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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Musikalisch eigentümlich hält sich der Tölpel Tonio, der nun erscheint
und Nedda für sich gewinnen will. Der Widerspruch zwischen dem. was er
vorstellen soll, und dem, was er in Wirklichkeit ist, tritt schon in seinem be¬
kannten Gesänge hervor: "Ich weiß wohl, ich bin dir im Grunde verächtlich."
Er steigert sich aber im Verlaufe der Szene immer mehr und erreicht seinen
natürlichen Höhepunkt mit der verzweifelten Wut nach der Züchtigung. Das
ist kein Tölpel, der hier wütet, sondern eine ernste, finstere Natur, in der ein
verzehrendes Feuer flammt, die sich aber noch nicht zu einem natürlichen und
gesunden Ausdruck durchzuarbeiten vermocht hat.

Silvios Erscheinen bringt das große und vielbewunderte Liebesduett, mit
dem wir uns rasch abfinden können, da es Leoncavallo von keiner neuen,
wohl aber von seiner ungünstigsten Seite zeigt. Anfangs kommt einiges leidliche
oder doch nicht ganz verfehlte; von dem Augenblick aber, wo Silvio anfängt,
von seiner traurigen Liebe zu reden, durchbrechen Sentimentalität und Wasch-
lappigkeit die Dämme und überschwemmen alles weit und breit mit ihrem
faden Gewässer. Die beiden verliebten Leute haben sich in der That gegenseitig
nichts vorzuwerfen, sie sind einander wert. Ein Glück, daß Canio, von Tonio
geführt, des Weges kommt und dein seichten Singsang ein Ende macht.

Die Behandlung der abschließenden Szene verrät dramatische Kraft und
Sinn für das Bühnenmäßige. Musikalisch finden sich wieder ausgesprochne
Gegensätze dicht beisammen. Erst in dem Liede des Bajazzo "Hull dich in Tand
nur" nimmt Leoncavallo seine ganze Kraft zusammen und schafft eine ernste,
wehmütige Elegie von südländischer Färbung und zwingender Gewalt der
Stimmung.

In dem Intermezzo, das den zweiten Akt einleitet, scheint sich Leoncavallo
die Aufgabe gestellt zu haben, noch einmal eine gedrängte Übersicht seiner
sämtlichen Fehler zu geben. Das kurze Kostsnuto assa-i ist manierirt in seinen
an den Haaren herbeigezognen Akkordfolgen, das Cantabile aber entpuppt
sich zu unserm Schrecken als jene sentimentale Phrase aus dem Prolog, die
das Herz des Gauklers so rührend zum Ausdruck bringt, und die hier nun
aufgedonnert und anspruchsvoll einen tiefernsten Eindruck hervorbringen möchte.
An eine Konkurrenz mit Mascagni ist also gar nicht zu denken. Doch hat das
schlechte Musikstück für Leoncavallo wenigstens die eine gute Bedeutung, daß
er darin bis auf weiteres alles Verderbte niederlegt, was seine musikalische
Phantasie noch beschwert.

Der Chor der wartenden Menge, der den zweiten Akt eröffnet, verdient
Anerkennung. Er ist in übersichtlichen Gruppen gearbeitet und steigert sich in
lebendigem Zuge. Etwas südliches trägt er aber noch weniger an sich als der
entsprechende Chor des ersten Aktes. Ein in seiner pompösen Breite humoristisch
wirkendes I^i'sso maestoso führt hinüber zu der Komödie der Colombine, auf
die stolz zu sein Leoncavallo wirklich Grund hat, denn es ist ihm geglückt,


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Musikalisch eigentümlich hält sich der Tölpel Tonio, der nun erscheint
und Nedda für sich gewinnen will. Der Widerspruch zwischen dem. was er
vorstellen soll, und dem, was er in Wirklichkeit ist, tritt schon in seinem be¬
kannten Gesänge hervor: „Ich weiß wohl, ich bin dir im Grunde verächtlich."
Er steigert sich aber im Verlaufe der Szene immer mehr und erreicht seinen
natürlichen Höhepunkt mit der verzweifelten Wut nach der Züchtigung. Das
ist kein Tölpel, der hier wütet, sondern eine ernste, finstere Natur, in der ein
verzehrendes Feuer flammt, die sich aber noch nicht zu einem natürlichen und
gesunden Ausdruck durchzuarbeiten vermocht hat.

Silvios Erscheinen bringt das große und vielbewunderte Liebesduett, mit
dem wir uns rasch abfinden können, da es Leoncavallo von keiner neuen,
wohl aber von seiner ungünstigsten Seite zeigt. Anfangs kommt einiges leidliche
oder doch nicht ganz verfehlte; von dem Augenblick aber, wo Silvio anfängt,
von seiner traurigen Liebe zu reden, durchbrechen Sentimentalität und Wasch-
lappigkeit die Dämme und überschwemmen alles weit und breit mit ihrem
faden Gewässer. Die beiden verliebten Leute haben sich in der That gegenseitig
nichts vorzuwerfen, sie sind einander wert. Ein Glück, daß Canio, von Tonio
geführt, des Weges kommt und dein seichten Singsang ein Ende macht.

Die Behandlung der abschließenden Szene verrät dramatische Kraft und
Sinn für das Bühnenmäßige. Musikalisch finden sich wieder ausgesprochne
Gegensätze dicht beisammen. Erst in dem Liede des Bajazzo „Hull dich in Tand
nur" nimmt Leoncavallo seine ganze Kraft zusammen und schafft eine ernste,
wehmütige Elegie von südländischer Färbung und zwingender Gewalt der
Stimmung.

In dem Intermezzo, das den zweiten Akt einleitet, scheint sich Leoncavallo
die Aufgabe gestellt zu haben, noch einmal eine gedrängte Übersicht seiner
sämtlichen Fehler zu geben. Das kurze Kostsnuto assa-i ist manierirt in seinen
an den Haaren herbeigezognen Akkordfolgen, das Cantabile aber entpuppt
sich zu unserm Schrecken als jene sentimentale Phrase aus dem Prolog, die
das Herz des Gauklers so rührend zum Ausdruck bringt, und die hier nun
aufgedonnert und anspruchsvoll einen tiefernsten Eindruck hervorbringen möchte.
An eine Konkurrenz mit Mascagni ist also gar nicht zu denken. Doch hat das
schlechte Musikstück für Leoncavallo wenigstens die eine gute Bedeutung, daß
er darin bis auf weiteres alles Verderbte niederlegt, was seine musikalische
Phantasie noch beschwert.

Der Chor der wartenden Menge, der den zweiten Akt eröffnet, verdient
Anerkennung. Er ist in übersichtlichen Gruppen gearbeitet und steigert sich in
lebendigem Zuge. Etwas südliches trägt er aber noch weniger an sich als der
entsprechende Chor des ersten Aktes. Ein in seiner pompösen Breite humoristisch
wirkendes I^i'sso maestoso führt hinüber zu der Komödie der Colombine, auf
die stolz zu sein Leoncavallo wirklich Grund hat, denn es ist ihm geglückt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/240>, abgerufen am 30.08.2024.