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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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bei' innerer Leere und verfüllt dadurch geradezu der Lächerlichkeit. Daß Leon¬
cavallo Mascagni in der Handhabung des Orchesters überlegen ist und feinern
Klängsinn hat. ändert daran nichts. Man kann also sagen, daß Leoncavallos
musikalische Natur, so wie sie sich im Bajazzo äußert, drei verschiedne Be¬
standteile aufweist: angeborne schöpferische Kraft, die aber auf ihren Höhe-
Punkten nicht gerade ein südliches Gepräge hat, sondern mehr deutschen Tra¬
ditionen folgt- weichliche Sentimentalität und Trivialität, die den geistigen
Nachkommen Verdis und Gounods charakterisirt; endlich jene Geschraubtheit,
in der man den Tribut zu erblicken hat, den jeder moderne Musiker von nicht
außergewöhnlicher Selbständigkeit den musikalischen Verirrungen der Gegenwart
zu zahlen verdammt ist. ^ '

Daß Leoncavallo in seinen guten Augenblicken nicht immer den Südländer
zeigt, beweist der große einleitende Chor, der in jeder Hinsicht ein gutes Musik¬
stück genannt werden kaun und jeder deutschen Oper zweiter oder dritter Güte
zur Ehre gereichen würde. (Ans unsern Bühnen wird die musikalische Wir¬
kung dieses Chors leider meist durch das Schreien und Pfeifen der sich rea¬
listisch geberdenden Volksmenge erstickt.) Zunächst bleibt, nun Leoncavallv
schlicht und natürlich. Scherz und Ernst werden mit einem Anfluge von
Ironie zu einem flüchtigen Bilde vereinigt, das durchaus nicht gewöhnlich ist:
Tonio steckt seine Ohrfeige ein, und zum erstenmale blitzt Carlos leidenschaft¬
liches Temperament leise auf. Der Anfang von Carlos Arioso "scherzet
immer, doch eines schont" zeigt Leoncavallo sogar von einer unerwartet neuen
Seite: hier ist wirklich Ernst und edler melodischer Fluß. Leider nur für ganz
kurze Zeit, denn schon nach acht Takten tritt ein merklicher Rückgang ein, und
wenn sich Canio schließlich zu drohender Große erheben soll, greift er zu jenem
Uns schon aus dem Prolog bekannten tragisch sein sollenden Gedanken, der durch
seine hilflose Geschraubtheit mehr zum Lächeln als zum Entsetzen anregt.

Der nach alter schlechter Operngewohnheit eingeschaltete Glockenchor ist
eintönig und könnte übergangen werden, wenn er nicht ganz zum Schluß eine
Überraschung brächte. Dem Chor sind schon die Worte ausgegangen, und er weiß
nur noch "Ah" zu sagen, da treten unvermutet Harmonien von bemerkens¬
werter Schönheit hervor. Es handelt sich zwar nur um vier sich wiederholende
Takte, aber diese vier Takte wiegen schwerer als der ganze vorhergehende Gesaug
und zeigen, daß es Leoncavallo nicht an Begabung, wohl aber an Konzen¬
tration und Selbstkritik fehlt.

Da Leoncavallo gerade in dem Fahrwasser alter schlechter Operngewohn¬
heiten führt, so läßt er seine Nedda gleich noch ein Lied an die Böglein singen,
dus sich zwar dadurch dramatisch zu motiviren sucht, daß es am Schluß auf
^en außergesctzlichen Liebhaber Bezug nimmt. Aber diese kurze Wendung
vermag weder das Unmotivirte der ganzen Szene noch die geradezu naive Seich-
tigkeit. der/ Musik vergessen zu machen. ' ,


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bei' innerer Leere und verfüllt dadurch geradezu der Lächerlichkeit. Daß Leon¬
cavallo Mascagni in der Handhabung des Orchesters überlegen ist und feinern
Klängsinn hat. ändert daran nichts. Man kann also sagen, daß Leoncavallos
musikalische Natur, so wie sie sich im Bajazzo äußert, drei verschiedne Be¬
standteile aufweist: angeborne schöpferische Kraft, die aber auf ihren Höhe-
Punkten nicht gerade ein südliches Gepräge hat, sondern mehr deutschen Tra¬
ditionen folgt- weichliche Sentimentalität und Trivialität, die den geistigen
Nachkommen Verdis und Gounods charakterisirt; endlich jene Geschraubtheit,
in der man den Tribut zu erblicken hat, den jeder moderne Musiker von nicht
außergewöhnlicher Selbständigkeit den musikalischen Verirrungen der Gegenwart
zu zahlen verdammt ist. ^ '

Daß Leoncavallo in seinen guten Augenblicken nicht immer den Südländer
zeigt, beweist der große einleitende Chor, der in jeder Hinsicht ein gutes Musik¬
stück genannt werden kaun und jeder deutschen Oper zweiter oder dritter Güte
zur Ehre gereichen würde. (Ans unsern Bühnen wird die musikalische Wir¬
kung dieses Chors leider meist durch das Schreien und Pfeifen der sich rea¬
listisch geberdenden Volksmenge erstickt.) Zunächst bleibt, nun Leoncavallv
schlicht und natürlich. Scherz und Ernst werden mit einem Anfluge von
Ironie zu einem flüchtigen Bilde vereinigt, das durchaus nicht gewöhnlich ist:
Tonio steckt seine Ohrfeige ein, und zum erstenmale blitzt Carlos leidenschaft¬
liches Temperament leise auf. Der Anfang von Carlos Arioso „scherzet
immer, doch eines schont" zeigt Leoncavallo sogar von einer unerwartet neuen
Seite: hier ist wirklich Ernst und edler melodischer Fluß. Leider nur für ganz
kurze Zeit, denn schon nach acht Takten tritt ein merklicher Rückgang ein, und
wenn sich Canio schließlich zu drohender Große erheben soll, greift er zu jenem
Uns schon aus dem Prolog bekannten tragisch sein sollenden Gedanken, der durch
seine hilflose Geschraubtheit mehr zum Lächeln als zum Entsetzen anregt.

Der nach alter schlechter Operngewohnheit eingeschaltete Glockenchor ist
eintönig und könnte übergangen werden, wenn er nicht ganz zum Schluß eine
Überraschung brächte. Dem Chor sind schon die Worte ausgegangen, und er weiß
nur noch „Ah" zu sagen, da treten unvermutet Harmonien von bemerkens¬
werter Schönheit hervor. Es handelt sich zwar nur um vier sich wiederholende
Takte, aber diese vier Takte wiegen schwerer als der ganze vorhergehende Gesaug
und zeigen, daß es Leoncavallo nicht an Begabung, wohl aber an Konzen¬
tration und Selbstkritik fehlt.

Da Leoncavallo gerade in dem Fahrwasser alter schlechter Operngewohn¬
heiten führt, so läßt er seine Nedda gleich noch ein Lied an die Böglein singen,
dus sich zwar dadurch dramatisch zu motiviren sucht, daß es am Schluß auf
^en außergesctzlichen Liebhaber Bezug nimmt. Aber diese kurze Wendung
vermag weder das Unmotivirte der ganzen Szene noch die geradezu naive Seich-
tigkeit. der/ Musik vergessen zu machen. ' ,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/239>, abgerufen am 22.12.2024.