Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Anarchie und Rechtsstaat s Obwohl extremer oder richtiger einseitiger Individualismus und An¬ Grenzboten II 189S Zg
Anarchie und Rechtsstaat s Obwohl extremer oder richtiger einseitiger Individualismus und An¬ Grenzboten II 189S Zg
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219885"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341861_219675/figures/grenzboten_341861_219675_219885_000.jpg"/><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Anarchie und Rechtsstaat</head><lb/> <p xml:id="ID_752"> s<lb/> -Z^A-E?'le starke Betonung, um nicht zu sagen Überspannung des kol¬<lb/> lektivistischen Prinzips durch Sozialisten und (philosophische)<lb/> Utilitarier hat in neuerer und neuester Zeit zur Hervorkehrung<lb/> des entgegengesetzten Prinzips eines extremen Individualismus<lb/> geführt. Während man auf der einen Seite überall das Wohl<lb/> der Gesellschaft erörtert und wie es zu fördern sei, ist man auf der andern<lb/> zum Bewußtsein der Selbstherrlichkeit der Persönlichkeit gekommen und mag<lb/> nur noch von ihrem Wohl etwas hören. Dieses gesteigerte Selbstbewußtsein fühlt<lb/> sich beengt durch die Schranken der Gesetzlichkeit und empfindet das bloße<lb/> Dasein einer dem Einzelnen überlegnen Macht staatlicher Organisation als eine<lb/> fortdauernde Bedrohung des Einzelnen und fordert daher gebieterisch ihre Be¬<lb/> seitigung : Anarchie.</p><lb/> <p xml:id="ID_753" next="#ID_754"> Obwohl extremer oder richtiger einseitiger Individualismus und An¬<lb/> archismus zusammengehören, können doch die Gründe für die Forderung völliger<lb/> Bewegungsfreiheit jür jeden Einzelnen verschiedner Art und einander geradezu<lb/> entgegengesetzt sein. Wenn sich der Egoismus, wo er mit einem gewissen<lb/> Kraftgefühl verbunden ist, gegen eine ihm überlegne Gewalt sträubt, die ihm<lb/> die rücksichtslose Verfolgung seiner selbstsüchtigen Pläne verwehrt, so ist er doch<lb/> kein Gegner des Zwangs überhaupt; er wendet ihn ja selbst ohne Bedenken<lb/> an, und es ist ein Stück seiner Lebensweisheit, ohne Rücksicht auf das Wohl<lb/> und Wehe seiner Mitmenschen seine Zwecke zu verfolgen und jeden Widerstand,<lb/> der sich ihm dabei entgegenstellt, mit Gewalt zu brechen. Aber er mag sich<lb/> kein Gesetz durch eine ihm fremde Macht auferlegen lassen. Wenn ihm die<lb/> andern überlegen sind, fo mögen sie mit ihm thun, wozu sie ihre Macht „er¬<lb/> mächtigt," aber wenn er den andern seinen Willen aufzuzwingen vermag, so<lb/> soll sich keine unpersönliche fremde Gewalt zwischen sie stellen. Dieser Egoismus,'</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 189S Zg </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0209]
[Abbildung]
Anarchie und Rechtsstaat
s
-Z^A-E?'le starke Betonung, um nicht zu sagen Überspannung des kol¬
lektivistischen Prinzips durch Sozialisten und (philosophische)
Utilitarier hat in neuerer und neuester Zeit zur Hervorkehrung
des entgegengesetzten Prinzips eines extremen Individualismus
geführt. Während man auf der einen Seite überall das Wohl
der Gesellschaft erörtert und wie es zu fördern sei, ist man auf der andern
zum Bewußtsein der Selbstherrlichkeit der Persönlichkeit gekommen und mag
nur noch von ihrem Wohl etwas hören. Dieses gesteigerte Selbstbewußtsein fühlt
sich beengt durch die Schranken der Gesetzlichkeit und empfindet das bloße
Dasein einer dem Einzelnen überlegnen Macht staatlicher Organisation als eine
fortdauernde Bedrohung des Einzelnen und fordert daher gebieterisch ihre Be¬
seitigung : Anarchie.
Obwohl extremer oder richtiger einseitiger Individualismus und An¬
archismus zusammengehören, können doch die Gründe für die Forderung völliger
Bewegungsfreiheit jür jeden Einzelnen verschiedner Art und einander geradezu
entgegengesetzt sein. Wenn sich der Egoismus, wo er mit einem gewissen
Kraftgefühl verbunden ist, gegen eine ihm überlegne Gewalt sträubt, die ihm
die rücksichtslose Verfolgung seiner selbstsüchtigen Pläne verwehrt, so ist er doch
kein Gegner des Zwangs überhaupt; er wendet ihn ja selbst ohne Bedenken
an, und es ist ein Stück seiner Lebensweisheit, ohne Rücksicht auf das Wohl
und Wehe seiner Mitmenschen seine Zwecke zu verfolgen und jeden Widerstand,
der sich ihm dabei entgegenstellt, mit Gewalt zu brechen. Aber er mag sich
kein Gesetz durch eine ihm fremde Macht auferlegen lassen. Wenn ihm die
andern überlegen sind, fo mögen sie mit ihm thun, wozu sie ihre Macht „er¬
mächtigt," aber wenn er den andern seinen Willen aufzuzwingen vermag, so
soll sich keine unpersönliche fremde Gewalt zwischen sie stellen. Dieser Egoismus,'
Grenzboten II 189S Zg
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