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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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"ut Kritiker vollends zersetzt zu werden; er verteidigte also zunächst ihre
Rechte und ihren materiellen Besitzstand und sorgte dann für so viel und so
geartete Wissenschaft, wie sie eine katholische Körperschaft zu ihrem Bestände
braucht. Wie er denn in jeder Beziehung ein echter deutscher Manu war, so
erscheint er mir als einer der letzten jener alten deutschen Prälaten, die tüchtige
Regenten ihrer Stifte und gute Haushälter ihres großen Mammons gewesen
sind, die siechte ihrer "Kirchen" gegen die weltliche Macht, gegen böse Nach¬
barn, oft auch gegen den Papst mit Nachdruck gewahrt haben, und deren Gemüt
niemals beunruhigt worden ist durch den ungeheuern Widerspruch zwischen
ihrer Stellung und der Religion, in deren Namen sie durch die wunderbarste
aller geschichtlichen Verkettungen zu dieser Stellung gelangt waren. In der
Darstellung der neuern Zeit spürt man eine Seele, Ritters eigne Seele. Die
alte und die mittlere Zeit der Kirche versteht er nicht; die neuere versteht er,
denn in dieser, im Gegensatz zum Protestantismus und zum modernen Staat,
lebt er selbst, und in die nentatholische Strömung wußte er sich seiner Anlage
nach auf folgendem Gedankenwege hineinzufinden. Die katholische Kirche ist
ein Leib von unverwüstlicher Lebenskraft und von höchstem Wert sür ihre An¬
gehörigen Ich selbst fühle mich als Glied dieses Leibes wohl; dnrans ergiebt
sich für mich die Notwendigkeit, für die Erhaltung und Stärkung dieses Leibes
zu sorgen. Dieser Leib bedarf zu seiner Erhaltung einer orthodoxen Lehre,
also -- ist diese orthodoxe Lehre wahr! So kann man schließen, nach dieser
Überzeugung kaun man handeln, ohne von der Lehre im Gemüte ergriffen zu
werden. Und so läuft denn die ganze neuere Kirchengeschichte Ritters auf
die zwei Sätze hinaus: zwischen Katholizismus und Atheismus giebt es kein
drittes, was dazwischen liegt, ist unlogisches Gefasel,^) und: die preußische
Negierung ist uns, den Katholiken Schlesiens, noch die und die Rechte und so
und so viel Millionen Thaler schuldig. Den ersten Satz glaubte ich schon als
Gymnasiast selbst gefunden zu haben, und gegen den zweiten hatte ich natürlich
nichts einzuwenden. Vom gedruckten Lehrbuch unterschied sich aber Ritters
Vortrag ganz bedeutend. Für die Religion erwärmen konnte er freilich nicht,
aber er war ein gemütliches Geplauder und höchst amüsant. Ritter politisirte
viel, und weil ihm mitten im Satze immer was anders einfiel und er so aus
dem Hundertsten ins Tausendste kam, brachte er in mancher Stunde nicht einen
einzigen Satz zu Ende; er trieb es darin noch weit ärger als Paulus, der,
wie ein andrer Professor rügend zu bemerken pflegte, oft aus der Konstruktion
fällt. Auch konnte er die Herzenserleichterung, die ihm das Kolleg verschaffte,
gar nicht erwarten. Schon beim Öffnen der Thür fing er an: "'s ist un¬
glaublich, meine Herren (seine stehende Redensart), da hat nun der Napoleon



*) Baltzer pflegte den gläubige" Protestantismus eine liebenswürdige Inkonsequenz zu
nennen.
Grenzboten I 1895 11

»ut Kritiker vollends zersetzt zu werden; er verteidigte also zunächst ihre
Rechte und ihren materiellen Besitzstand und sorgte dann für so viel und so
geartete Wissenschaft, wie sie eine katholische Körperschaft zu ihrem Bestände
braucht. Wie er denn in jeder Beziehung ein echter deutscher Manu war, so
erscheint er mir als einer der letzten jener alten deutschen Prälaten, die tüchtige
Regenten ihrer Stifte und gute Haushälter ihres großen Mammons gewesen
sind, die siechte ihrer „Kirchen" gegen die weltliche Macht, gegen böse Nach¬
barn, oft auch gegen den Papst mit Nachdruck gewahrt haben, und deren Gemüt
niemals beunruhigt worden ist durch den ungeheuern Widerspruch zwischen
ihrer Stellung und der Religion, in deren Namen sie durch die wunderbarste
aller geschichtlichen Verkettungen zu dieser Stellung gelangt waren. In der
Darstellung der neuern Zeit spürt man eine Seele, Ritters eigne Seele. Die
alte und die mittlere Zeit der Kirche versteht er nicht; die neuere versteht er,
denn in dieser, im Gegensatz zum Protestantismus und zum modernen Staat,
lebt er selbst, und in die nentatholische Strömung wußte er sich seiner Anlage
nach auf folgendem Gedankenwege hineinzufinden. Die katholische Kirche ist
ein Leib von unverwüstlicher Lebenskraft und von höchstem Wert sür ihre An¬
gehörigen Ich selbst fühle mich als Glied dieses Leibes wohl; dnrans ergiebt
sich für mich die Notwendigkeit, für die Erhaltung und Stärkung dieses Leibes
zu sorgen. Dieser Leib bedarf zu seiner Erhaltung einer orthodoxen Lehre,
also — ist diese orthodoxe Lehre wahr! So kann man schließen, nach dieser
Überzeugung kaun man handeln, ohne von der Lehre im Gemüte ergriffen zu
werden. Und so läuft denn die ganze neuere Kirchengeschichte Ritters auf
die zwei Sätze hinaus: zwischen Katholizismus und Atheismus giebt es kein
drittes, was dazwischen liegt, ist unlogisches Gefasel,^) und: die preußische
Negierung ist uns, den Katholiken Schlesiens, noch die und die Rechte und so
und so viel Millionen Thaler schuldig. Den ersten Satz glaubte ich schon als
Gymnasiast selbst gefunden zu haben, und gegen den zweiten hatte ich natürlich
nichts einzuwenden. Vom gedruckten Lehrbuch unterschied sich aber Ritters
Vortrag ganz bedeutend. Für die Religion erwärmen konnte er freilich nicht,
aber er war ein gemütliches Geplauder und höchst amüsant. Ritter politisirte
viel, und weil ihm mitten im Satze immer was anders einfiel und er so aus
dem Hundertsten ins Tausendste kam, brachte er in mancher Stunde nicht einen
einzigen Satz zu Ende; er trieb es darin noch weit ärger als Paulus, der,
wie ein andrer Professor rügend zu bemerken pflegte, oft aus der Konstruktion
fällt. Auch konnte er die Herzenserleichterung, die ihm das Kolleg verschaffte,
gar nicht erwarten. Schon beim Öffnen der Thür fing er an: „'s ist un¬
glaublich, meine Herren (seine stehende Redensart), da hat nun der Napoleon



*) Baltzer pflegte den gläubige» Protestantismus eine liebenswürdige Inkonsequenz zu
nennen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/89>, abgerufen am 02.07.2024.