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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anarchie und Rechtsstaat

Bändigung der vermeintlichen Raubtiernatur des Menschen würde also die
Errichtung einer Zentralgewalt, die immer etwas bedenkliches hat, wahrhaftig
nicht notwendig sein.

Es fragt sich aber, ob eine mittelmäßige Güte der Menschennatur
oder selbst vollendete Sittlichkeit aller Menschen hinreichend ist, eine wirk¬
same Verfolgung menschlicher Zwecke zu ermöglichen. Im ersten Augen¬
blick mag es so scheinen. Wenn ich etwas erstrebe, was mir als Menschen
wohl ansteht, wer wird mich hindern? Wird nicht vielmehr, bei der ange-
nommnen Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, jeder bemüht sein, mich in
der Erreichung meiner Zwecke zu fördern? Für Geschöpfe, die nur in der
Gegenwart leben, für die es keine Vergangenheit und vor allen Dingen keine
Zukunft giebt, würde das zutreffen. Das für den Menschen charakteristische
besteht aber gerade darin, daß es für ihn nicht nur Gegenwart, sondern auch
Vergangenheit und Zukunft giebt; er ist nicht auf die Befriedigung augenblicklich
empfundner Bedürfnisse beschränkt, sondern eine wahrhaft menschliche Thätig¬
keit fängt erst da an, wo es sich um die Erreichung von Zwecken handelt, die
erst in der Zukunft verwirklicht werden können, und wozu eine fortgesetzte,
stetige Arbeit notwendig ist, die das Ziel nicht aus den Augen läßt. Jede
Arbeit ist aber für uns Menschen Bearbeitung von Gegenständen, Umformung
des Stoffes, den uns die Natur bietet, und der uns ursprünglich allen ge¬
meinsam ist: es giebt nur eine Natur, in der wir alle leben, und sie ist nicht nur
der Schauplatz, sondern zu gleicher Zeit die Rüstkammer für die Thätigkeit der
Menschen. Arbeit erfordert Benutzung der Naturgegenstände. Der Erfolg jeder
Arbeit, die auf ein ferner liegendes Ziel gerichtet ist, hängt davon ab, daß ich zu der
gehörigen Zeit über die erforderlichen Mittel verfüge. Wenn ich ein Haus
bauen will und mir einen Bauplatz ausgewählt und darnach meine Pläne ent¬
worfen habe, so muß ich den von mir gewählten Platz, so wie ich ihn aus¬
ersehen habe, wiederfinden, wenn ich meinen Bau beginnen will; niemand darf
den Platz zu andern Zwecken benutzt haben, während ich mit meinen Plänen
beschäftigt war. Ebenso ist es mit den Steinen und dem Holz und allem
übrigen Material, das ich zum Bau brauche. Es ist nicht nötig, daß ich bei
Meiner Thätigkeit über sehr umfangreiche Hilfsmittel verfüge. Die Not macht
ja erfinderisch; und wenn es mir an der geistigen Fähigkeit mangelt, auch mit
beschränkten Mitteln Großes zu erreichen, so bleibt mir der Ausweg, die Ziele,
die ich mir stecke, meinen Mitteln anzupassen. Was aber zu jeder erfolgreichen
Thätigkeit unumgänglich notwendig ist, ja wodurch überhaupt erst jene aus¬
schließlich menschliche Fähigkeit und Neigung, sich fernliegende Ziele zu setzen
und deren Erreichung in steter Arbeit zu erstreben, erweckt wird, das ist das
Bewußtsein, mit Sicherheit über gewisse, wenn auch beschränkte Mittel zu ver¬
fügen. Ich muß mit den Dingen rechnen können, ich darf nicht dem Zufall
Preisgegeben sein. Bei den meisten Arbeiten ist es unmöglich, alle Hilfsmittel,


Anarchie und Rechtsstaat

Bändigung der vermeintlichen Raubtiernatur des Menschen würde also die
Errichtung einer Zentralgewalt, die immer etwas bedenkliches hat, wahrhaftig
nicht notwendig sein.

Es fragt sich aber, ob eine mittelmäßige Güte der Menschennatur
oder selbst vollendete Sittlichkeit aller Menschen hinreichend ist, eine wirk¬
same Verfolgung menschlicher Zwecke zu ermöglichen. Im ersten Augen¬
blick mag es so scheinen. Wenn ich etwas erstrebe, was mir als Menschen
wohl ansteht, wer wird mich hindern? Wird nicht vielmehr, bei der ange-
nommnen Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, jeder bemüht sein, mich in
der Erreichung meiner Zwecke zu fördern? Für Geschöpfe, die nur in der
Gegenwart leben, für die es keine Vergangenheit und vor allen Dingen keine
Zukunft giebt, würde das zutreffen. Das für den Menschen charakteristische
besteht aber gerade darin, daß es für ihn nicht nur Gegenwart, sondern auch
Vergangenheit und Zukunft giebt; er ist nicht auf die Befriedigung augenblicklich
empfundner Bedürfnisse beschränkt, sondern eine wahrhaft menschliche Thätig¬
keit fängt erst da an, wo es sich um die Erreichung von Zwecken handelt, die
erst in der Zukunft verwirklicht werden können, und wozu eine fortgesetzte,
stetige Arbeit notwendig ist, die das Ziel nicht aus den Augen läßt. Jede
Arbeit ist aber für uns Menschen Bearbeitung von Gegenständen, Umformung
des Stoffes, den uns die Natur bietet, und der uns ursprünglich allen ge¬
meinsam ist: es giebt nur eine Natur, in der wir alle leben, und sie ist nicht nur
der Schauplatz, sondern zu gleicher Zeit die Rüstkammer für die Thätigkeit der
Menschen. Arbeit erfordert Benutzung der Naturgegenstände. Der Erfolg jeder
Arbeit, die auf ein ferner liegendes Ziel gerichtet ist, hängt davon ab, daß ich zu der
gehörigen Zeit über die erforderlichen Mittel verfüge. Wenn ich ein Haus
bauen will und mir einen Bauplatz ausgewählt und darnach meine Pläne ent¬
worfen habe, so muß ich den von mir gewählten Platz, so wie ich ihn aus¬
ersehen habe, wiederfinden, wenn ich meinen Bau beginnen will; niemand darf
den Platz zu andern Zwecken benutzt haben, während ich mit meinen Plänen
beschäftigt war. Ebenso ist es mit den Steinen und dem Holz und allem
übrigen Material, das ich zum Bau brauche. Es ist nicht nötig, daß ich bei
Meiner Thätigkeit über sehr umfangreiche Hilfsmittel verfüge. Die Not macht
ja erfinderisch; und wenn es mir an der geistigen Fähigkeit mangelt, auch mit
beschränkten Mitteln Großes zu erreichen, so bleibt mir der Ausweg, die Ziele,
die ich mir stecke, meinen Mitteln anzupassen. Was aber zu jeder erfolgreichen
Thätigkeit unumgänglich notwendig ist, ja wodurch überhaupt erst jene aus¬
schließlich menschliche Fähigkeit und Neigung, sich fernliegende Ziele zu setzen
und deren Erreichung in steter Arbeit zu erstreben, erweckt wird, das ist das
Bewußtsein, mit Sicherheit über gewisse, wenn auch beschränkte Mittel zu ver¬
fügen. Ich muß mit den Dingen rechnen können, ich darf nicht dem Zufall
Preisgegeben sein. Bei den meisten Arbeiten ist es unmöglich, alle Hilfsmittel,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/211>, abgerufen am 22.12.2024.