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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anarchie und Rechtsstaat

alles Material, das zur Erreichung der bestimmten Zwecke notwendig ist, vor
Beginn der eigentlichen Arbeit zusammenzubringen. Man ist genötigt, die
Arbeit in Angriff zu nehmen, in der Hoffnung, daß es zu seiner Zeit an den
nötigen Mitteln nicht fehlen werde. Dieses Vertrauen, diese Zuversicht kann
aber nur da entstehen, wo eine bestimmte, feste Ordnung in Bezug auf die
Benutzung der Natur und ihrer Teile und Erzeugnisse vorhanden ist.

Diese Ordnung kann durch Sittlichkeit der Gesinnung nie ersetzt werden.
Man kann zugeben, daß nur ein geringer Grad sittlicher Bildung, der fast
in jedem Menschen als vorhanden vorausgesetzt werden kann, erforderlich ist, um
einen Menschen ungestört seiner Arbeit nachgehen und dabei die Mittel, die ge¬
rade in seiner Gewalt sind, benutzen zu lassen. Aber es ist unmöglich, daß bei
einer heranwachsenden Zahl menschlicher Arbeiter, die alle in derselben Werkstätte
der Natur thätig sind, über denselben Gegenstand nicht gelegentlich von ver-
schiednen Personen verfügt werden sollte, ohne daß einer von den Plänen des
andern etwas weiß; und diese Zusammenstöße müssen um so zahlreicher werden,
je enger das Zusammenleben der Menschen wird, und müssen in ihrer Beilegung
zu unerträglichen Folgen führen. Einer altruistischen Ethik kämen sie freilich
gerade recht; das wäre eine Welt, die förmlich dazu geschaffen schiene, sich
aufzuopfern für andre! Man stehe von der Verfolgung seiner Zwecke ab, und
jeder Streit ist beigelegt, noch ehe er recht zum Bewußtsein gekommen ist.
Doch wer, der so selbstlos ist, bereitwillig zu Gunsten des andern zu entsagen, wird
so egoistisch sein, zuzulassen, daß sich der andre ihm opfere? Jede menschliche
Thätigkeit hat nur dann einen Sinn, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, sie
zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Wer den Zweck will, will auch das
Mittel; und das Mittel ist hier, daß eine feste Ordnung über die Benutzung der
Dinge vorhanden ist, durch die es möglich wird, im voraus, für die Zukunft über
die Dinge zu verfügen. Dieses Mittel ist aber kein andres als eine Rechts¬
ordnung, die sich somit, von einem ganz allgemein menschlichen Standpunkte
aus, als notwendig erweist. Dieser allgemein menschliche Standpunkt schließt
natürlich den enger umgrenzten des sittlichen Menschen ein. Wer das Gute
will, muß auch wünschen und darnach streben, daß es Bedeutung in der Welt
gewinne, daß die Welt und ihre Ordnung zu einem Abbild rechter Selbst¬
bestimmung werde und daß die Liebe zum Guten das ganze Leben des Menschen,
sein Thun und Lassen erfülle und durchdringe. Die Bedingungen für den Ein¬
fluß des Guten in der Welt sind aber offenbar dieselben wie die für den Er¬
folg menschlicher Thätigkeit überhaupt.

Man sieht, daß das Bedürfnis nach einer Rechtsordnung dringender ist,
wo Menschen enge zusammenwohnen, als da, wo sie zerstreut leben, sodaß
eine Kreuzung ihrer Wirkungskreise nur selten eintritt. Es wäre auch leicht,
zu zeigen, wie die Ordnung, die die Benutzung der Dinge regelt, im Laufe
der Zeiten mit der Zunahme der Bevölkerung und der Kultur eine stetige


Anarchie und Rechtsstaat

alles Material, das zur Erreichung der bestimmten Zwecke notwendig ist, vor
Beginn der eigentlichen Arbeit zusammenzubringen. Man ist genötigt, die
Arbeit in Angriff zu nehmen, in der Hoffnung, daß es zu seiner Zeit an den
nötigen Mitteln nicht fehlen werde. Dieses Vertrauen, diese Zuversicht kann
aber nur da entstehen, wo eine bestimmte, feste Ordnung in Bezug auf die
Benutzung der Natur und ihrer Teile und Erzeugnisse vorhanden ist.

Diese Ordnung kann durch Sittlichkeit der Gesinnung nie ersetzt werden.
Man kann zugeben, daß nur ein geringer Grad sittlicher Bildung, der fast
in jedem Menschen als vorhanden vorausgesetzt werden kann, erforderlich ist, um
einen Menschen ungestört seiner Arbeit nachgehen und dabei die Mittel, die ge¬
rade in seiner Gewalt sind, benutzen zu lassen. Aber es ist unmöglich, daß bei
einer heranwachsenden Zahl menschlicher Arbeiter, die alle in derselben Werkstätte
der Natur thätig sind, über denselben Gegenstand nicht gelegentlich von ver-
schiednen Personen verfügt werden sollte, ohne daß einer von den Plänen des
andern etwas weiß; und diese Zusammenstöße müssen um so zahlreicher werden,
je enger das Zusammenleben der Menschen wird, und müssen in ihrer Beilegung
zu unerträglichen Folgen führen. Einer altruistischen Ethik kämen sie freilich
gerade recht; das wäre eine Welt, die förmlich dazu geschaffen schiene, sich
aufzuopfern für andre! Man stehe von der Verfolgung seiner Zwecke ab, und
jeder Streit ist beigelegt, noch ehe er recht zum Bewußtsein gekommen ist.
Doch wer, der so selbstlos ist, bereitwillig zu Gunsten des andern zu entsagen, wird
so egoistisch sein, zuzulassen, daß sich der andre ihm opfere? Jede menschliche
Thätigkeit hat nur dann einen Sinn, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, sie
zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Wer den Zweck will, will auch das
Mittel; und das Mittel ist hier, daß eine feste Ordnung über die Benutzung der
Dinge vorhanden ist, durch die es möglich wird, im voraus, für die Zukunft über
die Dinge zu verfügen. Dieses Mittel ist aber kein andres als eine Rechts¬
ordnung, die sich somit, von einem ganz allgemein menschlichen Standpunkte
aus, als notwendig erweist. Dieser allgemein menschliche Standpunkt schließt
natürlich den enger umgrenzten des sittlichen Menschen ein. Wer das Gute
will, muß auch wünschen und darnach streben, daß es Bedeutung in der Welt
gewinne, daß die Welt und ihre Ordnung zu einem Abbild rechter Selbst¬
bestimmung werde und daß die Liebe zum Guten das ganze Leben des Menschen,
sein Thun und Lassen erfülle und durchdringe. Die Bedingungen für den Ein¬
fluß des Guten in der Welt sind aber offenbar dieselben wie die für den Er¬
folg menschlicher Thätigkeit überhaupt.

Man sieht, daß das Bedürfnis nach einer Rechtsordnung dringender ist,
wo Menschen enge zusammenwohnen, als da, wo sie zerstreut leben, sodaß
eine Kreuzung ihrer Wirkungskreise nur selten eintritt. Es wäre auch leicht,
zu zeigen, wie die Ordnung, die die Benutzung der Dinge regelt, im Laufe
der Zeiten mit der Zunahme der Bevölkerung und der Kultur eine stetige


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[0212] Anarchie und Rechtsstaat alles Material, das zur Erreichung der bestimmten Zwecke notwendig ist, vor Beginn der eigentlichen Arbeit zusammenzubringen. Man ist genötigt, die Arbeit in Angriff zu nehmen, in der Hoffnung, daß es zu seiner Zeit an den nötigen Mitteln nicht fehlen werde. Dieses Vertrauen, diese Zuversicht kann aber nur da entstehen, wo eine bestimmte, feste Ordnung in Bezug auf die Benutzung der Natur und ihrer Teile und Erzeugnisse vorhanden ist. Diese Ordnung kann durch Sittlichkeit der Gesinnung nie ersetzt werden. Man kann zugeben, daß nur ein geringer Grad sittlicher Bildung, der fast in jedem Menschen als vorhanden vorausgesetzt werden kann, erforderlich ist, um einen Menschen ungestört seiner Arbeit nachgehen und dabei die Mittel, die ge¬ rade in seiner Gewalt sind, benutzen zu lassen. Aber es ist unmöglich, daß bei einer heranwachsenden Zahl menschlicher Arbeiter, die alle in derselben Werkstätte der Natur thätig sind, über denselben Gegenstand nicht gelegentlich von ver- schiednen Personen verfügt werden sollte, ohne daß einer von den Plänen des andern etwas weiß; und diese Zusammenstöße müssen um so zahlreicher werden, je enger das Zusammenleben der Menschen wird, und müssen in ihrer Beilegung zu unerträglichen Folgen führen. Einer altruistischen Ethik kämen sie freilich gerade recht; das wäre eine Welt, die förmlich dazu geschaffen schiene, sich aufzuopfern für andre! Man stehe von der Verfolgung seiner Zwecke ab, und jeder Streit ist beigelegt, noch ehe er recht zum Bewußtsein gekommen ist. Doch wer, der so selbstlos ist, bereitwillig zu Gunsten des andern zu entsagen, wird so egoistisch sein, zuzulassen, daß sich der andre ihm opfere? Jede menschliche Thätigkeit hat nur dann einen Sinn, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, sie zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Wer den Zweck will, will auch das Mittel; und das Mittel ist hier, daß eine feste Ordnung über die Benutzung der Dinge vorhanden ist, durch die es möglich wird, im voraus, für die Zukunft über die Dinge zu verfügen. Dieses Mittel ist aber kein andres als eine Rechts¬ ordnung, die sich somit, von einem ganz allgemein menschlichen Standpunkte aus, als notwendig erweist. Dieser allgemein menschliche Standpunkt schließt natürlich den enger umgrenzten des sittlichen Menschen ein. Wer das Gute will, muß auch wünschen und darnach streben, daß es Bedeutung in der Welt gewinne, daß die Welt und ihre Ordnung zu einem Abbild rechter Selbst¬ bestimmung werde und daß die Liebe zum Guten das ganze Leben des Menschen, sein Thun und Lassen erfülle und durchdringe. Die Bedingungen für den Ein¬ fluß des Guten in der Welt sind aber offenbar dieselben wie die für den Er¬ folg menschlicher Thätigkeit überhaupt. Man sieht, daß das Bedürfnis nach einer Rechtsordnung dringender ist, wo Menschen enge zusammenwohnen, als da, wo sie zerstreut leben, sodaß eine Kreuzung ihrer Wirkungskreise nur selten eintritt. Es wäre auch leicht, zu zeigen, wie die Ordnung, die die Benutzung der Dinge regelt, im Laufe der Zeiten mit der Zunahme der Bevölkerung und der Kultur eine stetige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/212>, abgerufen am 24.08.2024.