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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

wirklich -- Sie müssen nämlich wissen, daß die Lage des kranken Mannes
nud Rußlands Ländergier -- England hat nämlich schon längst u. s. w."

In den Geist der ältern nud mittlern Zeiten weihte uns Reinkens ein,
damals ein sehr schöner junger Mann von bezaubernder Liebenswürdigkeit und
Privatdozent. Er lehrte Patristik und die Entwicklung der Scholastik im
Geiste Möhlers. Vollkommen faßte ich diesen Geist allerdings erst, als ich
dann Möhler selbst las. Seine Geschichte Urseins von Canterbury übte noch
eine ganz besondre Wirkung ans mich. Es war eines Abends im großen
Studirzimmer des Kvnvikts -- zum breiten Fenster strömte prachtvolles Abend¬
rot herein --, da erschloß sich mir bei der Schilderung der Lehrthätigkeit
Urseins das Geheimnis des Lehrzaubers; von Stund an sehnte ich mich nach
der Lehrthätigkeit und habe sie dann später ein paar Jahrzehnte hindurch
mit Leidenschaft betrieben. Eigentlich müßte sich dieses Geheimnis jedem schon
bei der Lektüre Tcnophons und Platons offenbaren; aber abgesehen davon,
daß einem bei pedantischer Behandlung der alten Klassiker überhaupt nichts
offenbar wird, war doch des Sokrates Wirken von der modernen Schulmeisteret
so grundverschieden, daß ein Schüler gar nicht auf den Gedanken verfällt,
beides als verschiedne Arten derselben Thätigkeit mit einander zu vergleichen.
Reinkens hatte einen kleinen Kreis warmer Verehrer, zu dem anch Spillmann
und ich gehörten; die meisten von uns verhielten sich ablehnend ihm gegenüber.

Von Baltzer fühlten sich alle ohne Ausnahme begeistert. Wenn er mit
seiner klangvollen Stimme seine Schlußketten, Glied für Glied wvhlgefügt,
um uus spannte, dann dachte niemand an die Möglichkeit, ihnen jemals
zu entrinnen, und jeder gab sich mit einer Art von Wollustgefühl ge¬
fangen. Seine logischen Kunstwerke fühlten sich weder kalt noch trocken an,
denn in jeden Satz legte er seine Feuerseele, und Humor und Phantasie um-
kleideten das logische Gerippe. Auf dem einzigen unerschütterlichen Bangrunde
aller Philosvpie, dem menschlichen Selbstbewußtsein, errichtete er sein Ge¬
bäude, dessen Säulen, die Qffenbarnngsthntsachen, harmonisch aufstiegen, bis
der weise Baumeister den Schlußstein einsetzte: den Papst, um zuletzt -- tra¬
gisches Schicksal! von diesem Schlußstein zermalmt zu werden. Baltzer
hatte als Hcrmesianer begonnen und hatte sich nach Verurteilung des herme¬
sischen Shstems dein Wiener Philosophen Anton Günther zugewandt. Er
wurde mit seinem Freunde Kuoodt Günthers Apostel in Preußen, während
in Österreich Veith und Pabst in demselben Sinne thätig waren. Gegen¬
wärtig mögen wohl Baltzers und Elvenichs Schüler Professor Weber und
or. Ernst Metzer die einzigen noch übrigen Vertreter des Güntherianismns
fein.") Günther geht, wie Cartesius, vom Jchgedanken aus und schreitet



Metzer hat dem verehrten Lehrer ein Denkmal gesetzt: Johann Baptista Valpers
Leben, Wirten uno wissenschaftliche Bedeutung. Vorn, P. neuster, 1"77, Dieser" Buche
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

wirklich — Sie müssen nämlich wissen, daß die Lage des kranken Mannes
nud Rußlands Ländergier — England hat nämlich schon längst u. s. w."

In den Geist der ältern nud mittlern Zeiten weihte uns Reinkens ein,
damals ein sehr schöner junger Mann von bezaubernder Liebenswürdigkeit und
Privatdozent. Er lehrte Patristik und die Entwicklung der Scholastik im
Geiste Möhlers. Vollkommen faßte ich diesen Geist allerdings erst, als ich
dann Möhler selbst las. Seine Geschichte Urseins von Canterbury übte noch
eine ganz besondre Wirkung ans mich. Es war eines Abends im großen
Studirzimmer des Kvnvikts — zum breiten Fenster strömte prachtvolles Abend¬
rot herein —, da erschloß sich mir bei der Schilderung der Lehrthätigkeit
Urseins das Geheimnis des Lehrzaubers; von Stund an sehnte ich mich nach
der Lehrthätigkeit und habe sie dann später ein paar Jahrzehnte hindurch
mit Leidenschaft betrieben. Eigentlich müßte sich dieses Geheimnis jedem schon
bei der Lektüre Tcnophons und Platons offenbaren; aber abgesehen davon,
daß einem bei pedantischer Behandlung der alten Klassiker überhaupt nichts
offenbar wird, war doch des Sokrates Wirken von der modernen Schulmeisteret
so grundverschieden, daß ein Schüler gar nicht auf den Gedanken verfällt,
beides als verschiedne Arten derselben Thätigkeit mit einander zu vergleichen.
Reinkens hatte einen kleinen Kreis warmer Verehrer, zu dem anch Spillmann
und ich gehörten; die meisten von uns verhielten sich ablehnend ihm gegenüber.

Von Baltzer fühlten sich alle ohne Ausnahme begeistert. Wenn er mit
seiner klangvollen Stimme seine Schlußketten, Glied für Glied wvhlgefügt,
um uus spannte, dann dachte niemand an die Möglichkeit, ihnen jemals
zu entrinnen, und jeder gab sich mit einer Art von Wollustgefühl ge¬
fangen. Seine logischen Kunstwerke fühlten sich weder kalt noch trocken an,
denn in jeden Satz legte er seine Feuerseele, und Humor und Phantasie um-
kleideten das logische Gerippe. Auf dem einzigen unerschütterlichen Bangrunde
aller Philosvpie, dem menschlichen Selbstbewußtsein, errichtete er sein Ge¬
bäude, dessen Säulen, die Qffenbarnngsthntsachen, harmonisch aufstiegen, bis
der weise Baumeister den Schlußstein einsetzte: den Papst, um zuletzt — tra¬
gisches Schicksal! von diesem Schlußstein zermalmt zu werden. Baltzer
hatte als Hcrmesianer begonnen und hatte sich nach Verurteilung des herme¬
sischen Shstems dein Wiener Philosophen Anton Günther zugewandt. Er
wurde mit seinem Freunde Kuoodt Günthers Apostel in Preußen, während
in Österreich Veith und Pabst in demselben Sinne thätig waren. Gegen¬
wärtig mögen wohl Baltzers und Elvenichs Schüler Professor Weber und
or. Ernst Metzer die einzigen noch übrigen Vertreter des Güntherianismns
fein.") Günther geht, wie Cartesius, vom Jchgedanken aus und schreitet



Metzer hat dem verehrten Lehrer ein Denkmal gesetzt: Johann Baptista Valpers
Leben, Wirten uno wissenschaftliche Bedeutung. Vorn, P. neuster, 1»77, Dieser» Buche
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/90>, abgerufen am 30.06.2024.