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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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T>le Geisteskrankheiten im Heere

Gesundheit gewirkt und zu ausgesprochen Seelenstörungen geführt. Natürlicher¬
weise werden erblich belastete, von Hause aus leicht erregbare oder sonst schwach
veranlagte Soldaten derartigen Einflüssen noch weniger Widerstand entgegen¬
setzen können, als solche aus gesunden Familien und mit rüstigem Gehirn.

Auch alle die vielfachen schmerzlichen Eindrücke, alle die Sorgen und
getäuschten Hoffnungen, die mit der Gefangenschaft im fremden Lande ver¬
bunden sind, können namentlich bei geschwächten und empfindsamen Personen
zu Gemütskrankheiten führen. Vieles Schädliche der Art läßt sich selbst¬
verständlich nicht.vermeiden. Vielleicht läßt sich aber doch manchmal auf eine
eigentümliche Erscheinung Rücksicht nehmen, die namentlich bei Mannschaften
aus bestimmten Volksstämmen auftritt, das krankhafte Heimweh. Das Heim¬
weh ist ein melancholischer Zustand. Die davon Befallenen sind tief ver¬
stimmt, schwer geängstigt, teilnahmlos gegen alle Vorgänge in ihrer Um¬
gebung. Sie sind vergeßlich und langsam, lassen sich oft trotz alles guten
Willens, trotz aller Mühe, die sie sich geben, Nachlässigkeiten im Dienst zu
schulden kommen und empfinden alle Vorwürfe außerordentlich bitter. Fahnen¬
flucht und Selbstmord in der Armee kommen sehr oft unter dem Einfluß
der als Heimweh bekannten Seelenstörung zu Stande. Man hat berechnet,
daß ein Drittel aller Selbstmorde beim Militär aus Heimweh begangen wird!
Auch ist bekannt, daß Kriegszeiten die meisten Erkrankungen ein Heimweh
liefern.*) Alle vom Heimweh befallenen Soldaten gehören durchaus in ärzt¬
liche Behandlung. Das Leiden muß wie jede andre Krankheit ausheilen; Ver¬
nunftgründe, strenge Worte, heitere Gesellschaft nützen wenig oder nichts.
Alles Hineinreden in den Kranken strengt ihn nur an und macht seinen be¬
mitleidenswerten Seelenzustand noch qualvoller.

Eine sehr wichtige geistige Krankheit, die der Krieg oft verschuldet, ist
das epileptische Irresein. Das Wesen der Epilepsie ist noch immer sehr dunkel,
obwohl sie schon dem alten Hippokrates bekannt war. Meist entdecken wir
auch mit unsern jetzigen Hilfsmitteln am Gehirn der Epileptiker nichts auf¬
fälliges. Das Leiden stellt sich oft ein, ohne daß ein besondrer Grund dafür
nachgewiesen werden kann. Andremale hängt es mit innern Erkrankungen im
Gehirn zusammen. Bei einer dritten Reihe von Fällen aber müssen äußere
Einflüsse für die Entwicklung der Epilepsie und des epileptischen Irreseins
verantwortlich gemacht werden. Nach dem letzten Feldzuge sind zahlreiche
epileptische Zustände beobachtet worden, und zwar nach recht verschiednen Ver¬
anlassungen. Viele Erkrankungen waren auf Schuß- oder Hiebwunden am
Kopfe zurückzuführen. Bald waren nur die Weichteile verletzt, bald war auch
der knöcherne Schädel beschädigt. Zuweilen wurde auch die Hirnrinde gereizt



*) Die erste Abhandlung über Heimweh stammt schon aus dem Jahre 1678; sie ist
von Harder und Hofer verfaßt und in Basel herausgegeben worden.
T>le Geisteskrankheiten im Heere

Gesundheit gewirkt und zu ausgesprochen Seelenstörungen geführt. Natürlicher¬
weise werden erblich belastete, von Hause aus leicht erregbare oder sonst schwach
veranlagte Soldaten derartigen Einflüssen noch weniger Widerstand entgegen¬
setzen können, als solche aus gesunden Familien und mit rüstigem Gehirn.

Auch alle die vielfachen schmerzlichen Eindrücke, alle die Sorgen und
getäuschten Hoffnungen, die mit der Gefangenschaft im fremden Lande ver¬
bunden sind, können namentlich bei geschwächten und empfindsamen Personen
zu Gemütskrankheiten führen. Vieles Schädliche der Art läßt sich selbst¬
verständlich nicht.vermeiden. Vielleicht läßt sich aber doch manchmal auf eine
eigentümliche Erscheinung Rücksicht nehmen, die namentlich bei Mannschaften
aus bestimmten Volksstämmen auftritt, das krankhafte Heimweh. Das Heim¬
weh ist ein melancholischer Zustand. Die davon Befallenen sind tief ver¬
stimmt, schwer geängstigt, teilnahmlos gegen alle Vorgänge in ihrer Um¬
gebung. Sie sind vergeßlich und langsam, lassen sich oft trotz alles guten
Willens, trotz aller Mühe, die sie sich geben, Nachlässigkeiten im Dienst zu
schulden kommen und empfinden alle Vorwürfe außerordentlich bitter. Fahnen¬
flucht und Selbstmord in der Armee kommen sehr oft unter dem Einfluß
der als Heimweh bekannten Seelenstörung zu Stande. Man hat berechnet,
daß ein Drittel aller Selbstmorde beim Militär aus Heimweh begangen wird!
Auch ist bekannt, daß Kriegszeiten die meisten Erkrankungen ein Heimweh
liefern.*) Alle vom Heimweh befallenen Soldaten gehören durchaus in ärzt¬
liche Behandlung. Das Leiden muß wie jede andre Krankheit ausheilen; Ver¬
nunftgründe, strenge Worte, heitere Gesellschaft nützen wenig oder nichts.
Alles Hineinreden in den Kranken strengt ihn nur an und macht seinen be¬
mitleidenswerten Seelenzustand noch qualvoller.

Eine sehr wichtige geistige Krankheit, die der Krieg oft verschuldet, ist
das epileptische Irresein. Das Wesen der Epilepsie ist noch immer sehr dunkel,
obwohl sie schon dem alten Hippokrates bekannt war. Meist entdecken wir
auch mit unsern jetzigen Hilfsmitteln am Gehirn der Epileptiker nichts auf¬
fälliges. Das Leiden stellt sich oft ein, ohne daß ein besondrer Grund dafür
nachgewiesen werden kann. Andremale hängt es mit innern Erkrankungen im
Gehirn zusammen. Bei einer dritten Reihe von Fällen aber müssen äußere
Einflüsse für die Entwicklung der Epilepsie und des epileptischen Irreseins
verantwortlich gemacht werden. Nach dem letzten Feldzuge sind zahlreiche
epileptische Zustände beobachtet worden, und zwar nach recht verschiednen Ver¬
anlassungen. Viele Erkrankungen waren auf Schuß- oder Hiebwunden am
Kopfe zurückzuführen. Bald waren nur die Weichteile verletzt, bald war auch
der knöcherne Schädel beschädigt. Zuweilen wurde auch die Hirnrinde gereizt



*) Die erste Abhandlung über Heimweh stammt schon aus dem Jahre 1678; sie ist
von Harder und Hofer verfaßt und in Basel herausgegeben worden.
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[0276] T>le Geisteskrankheiten im Heere Gesundheit gewirkt und zu ausgesprochen Seelenstörungen geführt. Natürlicher¬ weise werden erblich belastete, von Hause aus leicht erregbare oder sonst schwach veranlagte Soldaten derartigen Einflüssen noch weniger Widerstand entgegen¬ setzen können, als solche aus gesunden Familien und mit rüstigem Gehirn. Auch alle die vielfachen schmerzlichen Eindrücke, alle die Sorgen und getäuschten Hoffnungen, die mit der Gefangenschaft im fremden Lande ver¬ bunden sind, können namentlich bei geschwächten und empfindsamen Personen zu Gemütskrankheiten führen. Vieles Schädliche der Art läßt sich selbst¬ verständlich nicht.vermeiden. Vielleicht läßt sich aber doch manchmal auf eine eigentümliche Erscheinung Rücksicht nehmen, die namentlich bei Mannschaften aus bestimmten Volksstämmen auftritt, das krankhafte Heimweh. Das Heim¬ weh ist ein melancholischer Zustand. Die davon Befallenen sind tief ver¬ stimmt, schwer geängstigt, teilnahmlos gegen alle Vorgänge in ihrer Um¬ gebung. Sie sind vergeßlich und langsam, lassen sich oft trotz alles guten Willens, trotz aller Mühe, die sie sich geben, Nachlässigkeiten im Dienst zu schulden kommen und empfinden alle Vorwürfe außerordentlich bitter. Fahnen¬ flucht und Selbstmord in der Armee kommen sehr oft unter dem Einfluß der als Heimweh bekannten Seelenstörung zu Stande. Man hat berechnet, daß ein Drittel aller Selbstmorde beim Militär aus Heimweh begangen wird! Auch ist bekannt, daß Kriegszeiten die meisten Erkrankungen ein Heimweh liefern.*) Alle vom Heimweh befallenen Soldaten gehören durchaus in ärzt¬ liche Behandlung. Das Leiden muß wie jede andre Krankheit ausheilen; Ver¬ nunftgründe, strenge Worte, heitere Gesellschaft nützen wenig oder nichts. Alles Hineinreden in den Kranken strengt ihn nur an und macht seinen be¬ mitleidenswerten Seelenzustand noch qualvoller. Eine sehr wichtige geistige Krankheit, die der Krieg oft verschuldet, ist das epileptische Irresein. Das Wesen der Epilepsie ist noch immer sehr dunkel, obwohl sie schon dem alten Hippokrates bekannt war. Meist entdecken wir auch mit unsern jetzigen Hilfsmitteln am Gehirn der Epileptiker nichts auf¬ fälliges. Das Leiden stellt sich oft ein, ohne daß ein besondrer Grund dafür nachgewiesen werden kann. Andremale hängt es mit innern Erkrankungen im Gehirn zusammen. Bei einer dritten Reihe von Fällen aber müssen äußere Einflüsse für die Entwicklung der Epilepsie und des epileptischen Irreseins verantwortlich gemacht werden. Nach dem letzten Feldzuge sind zahlreiche epileptische Zustände beobachtet worden, und zwar nach recht verschiednen Ver¬ anlassungen. Viele Erkrankungen waren auf Schuß- oder Hiebwunden am Kopfe zurückzuführen. Bald waren nur die Weichteile verletzt, bald war auch der knöcherne Schädel beschädigt. Zuweilen wurde auch die Hirnrinde gereizt *) Die erste Abhandlung über Heimweh stammt schon aus dem Jahre 1678; sie ist von Harder und Hofer verfaßt und in Basel herausgegeben worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/276>, abgerufen am 27.08.2024.