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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

sale und Umstände können auch einen alten Verbrecher noch einmal bekehren,
aber es kann der Gesellschaft nicht auferlegt werden, darauf zu warten, bis
es ihm gefällig sein wird. Hat der Staat die Aufgabe, die Rechtsordnung
zu sichern, fo sollte er sich entschließen, einen Zeitpunkt für jeden Rechtsbrecher
festzusetzen, wo es heißt: bis hierher und nicht weiter! Tolle läßt man ja auch
nicht frei in der Welt herumlaufen, sondern bewacht und bewahrt sie. Vor
allem sollte man ihnen auch die Erziehung ihrer Nachkommenschaft abnehmen.
Denn ohne ein Anhänger der Vererbungstheorie zu sein, kann man doch vom
Sumpfboden nicht gut andre als Sumpfpflanzen erwarten.

Aber auch hier treten uns wieder die Gespenster der absoluten Theorien
entgegen und verhindern es, daß die offenbaren Mängel des Strafsystems ver¬
bessert werden. Vergelter will man, Gerechtigkeit üben, aber nicht konkrete,
greifbare Zwecke verfolgen. Sonst würde man nicht vorzugsweise das Ver¬
brechen, sondern den Verbrecher ins Auge fassen. Kommt es darauf an, die
Rechtsordnung des Volks zu sichern, so wird jedes Mittel zweckmäßig sein,
das zum Ziele führt. Man wird unter Umständen sehr hart, aber auch unter
Umständen mild verfahren können; wenn die Pincette genügt, wird man das
Messer im Futteral lassen. Damit würde man in vielen Fällen wenigstens
dem Verbrecher gerecht werden. Es ist doch gewiß nicht zweckmäßig, einen
Menschen, den man in das Gefüge der Gesellschaft hineinpassen will, jedesmal
erst zu ruiniren, sodaß nachher von frommen und wohlthätigen Vereinen alles
mögliche aufgeboten werden muß, um den Schaden wieder zu Heilen. Muß
freilich Vergeltung geübt werden, dann liat justitik se xersat, irirmÄus. In
andern Ländern hat man sich allmählich von der Herrschaft der absoluten
Theorien freigemacht und versucht sich an einer weniger idealen Aufgabe. Aber
auch in Deutschland fängt man an, sie zu verlassen, allerdings mit Ängstlich¬
keit und unter mannichfacher Beklemmung. Ich hoffe jedoch, daß sich der
Versuch bei der guten und gesunden Art unsers Volks lohnen wird. Ein
solcher Anfang ist die vorläufige Entlassung. Dem Gefangnen kann, wenn be¬
stimmte Bedingungen zutreffen, ein Teil seiner Strafe erlassen werden. Dafür
steht er dann während des letzten Strafviertels, das ihm geschenkt worden ist,
unter strenger Aufsicht und wird, sowie er ein unordentliches Leben zu führen
beginnt, wieder eingezogen. Hier sehen wir, wie die strenge Gerechtigkeits¬
theorie verlassen und die Theorie des psychologischen Zwanges aufgenommen
worden ist. Ein zweiter Schritt auf dem neuen Wege ist die bedingte Ver¬
urteilung. Wir werden diesen Schritt aber erst wagen, wenn wir ihn vor dem
Richterstuhle der absoluten Theorien rechtfertigen können, sei es auch durch ein
dialektisches Kunststück. Geheimrat Dr. Krohne meint in seinem Lehrbuch der
Gefüngnislunde, man hätte dem Verweis, der die sittliche Mißbilligung, und
der Geldstrafe, die den staatlichen Zwang zur Entschädigung zum Ausdruck
bringt, eine viel größere Ausdehnung geben sollen. Man sollte die leichteste


Die Behandlung des Verbrechers

sale und Umstände können auch einen alten Verbrecher noch einmal bekehren,
aber es kann der Gesellschaft nicht auferlegt werden, darauf zu warten, bis
es ihm gefällig sein wird. Hat der Staat die Aufgabe, die Rechtsordnung
zu sichern, fo sollte er sich entschließen, einen Zeitpunkt für jeden Rechtsbrecher
festzusetzen, wo es heißt: bis hierher und nicht weiter! Tolle läßt man ja auch
nicht frei in der Welt herumlaufen, sondern bewacht und bewahrt sie. Vor
allem sollte man ihnen auch die Erziehung ihrer Nachkommenschaft abnehmen.
Denn ohne ein Anhänger der Vererbungstheorie zu sein, kann man doch vom
Sumpfboden nicht gut andre als Sumpfpflanzen erwarten.

Aber auch hier treten uns wieder die Gespenster der absoluten Theorien
entgegen und verhindern es, daß die offenbaren Mängel des Strafsystems ver¬
bessert werden. Vergelter will man, Gerechtigkeit üben, aber nicht konkrete,
greifbare Zwecke verfolgen. Sonst würde man nicht vorzugsweise das Ver¬
brechen, sondern den Verbrecher ins Auge fassen. Kommt es darauf an, die
Rechtsordnung des Volks zu sichern, so wird jedes Mittel zweckmäßig sein,
das zum Ziele führt. Man wird unter Umständen sehr hart, aber auch unter
Umständen mild verfahren können; wenn die Pincette genügt, wird man das
Messer im Futteral lassen. Damit würde man in vielen Fällen wenigstens
dem Verbrecher gerecht werden. Es ist doch gewiß nicht zweckmäßig, einen
Menschen, den man in das Gefüge der Gesellschaft hineinpassen will, jedesmal
erst zu ruiniren, sodaß nachher von frommen und wohlthätigen Vereinen alles
mögliche aufgeboten werden muß, um den Schaden wieder zu Heilen. Muß
freilich Vergeltung geübt werden, dann liat justitik se xersat, irirmÄus. In
andern Ländern hat man sich allmählich von der Herrschaft der absoluten
Theorien freigemacht und versucht sich an einer weniger idealen Aufgabe. Aber
auch in Deutschland fängt man an, sie zu verlassen, allerdings mit Ängstlich¬
keit und unter mannichfacher Beklemmung. Ich hoffe jedoch, daß sich der
Versuch bei der guten und gesunden Art unsers Volks lohnen wird. Ein
solcher Anfang ist die vorläufige Entlassung. Dem Gefangnen kann, wenn be¬
stimmte Bedingungen zutreffen, ein Teil seiner Strafe erlassen werden. Dafür
steht er dann während des letzten Strafviertels, das ihm geschenkt worden ist,
unter strenger Aufsicht und wird, sowie er ein unordentliches Leben zu führen
beginnt, wieder eingezogen. Hier sehen wir, wie die strenge Gerechtigkeits¬
theorie verlassen und die Theorie des psychologischen Zwanges aufgenommen
worden ist. Ein zweiter Schritt auf dem neuen Wege ist die bedingte Ver¬
urteilung. Wir werden diesen Schritt aber erst wagen, wenn wir ihn vor dem
Richterstuhle der absoluten Theorien rechtfertigen können, sei es auch durch ein
dialektisches Kunststück. Geheimrat Dr. Krohne meint in seinem Lehrbuch der
Gefüngnislunde, man hätte dem Verweis, der die sittliche Mißbilligung, und
der Geldstrafe, die den staatlichen Zwang zur Entschädigung zum Ausdruck
bringt, eine viel größere Ausdehnung geben sollen. Man sollte die leichteste


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[0127] Die Behandlung des Verbrechers sale und Umstände können auch einen alten Verbrecher noch einmal bekehren, aber es kann der Gesellschaft nicht auferlegt werden, darauf zu warten, bis es ihm gefällig sein wird. Hat der Staat die Aufgabe, die Rechtsordnung zu sichern, fo sollte er sich entschließen, einen Zeitpunkt für jeden Rechtsbrecher festzusetzen, wo es heißt: bis hierher und nicht weiter! Tolle läßt man ja auch nicht frei in der Welt herumlaufen, sondern bewacht und bewahrt sie. Vor allem sollte man ihnen auch die Erziehung ihrer Nachkommenschaft abnehmen. Denn ohne ein Anhänger der Vererbungstheorie zu sein, kann man doch vom Sumpfboden nicht gut andre als Sumpfpflanzen erwarten. Aber auch hier treten uns wieder die Gespenster der absoluten Theorien entgegen und verhindern es, daß die offenbaren Mängel des Strafsystems ver¬ bessert werden. Vergelter will man, Gerechtigkeit üben, aber nicht konkrete, greifbare Zwecke verfolgen. Sonst würde man nicht vorzugsweise das Ver¬ brechen, sondern den Verbrecher ins Auge fassen. Kommt es darauf an, die Rechtsordnung des Volks zu sichern, so wird jedes Mittel zweckmäßig sein, das zum Ziele führt. Man wird unter Umständen sehr hart, aber auch unter Umständen mild verfahren können; wenn die Pincette genügt, wird man das Messer im Futteral lassen. Damit würde man in vielen Fällen wenigstens dem Verbrecher gerecht werden. Es ist doch gewiß nicht zweckmäßig, einen Menschen, den man in das Gefüge der Gesellschaft hineinpassen will, jedesmal erst zu ruiniren, sodaß nachher von frommen und wohlthätigen Vereinen alles mögliche aufgeboten werden muß, um den Schaden wieder zu Heilen. Muß freilich Vergeltung geübt werden, dann liat justitik se xersat, irirmÄus. In andern Ländern hat man sich allmählich von der Herrschaft der absoluten Theorien freigemacht und versucht sich an einer weniger idealen Aufgabe. Aber auch in Deutschland fängt man an, sie zu verlassen, allerdings mit Ängstlich¬ keit und unter mannichfacher Beklemmung. Ich hoffe jedoch, daß sich der Versuch bei der guten und gesunden Art unsers Volks lohnen wird. Ein solcher Anfang ist die vorläufige Entlassung. Dem Gefangnen kann, wenn be¬ stimmte Bedingungen zutreffen, ein Teil seiner Strafe erlassen werden. Dafür steht er dann während des letzten Strafviertels, das ihm geschenkt worden ist, unter strenger Aufsicht und wird, sowie er ein unordentliches Leben zu führen beginnt, wieder eingezogen. Hier sehen wir, wie die strenge Gerechtigkeits¬ theorie verlassen und die Theorie des psychologischen Zwanges aufgenommen worden ist. Ein zweiter Schritt auf dem neuen Wege ist die bedingte Ver¬ urteilung. Wir werden diesen Schritt aber erst wagen, wenn wir ihn vor dem Richterstuhle der absoluten Theorien rechtfertigen können, sei es auch durch ein dialektisches Kunststück. Geheimrat Dr. Krohne meint in seinem Lehrbuch der Gefüngnislunde, man hätte dem Verweis, der die sittliche Mißbilligung, und der Geldstrafe, die den staatlichen Zwang zur Entschädigung zum Ausdruck bringt, eine viel größere Ausdehnung geben sollen. Man sollte die leichteste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/127>, abgerufen am 25.08.2024.