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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anarchie und Rechtsstaat

wie er durch Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) in ein System gebracht
worden ist, ist sich wohl bewußt, daß es bei keiner Form menschlichen Zu¬
sammenlebens eine "ungemessene Freiheit des Dürfens" giebt. Aber es er¬
scheint ihm -- und zwar mit Recht -- als etwas andres, "ob ich an einem
Ich abpralle oder an einem Volke, einem Allgemeinen. Dort bin ich der eben-'
hurtige Gegner Meines Gegners, hier ein verachteter, gebundner, bevormundeter H
dort steh ich Mann gegen Mann, hier bin ich ein Schulbube, der gegen seinen'
Kameraden nichts ausrichten kann, weil dieser Vater und Mutter zu Hilfe
gerufen und sich unter die Schürze verkrochen hat, während ich als ungezogner
Junge ausgescholten werde und nicht "räsouniren" darf; dort kämpfe ich gegen
einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menschheit, gegen ein Allgemeines,
gegen eine "Majestät," gegen einen Spuk."

Einer zweiten Klasse von Anarchisten ist es nicht sowohl um freie, durch
keine persönliche Gewalt gehemmte Bethätigung ihrer Selbstsucht als vielmehr
darum zu thun, eine ungerechte Vergewaltigung des Einzelnen durch staatliche
Machtsprüche zu beseitigen. Der Staat tritt mit dem Anspruch auf, durch seine
Gesetzgebung eine sittliche Ordnung, wenn nicht zu schaffen, so doch die für
den Menschen bestehende zum Ausdruck zu bringen. Er brandmarkt die als
Verbrecher, die gegen seine Strafgesetze verstoßen haben, während doch das
Urteil über das, was dem Menschen zu thun geziemt, was seine menschliche
Aufgabe ist, billigerweise der Einsicht des Einzelnen entspringen müßte. Dieser
Protest gegen die Vergewaltigung des Einzelnen durch die Allmacht des
Staates entbehrt unzweifelhaft nicht der Berechtigung. Und es kann nicht
nachdrücklich genug betont werden, daß ein grundsätzlicher Unterschied zu macheu
ist zwischen Rechtsgesetzen, die die Staatsgewalt aufstellt, und Sittengesetzen,
die dem in allen Menschen lebendigen sittlichen Bewußtsein entspringen. Der
Staat hat lediglich darüber zu urteilen, in welchem Verhältnis eine Handlung
zu seinen die äußern, sichtbaren Formen menschlichen Verkehrs regelnden Ge¬
setzen steht; die sittliche Gesinnung, die der Handlung zu Grunde gelegen
hat, gehört nicht vor sein Forum, schon aus dem Grunde nicht, weil sie sich
im einzelnen Falle nie mit Sicherheit feststellen läßt. Aber etwas andres, als
Vergewaltigungen zu bedauern, ist es, die Macht zu beseitigen, die die Ursache
gelegentlicher Vergewaltigungen ist. Diese Anarchisten sagen zwar: Wozu die
Staatsgewalt? Man habe nur Vertrauen zu den Menschen, die durchaus nicht
so entartet sind, daß ein Krieg aller gegen alle entfesselt werden würde, wenn
nicht das Auge des Gesetzes wachte und die Macht des Staates Frieden und
Ordnung aufrecht erhielte. Ich habe mich nie mit der Lehre von der Erb¬
sünde und der Verderbtheit der menschlichen Natur befreunden können -- obwohl
ich auch uicht glaube, daß wir Menschen Engel sind --, und so lobe ich mir
diesen Optimismus. Die Furcht vor Strafe trägt in der That nur sehr wenig
zur Sicherung des friedlichen Nebeneinanderlebens der Menschen bei. Zur


Anarchie und Rechtsstaat

wie er durch Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) in ein System gebracht
worden ist, ist sich wohl bewußt, daß es bei keiner Form menschlichen Zu¬
sammenlebens eine „ungemessene Freiheit des Dürfens" giebt. Aber es er¬
scheint ihm — und zwar mit Recht — als etwas andres, „ob ich an einem
Ich abpralle oder an einem Volke, einem Allgemeinen. Dort bin ich der eben-'
hurtige Gegner Meines Gegners, hier ein verachteter, gebundner, bevormundeter H
dort steh ich Mann gegen Mann, hier bin ich ein Schulbube, der gegen seinen'
Kameraden nichts ausrichten kann, weil dieser Vater und Mutter zu Hilfe
gerufen und sich unter die Schürze verkrochen hat, während ich als ungezogner
Junge ausgescholten werde und nicht »räsouniren« darf; dort kämpfe ich gegen
einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menschheit, gegen ein Allgemeines,
gegen eine »Majestät,« gegen einen Spuk."

Einer zweiten Klasse von Anarchisten ist es nicht sowohl um freie, durch
keine persönliche Gewalt gehemmte Bethätigung ihrer Selbstsucht als vielmehr
darum zu thun, eine ungerechte Vergewaltigung des Einzelnen durch staatliche
Machtsprüche zu beseitigen. Der Staat tritt mit dem Anspruch auf, durch seine
Gesetzgebung eine sittliche Ordnung, wenn nicht zu schaffen, so doch die für
den Menschen bestehende zum Ausdruck zu bringen. Er brandmarkt die als
Verbrecher, die gegen seine Strafgesetze verstoßen haben, während doch das
Urteil über das, was dem Menschen zu thun geziemt, was seine menschliche
Aufgabe ist, billigerweise der Einsicht des Einzelnen entspringen müßte. Dieser
Protest gegen die Vergewaltigung des Einzelnen durch die Allmacht des
Staates entbehrt unzweifelhaft nicht der Berechtigung. Und es kann nicht
nachdrücklich genug betont werden, daß ein grundsätzlicher Unterschied zu macheu
ist zwischen Rechtsgesetzen, die die Staatsgewalt aufstellt, und Sittengesetzen,
die dem in allen Menschen lebendigen sittlichen Bewußtsein entspringen. Der
Staat hat lediglich darüber zu urteilen, in welchem Verhältnis eine Handlung
zu seinen die äußern, sichtbaren Formen menschlichen Verkehrs regelnden Ge¬
setzen steht; die sittliche Gesinnung, die der Handlung zu Grunde gelegen
hat, gehört nicht vor sein Forum, schon aus dem Grunde nicht, weil sie sich
im einzelnen Falle nie mit Sicherheit feststellen läßt. Aber etwas andres, als
Vergewaltigungen zu bedauern, ist es, die Macht zu beseitigen, die die Ursache
gelegentlicher Vergewaltigungen ist. Diese Anarchisten sagen zwar: Wozu die
Staatsgewalt? Man habe nur Vertrauen zu den Menschen, die durchaus nicht
so entartet sind, daß ein Krieg aller gegen alle entfesselt werden würde, wenn
nicht das Auge des Gesetzes wachte und die Macht des Staates Frieden und
Ordnung aufrecht erhielte. Ich habe mich nie mit der Lehre von der Erb¬
sünde und der Verderbtheit der menschlichen Natur befreunden können — obwohl
ich auch uicht glaube, daß wir Menschen Engel sind —, und so lobe ich mir
diesen Optimismus. Die Furcht vor Strafe trägt in der That nur sehr wenig
zur Sicherung des friedlichen Nebeneinanderlebens der Menschen bei. Zur


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[0210] Anarchie und Rechtsstaat wie er durch Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) in ein System gebracht worden ist, ist sich wohl bewußt, daß es bei keiner Form menschlichen Zu¬ sammenlebens eine „ungemessene Freiheit des Dürfens" giebt. Aber es er¬ scheint ihm — und zwar mit Recht — als etwas andres, „ob ich an einem Ich abpralle oder an einem Volke, einem Allgemeinen. Dort bin ich der eben-' hurtige Gegner Meines Gegners, hier ein verachteter, gebundner, bevormundeter H dort steh ich Mann gegen Mann, hier bin ich ein Schulbube, der gegen seinen' Kameraden nichts ausrichten kann, weil dieser Vater und Mutter zu Hilfe gerufen und sich unter die Schürze verkrochen hat, während ich als ungezogner Junge ausgescholten werde und nicht »räsouniren« darf; dort kämpfe ich gegen einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menschheit, gegen ein Allgemeines, gegen eine »Majestät,« gegen einen Spuk." Einer zweiten Klasse von Anarchisten ist es nicht sowohl um freie, durch keine persönliche Gewalt gehemmte Bethätigung ihrer Selbstsucht als vielmehr darum zu thun, eine ungerechte Vergewaltigung des Einzelnen durch staatliche Machtsprüche zu beseitigen. Der Staat tritt mit dem Anspruch auf, durch seine Gesetzgebung eine sittliche Ordnung, wenn nicht zu schaffen, so doch die für den Menschen bestehende zum Ausdruck zu bringen. Er brandmarkt die als Verbrecher, die gegen seine Strafgesetze verstoßen haben, während doch das Urteil über das, was dem Menschen zu thun geziemt, was seine menschliche Aufgabe ist, billigerweise der Einsicht des Einzelnen entspringen müßte. Dieser Protest gegen die Vergewaltigung des Einzelnen durch die Allmacht des Staates entbehrt unzweifelhaft nicht der Berechtigung. Und es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß ein grundsätzlicher Unterschied zu macheu ist zwischen Rechtsgesetzen, die die Staatsgewalt aufstellt, und Sittengesetzen, die dem in allen Menschen lebendigen sittlichen Bewußtsein entspringen. Der Staat hat lediglich darüber zu urteilen, in welchem Verhältnis eine Handlung zu seinen die äußern, sichtbaren Formen menschlichen Verkehrs regelnden Ge¬ setzen steht; die sittliche Gesinnung, die der Handlung zu Grunde gelegen hat, gehört nicht vor sein Forum, schon aus dem Grunde nicht, weil sie sich im einzelnen Falle nie mit Sicherheit feststellen läßt. Aber etwas andres, als Vergewaltigungen zu bedauern, ist es, die Macht zu beseitigen, die die Ursache gelegentlicher Vergewaltigungen ist. Diese Anarchisten sagen zwar: Wozu die Staatsgewalt? Man habe nur Vertrauen zu den Menschen, die durchaus nicht so entartet sind, daß ein Krieg aller gegen alle entfesselt werden würde, wenn nicht das Auge des Gesetzes wachte und die Macht des Staates Frieden und Ordnung aufrecht erhielte. Ich habe mich nie mit der Lehre von der Erb¬ sünde und der Verderbtheit der menschlichen Natur befreunden können — obwohl ich auch uicht glaube, daß wir Menschen Engel sind —, und so lobe ich mir diesen Optimismus. Die Furcht vor Strafe trägt in der That nur sehr wenig zur Sicherung des friedlichen Nebeneinanderlebens der Menschen bei. Zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/210>, abgerufen am 24.08.2024.