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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage

Religionsgesellschaften gegen Beschimpfung sichergestellt, so sollen künftig auch
ihre Lehren schlechthin, also auch die talmudischen eingeschlossen, dieses
Schutzes teilhaftig sein. Es muß traurig um den Gottes- und Christenglauben
eines Menschen bestellt sein, wenn er, wo er in diesem Glauben gekränkt wird,
nach dem Schutze des weltlichen Richters ruft. Was würde aber Jesus selbst
dazu gesagt haben, wenn man seine Lehre auf den Grund staatlicher Straf¬
gesetze hätte erbauen wollen, er, dessen Reich nicht von dieser Welt ist? Und
welche Partei soll denn nun der Staat in dem wütenden Dogmenzank der
Konfessionen und kirchlichen Gruppen ergreifen, wie soll er sich selbst zur Lehre
der katholischen Kirche stellen, die auch die Staatsgewalt nur aus der Ober¬
hoheit der Kirche abgeleitet wissen will, die jedes Dreinreden des Staates
in die Ernennung der Bischöfe und Geistlichen, jede Staatsaufsicht als Ketzerei
verdammt? Was auch immer der unfehlbare Papst noch künftig für Lehren
aufstellen mag, das deutsche Reich beanstandet sie nicht, sondern stellt sie sogar
im voraus unter den Schutz seiner Strafgesetze! Ist es denkbar, daß solche
Ungeheuerlichkeiten im Lande der Reformation jemals Rechtens werden sollten?

Das Zentrum hat, das muß man ihm lassen, den Kampf für die Re¬
ligion, wie sie ihm erscheint, mit Nachdruck geführt. Aber es will auch im
Kampf für die Sitte nicht zurückstehen und hat in den neuen §s 184, 184a
die Hauptbestandteile der schon zu den Toten geworfenen "I^sx Heinze" wieder
zu beleben gewußt. Wir wollen gegen die neu vvrgeschlague Fassung des
§ 184, dessen Lückenhaftigkeit nicht zu bestreikn ist, hier keine Einwendungen
erheben, wenn man sich auch auf diesem recht eigentlich der Sitte angehörigen
Gebiete von Strafgesetzen nicht allzu viel versprechen darf. Dagegen wird man
vergeblich einen Preis auf die Lösung der Frage setzen, was denn, wie der
neue § 184a besagt, "das Scham- und Sittlichkeitsgefühl durch grobe Un¬
anständigkeit zu verletzen geeignet" und dennoch nicht "unzüchtig" sein soll.
Wahrscheinlich werden sich die Gerichte, an dieser Lösung verzweifelnd, an die
"grobe Unanständigkeit" halten. Was das ist, glaubt ja jeder zu wissen, nur
daß, namentlich auf der feinen Grenzlinie zwischen dem Schönen und Un¬
schönen, dem Wahren und Unwahren, dem Idealen und dem Sinnlichen die
Meinung eines jeden zu der des andern in schroffem Gegensatz zu stehen
pflegt. Die Rechtsprechung wird, wenn sie es nur noch mit dem Anstands-
begrisf zu thun hat, jedenfalls ganz wunderbare Blüten treiben. Schade, daß
die Künstler dabei mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu
dreihundert Mark gefährdet sind. Die Kommisston hat endlich die Befugnisse
zur Beschlagnahme von Druckschriften nach der Regierungsvorlage erweitert
und den sogenannten Kanzelparagraphen 130a beseitigt. Damit fällt das letzte
Überbleibsel einer Gesetzgebung, die nur die Ohnmacht des Staates bewährt
hat, auf die Dauer gegen geistige Bestrebungen anzukämpfen, eine Vorbedeutung
für die ganze Umsturzvorlage, wenn sie wirklich Gesetz werden sollte.


Die Umsturzvorlage

Religionsgesellschaften gegen Beschimpfung sichergestellt, so sollen künftig auch
ihre Lehren schlechthin, also auch die talmudischen eingeschlossen, dieses
Schutzes teilhaftig sein. Es muß traurig um den Gottes- und Christenglauben
eines Menschen bestellt sein, wenn er, wo er in diesem Glauben gekränkt wird,
nach dem Schutze des weltlichen Richters ruft. Was würde aber Jesus selbst
dazu gesagt haben, wenn man seine Lehre auf den Grund staatlicher Straf¬
gesetze hätte erbauen wollen, er, dessen Reich nicht von dieser Welt ist? Und
welche Partei soll denn nun der Staat in dem wütenden Dogmenzank der
Konfessionen und kirchlichen Gruppen ergreifen, wie soll er sich selbst zur Lehre
der katholischen Kirche stellen, die auch die Staatsgewalt nur aus der Ober¬
hoheit der Kirche abgeleitet wissen will, die jedes Dreinreden des Staates
in die Ernennung der Bischöfe und Geistlichen, jede Staatsaufsicht als Ketzerei
verdammt? Was auch immer der unfehlbare Papst noch künftig für Lehren
aufstellen mag, das deutsche Reich beanstandet sie nicht, sondern stellt sie sogar
im voraus unter den Schutz seiner Strafgesetze! Ist es denkbar, daß solche
Ungeheuerlichkeiten im Lande der Reformation jemals Rechtens werden sollten?

Das Zentrum hat, das muß man ihm lassen, den Kampf für die Re¬
ligion, wie sie ihm erscheint, mit Nachdruck geführt. Aber es will auch im
Kampf für die Sitte nicht zurückstehen und hat in den neuen §s 184, 184a
die Hauptbestandteile der schon zu den Toten geworfenen „I^sx Heinze" wieder
zu beleben gewußt. Wir wollen gegen die neu vvrgeschlague Fassung des
§ 184, dessen Lückenhaftigkeit nicht zu bestreikn ist, hier keine Einwendungen
erheben, wenn man sich auch auf diesem recht eigentlich der Sitte angehörigen
Gebiete von Strafgesetzen nicht allzu viel versprechen darf. Dagegen wird man
vergeblich einen Preis auf die Lösung der Frage setzen, was denn, wie der
neue § 184a besagt, „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl durch grobe Un¬
anständigkeit zu verletzen geeignet" und dennoch nicht „unzüchtig" sein soll.
Wahrscheinlich werden sich die Gerichte, an dieser Lösung verzweifelnd, an die
„grobe Unanständigkeit" halten. Was das ist, glaubt ja jeder zu wissen, nur
daß, namentlich auf der feinen Grenzlinie zwischen dem Schönen und Un¬
schönen, dem Wahren und Unwahren, dem Idealen und dem Sinnlichen die
Meinung eines jeden zu der des andern in schroffem Gegensatz zu stehen
pflegt. Die Rechtsprechung wird, wenn sie es nur noch mit dem Anstands-
begrisf zu thun hat, jedenfalls ganz wunderbare Blüten treiben. Schade, daß
die Künstler dabei mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu
dreihundert Mark gefährdet sind. Die Kommisston hat endlich die Befugnisse
zur Beschlagnahme von Druckschriften nach der Regierungsvorlage erweitert
und den sogenannten Kanzelparagraphen 130a beseitigt. Damit fällt das letzte
Überbleibsel einer Gesetzgebung, die nur die Ohnmacht des Staates bewährt
hat, auf die Dauer gegen geistige Bestrebungen anzukämpfen, eine Vorbedeutung
für die ganze Umsturzvorlage, wenn sie wirklich Gesetz werden sollte.


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[0166] Die Umsturzvorlage Religionsgesellschaften gegen Beschimpfung sichergestellt, so sollen künftig auch ihre Lehren schlechthin, also auch die talmudischen eingeschlossen, dieses Schutzes teilhaftig sein. Es muß traurig um den Gottes- und Christenglauben eines Menschen bestellt sein, wenn er, wo er in diesem Glauben gekränkt wird, nach dem Schutze des weltlichen Richters ruft. Was würde aber Jesus selbst dazu gesagt haben, wenn man seine Lehre auf den Grund staatlicher Straf¬ gesetze hätte erbauen wollen, er, dessen Reich nicht von dieser Welt ist? Und welche Partei soll denn nun der Staat in dem wütenden Dogmenzank der Konfessionen und kirchlichen Gruppen ergreifen, wie soll er sich selbst zur Lehre der katholischen Kirche stellen, die auch die Staatsgewalt nur aus der Ober¬ hoheit der Kirche abgeleitet wissen will, die jedes Dreinreden des Staates in die Ernennung der Bischöfe und Geistlichen, jede Staatsaufsicht als Ketzerei verdammt? Was auch immer der unfehlbare Papst noch künftig für Lehren aufstellen mag, das deutsche Reich beanstandet sie nicht, sondern stellt sie sogar im voraus unter den Schutz seiner Strafgesetze! Ist es denkbar, daß solche Ungeheuerlichkeiten im Lande der Reformation jemals Rechtens werden sollten? Das Zentrum hat, das muß man ihm lassen, den Kampf für die Re¬ ligion, wie sie ihm erscheint, mit Nachdruck geführt. Aber es will auch im Kampf für die Sitte nicht zurückstehen und hat in den neuen §s 184, 184a die Hauptbestandteile der schon zu den Toten geworfenen „I^sx Heinze" wieder zu beleben gewußt. Wir wollen gegen die neu vvrgeschlague Fassung des § 184, dessen Lückenhaftigkeit nicht zu bestreikn ist, hier keine Einwendungen erheben, wenn man sich auch auf diesem recht eigentlich der Sitte angehörigen Gebiete von Strafgesetzen nicht allzu viel versprechen darf. Dagegen wird man vergeblich einen Preis auf die Lösung der Frage setzen, was denn, wie der neue § 184a besagt, „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl durch grobe Un¬ anständigkeit zu verletzen geeignet" und dennoch nicht „unzüchtig" sein soll. Wahrscheinlich werden sich die Gerichte, an dieser Lösung verzweifelnd, an die „grobe Unanständigkeit" halten. Was das ist, glaubt ja jeder zu wissen, nur daß, namentlich auf der feinen Grenzlinie zwischen dem Schönen und Un¬ schönen, dem Wahren und Unwahren, dem Idealen und dem Sinnlichen die Meinung eines jeden zu der des andern in schroffem Gegensatz zu stehen pflegt. Die Rechtsprechung wird, wenn sie es nur noch mit dem Anstands- begrisf zu thun hat, jedenfalls ganz wunderbare Blüten treiben. Schade, daß die Künstler dabei mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu dreihundert Mark gefährdet sind. Die Kommisston hat endlich die Befugnisse zur Beschlagnahme von Druckschriften nach der Regierungsvorlage erweitert und den sogenannten Kanzelparagraphen 130a beseitigt. Damit fällt das letzte Überbleibsel einer Gesetzgebung, die nur die Ohnmacht des Staates bewährt hat, auf die Dauer gegen geistige Bestrebungen anzukämpfen, eine Vorbedeutung für die ganze Umsturzvorlage, wenn sie wirklich Gesetz werden sollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/166>, abgerufen am 25.08.2024.