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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Monat faltiges Stipendium jetzt schou anzuweisen; ich brauche Geld." -- "Wie
viel brauchen Sie?" -- "Zehn Thaler." -- "Hier haben Sie zehn Thaler; das
Stipendium können Sie sich holen, wenn es Zeit sein wird. Adjee," Ein
andermal kommt einer und erzählt ihm irgend welche Missethat von einem
Kommilito. Da öffnet Ritter einen Schubkästen und sagt: "Sehen Sie, alle
diese Papiere sind Denunziationen, damit könnte ich viel Leute unglücklich
machen, wenn ich wollte; ich will aber nicht. Gehen Sie."

Von cilledem wußte ich noch nichts, als ich im Herbst 1852 an seiner
Pforte die Klingel zog; ich wußte bloß, daß ich vor einen großen Herrn treten
solle, der schon einmal zwei Millionen Menschen regiert habe. Als ich die
Magd, die mir geöffnet hatte, bat, mich anzumelden, sagte sie: "Studenten
treten ungemeldet ein." Ich trat also ein, Ritter kam aus einer hintern Ecke
des großen Zimmers auf mich zu und pflanzte sich vor mir auf. Er war
bloß mit Hosen, Hemd und Schlafrock bekleidet. Der Schlafrock stand weit
offen, sodaß die Seitenklappeu über die Schultern herabhingen. So stand er
bequem da, den Daumen der linken Hand in den Hvsenlatz gestützt, den rechten
Arm wie leblos hängen lassend, und nachdem er mein Sprüchel angehört
hatte, hielt er mir einen langen Vortrag. Selbstverständlich war ich entzückt
von solcher Liebenswürdigkeit und fühlte mich sehr geschmeichelt ob der Ehre
eines Privatissünnms aus so hohem Munde. Ein Gedankenblitz, der mein
Innerstes getroffen hätte, muß uicht darin gewesen sein, deun in meinem Ge¬
dächtnis ist auch nicht ein Sätzchen haften geblieben, obwohl ich den ganzen
Vortrag ein paar Tage darauf noch einmal zu hören bekam, als Einleitung
in die Kirchenschichte im Kolleg.

Seine Kirchengeschichte, die er in Druck gegeben hatte, war damals ihrer
Stofffülle wegen ein sehr schätzenswertes Buch, aber den denkenden und
fühlenden Leser einer spätern Zeit berührt sie doch sonderbar. Der erste und
zweite Teil, alte und mittlere Zeit, haben keine Seele, und manche Stellen
überraschen dnrch einen unfreiwilligen Humor. Der Satz z. B. auf Seite 610
des ersten Bandes (fünfte Auflage): "Obgleich in diesem zwanzigjährigen Kriege
jdem Albigenserkriegej Ketzer genug verbrannt, gehenkt und auf andre Art um¬
gebracht worden waren, so war dennoch eine reiche Nachernte für den Frieden
übrig geblieben; zu ihrer Einsammlung organisirte man das bischöfliche Jn-
qnisitionsgericht dergestalt, daß kaum einer entgehen konnte," dieser Satz könnte
ebenso gut in einem Pamphlete Corvins stehen wie in einer bischöflich appro-
birten Kirchengeschichte. Ritter war eben selbst aus dem Nationalismus hervor¬
gegangen und ist, ohne es zu wissen, Rationalist geblieben bis an sein Ende.
Sein Wirken für die Wiederherstellung der katholischen Kirche Schlesiens er¬
klärt sich daraus, daß er von Natur kein Grübler, sondern ein Praktikus war.
Als solcher und als tüchtiger Maun konnte er nicht ruhig zusehen, wie die
Körperschaft, der er selbst angehörte, verfiel und in Gefahr stand, dnrch Grübler


Monat faltiges Stipendium jetzt schou anzuweisen; ich brauche Geld." — „Wie
viel brauchen Sie?" — „Zehn Thaler." — „Hier haben Sie zehn Thaler; das
Stipendium können Sie sich holen, wenn es Zeit sein wird. Adjee," Ein
andermal kommt einer und erzählt ihm irgend welche Missethat von einem
Kommilito. Da öffnet Ritter einen Schubkästen und sagt: „Sehen Sie, alle
diese Papiere sind Denunziationen, damit könnte ich viel Leute unglücklich
machen, wenn ich wollte; ich will aber nicht. Gehen Sie."

Von cilledem wußte ich noch nichts, als ich im Herbst 1852 an seiner
Pforte die Klingel zog; ich wußte bloß, daß ich vor einen großen Herrn treten
solle, der schon einmal zwei Millionen Menschen regiert habe. Als ich die
Magd, die mir geöffnet hatte, bat, mich anzumelden, sagte sie: „Studenten
treten ungemeldet ein." Ich trat also ein, Ritter kam aus einer hintern Ecke
des großen Zimmers auf mich zu und pflanzte sich vor mir auf. Er war
bloß mit Hosen, Hemd und Schlafrock bekleidet. Der Schlafrock stand weit
offen, sodaß die Seitenklappeu über die Schultern herabhingen. So stand er
bequem da, den Daumen der linken Hand in den Hvsenlatz gestützt, den rechten
Arm wie leblos hängen lassend, und nachdem er mein Sprüchel angehört
hatte, hielt er mir einen langen Vortrag. Selbstverständlich war ich entzückt
von solcher Liebenswürdigkeit und fühlte mich sehr geschmeichelt ob der Ehre
eines Privatissünnms aus so hohem Munde. Ein Gedankenblitz, der mein
Innerstes getroffen hätte, muß uicht darin gewesen sein, deun in meinem Ge¬
dächtnis ist auch nicht ein Sätzchen haften geblieben, obwohl ich den ganzen
Vortrag ein paar Tage darauf noch einmal zu hören bekam, als Einleitung
in die Kirchenschichte im Kolleg.

Seine Kirchengeschichte, die er in Druck gegeben hatte, war damals ihrer
Stofffülle wegen ein sehr schätzenswertes Buch, aber den denkenden und
fühlenden Leser einer spätern Zeit berührt sie doch sonderbar. Der erste und
zweite Teil, alte und mittlere Zeit, haben keine Seele, und manche Stellen
überraschen dnrch einen unfreiwilligen Humor. Der Satz z. B. auf Seite 610
des ersten Bandes (fünfte Auflage): „Obgleich in diesem zwanzigjährigen Kriege
jdem Albigenserkriegej Ketzer genug verbrannt, gehenkt und auf andre Art um¬
gebracht worden waren, so war dennoch eine reiche Nachernte für den Frieden
übrig geblieben; zu ihrer Einsammlung organisirte man das bischöfliche Jn-
qnisitionsgericht dergestalt, daß kaum einer entgehen konnte," dieser Satz könnte
ebenso gut in einem Pamphlete Corvins stehen wie in einer bischöflich appro-
birten Kirchengeschichte. Ritter war eben selbst aus dem Nationalismus hervor¬
gegangen und ist, ohne es zu wissen, Rationalist geblieben bis an sein Ende.
Sein Wirken für die Wiederherstellung der katholischen Kirche Schlesiens er¬
klärt sich daraus, daß er von Natur kein Grübler, sondern ein Praktikus war.
Als solcher und als tüchtiger Maun konnte er nicht ruhig zusehen, wie die
Körperschaft, der er selbst angehörte, verfiel und in Gefahr stand, dnrch Grübler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/88>, abgerufen am 02.10.2024.