die Entstehung vorausgehender innerer Krank¬
heiten begünstigen. Sonnenstich soll psychische Erkrankungen, z. B. solche an
fortschreitender Hirnlähmung zur Folge gehabt haben.

Endlich ist der körperlich und geistig aufreibende, entbehrungsreiche und
verantwortungsvolle Dienst auf Vorposten und bei der Belagerung fester
Plätze von vielen Seiten zur Erklärung von geistigen Erkrankungen heran¬
gezogen worden. Es ist auch recht gut zu verstehen, daß die übermäßige
Anspannung der Aufmerksamkeit, das Bewußtsein der überall und jederzeit
drohenden Gefahr, der mangelhafte Schlaf, die unregelmäßige Ernährung, die
Winterkälte und andres viele Soldaten der deutschen Armeen, die Paris ein¬
geschlossen hielten, im höchsten Grade nervös und reizbar gemacht hat. Viele
sind nach diesen ungeheuern Anstrengungen neurasthenisch und melancholisch
geworden, andre äußerten hypochondrische Ideen, noch andre wurden stumpf
und gleichgiltig. Manche alterten rasch nach dem Feldzug und sanken früh
ins Grab. Ein sehr erfahrner Offizier hat mir versichert, daß der Truppen¬
teil, der im Gefecht steht, wo alle Ereignisse schnell aufeinanderfolgen, wo
häufige Bewegungen stattfinden, gemütlich nicht so mitgenommen wird, wie


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[0278] Die Geisteskrankheiten im Heere Oft gleicht ein Anfall genau dem andern, übrigens zeigen sich die Anfälle oft auch in der Form, daß die Kranken den unbezwingbaren Drang haben, zu trinken. Sie sind zunächst nur schwer verstimmt und geängstigt. Diese Verstimmung wollen sie, einem dunkeln Drange folgend, durch Bier oder Schnaps beseitigen. Der Alkohol ist aber, wie auch sonst, gerade im Anfall für sie ein äußerst gefährliches Gift. Kaum beginnt seine Wirkung, so kommt es zu den größten Erregungen, zu Sinnestäuschungen, zu gewaltthätigen Handlungen. Viele sogenannte Quartalsäufer leiden an dieser Form der Epilepsie. Das epileptische Irresein kommt im Frieden wie im Kriege sehr häufig vor. Die verbreitete Meinung, daß das wesentliche dabei eine tiefe, mit voll¬ ständigem Mangel an Erinnerung verknüpfte Bewußtseinsstörung sei, entspricht nicht immer den Thatsachen. Kurz nach dem Anfall besinnen sich die Kranken oft ziemlich gut auf das, was sie unter dem Zwange der Krankheit angestellt haben. Oft schwindet freilich später die Erinnerung wie bei den Erlebnissen im Traum. Daß die Angaben über die Erinnerung zu verschiednen Zeiten widersprechen, hatte nicht selten zu der irrtümlichen Annahme von Simulation geführt. Die durch äußere Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen an Epilepsie sind manchmal auf operativen Wege heilbar. Im allgemeinen ist aber das epileptische Irresein als ein unheilbares, früher oder später zu geistiger Schwäche führendes Leiden zu bezeichnen. Von einzelnen Ärzten wird der Einfluß bedeutender klimatischer Verände¬ rungen auf die Entwicklung von Geisteskrankheiten im Kriege hervorgehoben. Durchnüssungen und Erkältungen können wohl nur dadurch die Ursache vou Seelenstörungen werden, daß sie die Entstehung vorausgehender innerer Krank¬ heiten begünstigen. Sonnenstich soll psychische Erkrankungen, z. B. solche an fortschreitender Hirnlähmung zur Folge gehabt haben. Endlich ist der körperlich und geistig aufreibende, entbehrungsreiche und verantwortungsvolle Dienst auf Vorposten und bei der Belagerung fester Plätze von vielen Seiten zur Erklärung von geistigen Erkrankungen heran¬ gezogen worden. Es ist auch recht gut zu verstehen, daß die übermäßige Anspannung der Aufmerksamkeit, das Bewußtsein der überall und jederzeit drohenden Gefahr, der mangelhafte Schlaf, die unregelmäßige Ernährung, die Winterkälte und andres viele Soldaten der deutschen Armeen, die Paris ein¬ geschlossen hielten, im höchsten Grade nervös und reizbar gemacht hat. Viele sind nach diesen ungeheuern Anstrengungen neurasthenisch und melancholisch geworden, andre äußerten hypochondrische Ideen, noch andre wurden stumpf und gleichgiltig. Manche alterten rasch nach dem Feldzug und sanken früh ins Grab. Ein sehr erfahrner Offizier hat mir versichert, daß der Truppen¬ teil, der im Gefecht steht, wo alle Ereignisse schnell aufeinanderfolgen, wo häufige Bewegungen stattfinden, gemütlich nicht so mitgenommen wird, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/278>, abgerufen am 26.08.2024.