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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage

Wir sind, wenn wir die Leistungen der "Umsturzkommission" überblicken,
in der Erwartung nicht getäuscht worden, daß jede "Amendirung" der Vor¬
lage nur eine weitere Verballhornung des mißratnen Erzeugnisses der Gesetz-
gebungskuust zur Folge haben werde. Der an sich lobenswerten Beseitigung
der eigentlichen Umsturzparagraphen stehen neue ungeheuerliche Konstruktionen
gegenüber, die zum Teil noch weit über die Regierungsvorlage hinausgehen,
bewährte Grundsätze der Strafrechtswissenschaft über Bord werfen und an Un¬
klarheit, Unbestimmtheit und Dehnbarkeit dem ursprünglichen Entwurf eben¬
bürtig sind. Das Gesetz ist, wie es die Kommission vorschlägt, nicht in dem
Grade Klassengesetz wie der Regierungsentwurf; immerhin liefert es nament¬
lich die Arbeiter- und überhaupt die Oppositionspresse künftig in weit höheren
Grade dem Belieben der Polizeibehörden aus. Es ist serner unbestreitbar,
daß gerade die Kommissionsänderungen die freie wissenschaftliche Forschung,
ganz besonders die ihren Besitzstand gegen Rom verteidigende evangelische Kirche,
sowie alle darstellenden Künste in schwere Fesseln schlagen. Schon eine Ver¬
kümmerung der Bewegungsfreiheit auf diesen Gebieten muß die Schaffens¬
freudigkeit lahmen, selbst wenn es nicht überall zu strafrechtlichen Verfolgungen
und Verurteilungen käme. Eine französische Zeitung sagte nicht zuviel, wenn
sie von der Vorlage prophezeite, sie werde die Deutschen um den Ruhm bringen,
das Volk der Denker zu heißen. Gleichwohl handelt das Zentrum vollkommen
logisch, wenn es mit entschlossener Hand auch die Blüten am Baume der deut¬
schen Kunst und Wissenschaft brechen will. In vielen sitzt der Wurm, drum
fort mit ihnen allen, nnr so kann man sicher sein, daß sie keine giftigen Früchte
tragen werden! Erst dann, wenn den Massen der Baum der Erkenntnis des
Guten und Bösen überhaupt nicht mehr winkt, kann die dumpfe Gleichgültig¬
keit wieder ihren Einzug halten, bei der sich kirchlich und staatlich so bequem
regieren läßt.

Wenn wir mit allem Nachdruck sür die Verwerfung der gesamten Um¬
sturzvorlage eintreten, so heißen wir damit die Dinge nicht gut, die von der
Vorlage als künftig strafbar bezeichnet werden. Aber die Väter des neuen
Gesetzes haben die einfache Gassenwahrheit vergessen, daß man den Gebrauch
nicht zulassen kann, ohne die Gesahr des Mißbrauchs mit in den Kauf zu
nehmen, und daß, je gründlicher man dem aufkeimenden Unkraut zu Leibe geht,
desto mehr auch von dem guten Weizen ausgerauft wird. Diese Gefahr ist
besonders schwer in einer Zeit, wo uuter dem Drucke fortschreitender Über¬
völkerung immer weitere Kreise unsers Volkes immer mehr Grund zur Klage
haben. Ihnen nicht helfen können, und ihnen doch das Klagen, Schreien,
unter Umstünden anch das Schimpfen (so lange es nur dabei bleibt) zu ver¬
bieten, ist unweise und gefährlich. Wir empfinden es schon im Alltagsleben
als eine Erleichterung, dem Herzen einmal Luft zu machen, und nehmen die
schwere Bürde dann williger wieder auf. Gefährlich aber ist es, wenn der


Die Umsturzvorlage

Wir sind, wenn wir die Leistungen der „Umsturzkommission" überblicken,
in der Erwartung nicht getäuscht worden, daß jede „Amendirung" der Vor¬
lage nur eine weitere Verballhornung des mißratnen Erzeugnisses der Gesetz-
gebungskuust zur Folge haben werde. Der an sich lobenswerten Beseitigung
der eigentlichen Umsturzparagraphen stehen neue ungeheuerliche Konstruktionen
gegenüber, die zum Teil noch weit über die Regierungsvorlage hinausgehen,
bewährte Grundsätze der Strafrechtswissenschaft über Bord werfen und an Un¬
klarheit, Unbestimmtheit und Dehnbarkeit dem ursprünglichen Entwurf eben¬
bürtig sind. Das Gesetz ist, wie es die Kommission vorschlägt, nicht in dem
Grade Klassengesetz wie der Regierungsentwurf; immerhin liefert es nament¬
lich die Arbeiter- und überhaupt die Oppositionspresse künftig in weit höheren
Grade dem Belieben der Polizeibehörden aus. Es ist serner unbestreitbar,
daß gerade die Kommissionsänderungen die freie wissenschaftliche Forschung,
ganz besonders die ihren Besitzstand gegen Rom verteidigende evangelische Kirche,
sowie alle darstellenden Künste in schwere Fesseln schlagen. Schon eine Ver¬
kümmerung der Bewegungsfreiheit auf diesen Gebieten muß die Schaffens¬
freudigkeit lahmen, selbst wenn es nicht überall zu strafrechtlichen Verfolgungen
und Verurteilungen käme. Eine französische Zeitung sagte nicht zuviel, wenn
sie von der Vorlage prophezeite, sie werde die Deutschen um den Ruhm bringen,
das Volk der Denker zu heißen. Gleichwohl handelt das Zentrum vollkommen
logisch, wenn es mit entschlossener Hand auch die Blüten am Baume der deut¬
schen Kunst und Wissenschaft brechen will. In vielen sitzt der Wurm, drum
fort mit ihnen allen, nnr so kann man sicher sein, daß sie keine giftigen Früchte
tragen werden! Erst dann, wenn den Massen der Baum der Erkenntnis des
Guten und Bösen überhaupt nicht mehr winkt, kann die dumpfe Gleichgültig¬
keit wieder ihren Einzug halten, bei der sich kirchlich und staatlich so bequem
regieren läßt.

Wenn wir mit allem Nachdruck sür die Verwerfung der gesamten Um¬
sturzvorlage eintreten, so heißen wir damit die Dinge nicht gut, die von der
Vorlage als künftig strafbar bezeichnet werden. Aber die Väter des neuen
Gesetzes haben die einfache Gassenwahrheit vergessen, daß man den Gebrauch
nicht zulassen kann, ohne die Gesahr des Mißbrauchs mit in den Kauf zu
nehmen, und daß, je gründlicher man dem aufkeimenden Unkraut zu Leibe geht,
desto mehr auch von dem guten Weizen ausgerauft wird. Diese Gefahr ist
besonders schwer in einer Zeit, wo uuter dem Drucke fortschreitender Über¬
völkerung immer weitere Kreise unsers Volkes immer mehr Grund zur Klage
haben. Ihnen nicht helfen können, und ihnen doch das Klagen, Schreien,
unter Umstünden anch das Schimpfen (so lange es nur dabei bleibt) zu ver¬
bieten, ist unweise und gefährlich. Wir empfinden es schon im Alltagsleben
als eine Erleichterung, dem Herzen einmal Luft zu machen, und nehmen die
schwere Bürde dann williger wieder auf. Gefährlich aber ist es, wenn der


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[0167] Die Umsturzvorlage Wir sind, wenn wir die Leistungen der „Umsturzkommission" überblicken, in der Erwartung nicht getäuscht worden, daß jede „Amendirung" der Vor¬ lage nur eine weitere Verballhornung des mißratnen Erzeugnisses der Gesetz- gebungskuust zur Folge haben werde. Der an sich lobenswerten Beseitigung der eigentlichen Umsturzparagraphen stehen neue ungeheuerliche Konstruktionen gegenüber, die zum Teil noch weit über die Regierungsvorlage hinausgehen, bewährte Grundsätze der Strafrechtswissenschaft über Bord werfen und an Un¬ klarheit, Unbestimmtheit und Dehnbarkeit dem ursprünglichen Entwurf eben¬ bürtig sind. Das Gesetz ist, wie es die Kommission vorschlägt, nicht in dem Grade Klassengesetz wie der Regierungsentwurf; immerhin liefert es nament¬ lich die Arbeiter- und überhaupt die Oppositionspresse künftig in weit höheren Grade dem Belieben der Polizeibehörden aus. Es ist serner unbestreitbar, daß gerade die Kommissionsänderungen die freie wissenschaftliche Forschung, ganz besonders die ihren Besitzstand gegen Rom verteidigende evangelische Kirche, sowie alle darstellenden Künste in schwere Fesseln schlagen. Schon eine Ver¬ kümmerung der Bewegungsfreiheit auf diesen Gebieten muß die Schaffens¬ freudigkeit lahmen, selbst wenn es nicht überall zu strafrechtlichen Verfolgungen und Verurteilungen käme. Eine französische Zeitung sagte nicht zuviel, wenn sie von der Vorlage prophezeite, sie werde die Deutschen um den Ruhm bringen, das Volk der Denker zu heißen. Gleichwohl handelt das Zentrum vollkommen logisch, wenn es mit entschlossener Hand auch die Blüten am Baume der deut¬ schen Kunst und Wissenschaft brechen will. In vielen sitzt der Wurm, drum fort mit ihnen allen, nnr so kann man sicher sein, daß sie keine giftigen Früchte tragen werden! Erst dann, wenn den Massen der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen überhaupt nicht mehr winkt, kann die dumpfe Gleichgültig¬ keit wieder ihren Einzug halten, bei der sich kirchlich und staatlich so bequem regieren läßt. Wenn wir mit allem Nachdruck sür die Verwerfung der gesamten Um¬ sturzvorlage eintreten, so heißen wir damit die Dinge nicht gut, die von der Vorlage als künftig strafbar bezeichnet werden. Aber die Väter des neuen Gesetzes haben die einfache Gassenwahrheit vergessen, daß man den Gebrauch nicht zulassen kann, ohne die Gesahr des Mißbrauchs mit in den Kauf zu nehmen, und daß, je gründlicher man dem aufkeimenden Unkraut zu Leibe geht, desto mehr auch von dem guten Weizen ausgerauft wird. Diese Gefahr ist besonders schwer in einer Zeit, wo uuter dem Drucke fortschreitender Über¬ völkerung immer weitere Kreise unsers Volkes immer mehr Grund zur Klage haben. Ihnen nicht helfen können, und ihnen doch das Klagen, Schreien, unter Umstünden anch das Schimpfen (so lange es nur dabei bleibt) zu ver¬ bieten, ist unweise und gefährlich. Wir empfinden es schon im Alltagsleben als eine Erleichterung, dem Herzen einmal Luft zu machen, und nehmen die schwere Bürde dann williger wieder auf. Gefährlich aber ist es, wenn der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/167>, abgerufen am 25.08.2024.