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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Unter diese symbolischen Beleidigungen fällt, wenn man den mehr¬
erwähnten Grundsatz des Reichsgerichts teilt, das Verhalten Liebknechts. Es
gilt also, festzustellen, ob solche symbolische Beleidigungen allgemein, oder
welche von ihnen unter den Artikel 30 der Verfassung fallen. Nun sind ja
solche symbolische Beleidigungen ohne Zweifel Äußerungen der Mißachtung;
aber keinesfalls sind es nach dem Wortlaut und nach dem im Sprachgebrauch
damit verbundnen Sinn gethane, d. h. gesprochne Äußerungen. Wenn man
gleichwohl von vielen Seiten die Unterstellung unter diesen Begriff für selbst¬
verständlich gehalten hat, und wenn sich, was nicht zu leugnen ist, auch das
natürliche Gefühl beim ersten Eindruck unwillkürlich dieser Auffassung zuneigt,
so beruht das auf der allerdings meist nicht ausgesprochnen und wohl nicht
einmal immer klar erkannten Empfindung, daß eine solche symbolische Kund¬
gebung nnr die Stelle gesprochner Worte vertritt, und daß sie der durch Worte
ausgedrückten Mißachtung gleichwertig ist.

Nun giebt es allerdings gewisse Pantomimen, die einen ganz bestimmten,
einzelnen Begriff ausdrücken und deshalb auch nur das diese"? entsprechende
Wort vertreten. Wenn z. B. ein sozialdemokratischer Redner behauptete, irgend
ein hoher Beamter verdiente aufgehängt zu werden, statt des Wortes hängen
aber mit der Hand an den Hals griffe und die bekannte Bewegung ausführte,
die das Umlegen des Strickes um den Hals darstellt, so würde diese Geberde
offenbar nur das eine Wort vertreten und müßte so gut, als wenn er das
Wort ausgesprochen Hütte, straflos bleiben.

Auf der andern Seite giebt es aber symbolische Beleidigungen, die keines¬
wegs einen bestimmten einzelnen Begriff verkörpern oder eine bestimmte wört¬
liche Äußerung ersetzen, die vielmehr dicht an die thätlichen Beleidigungen
streifen. Dahin gehört das Ausspeien vor jemand (wobei man als weitern
Übergang zur thätlichen Beleidigung nur an das Anspeien der Kleidung zu
denken braucht). Unverkennbar wird dadurch Mißachtung geäußert, aber es
wird schwer halten, für diese Handlung ein einzelnes Wort, einen einzelnen
Satz zu finden, wodurch ein jeuer Handlung gleichwertiger Ausdruck ge¬
schaffen würde.

Zu welcher der beiden Arten von symbolischen Beleidigungen man das
Sitzenbleiben bei einem Hoch auf den Kaiser rechnen soll, darüber kann man
zweifeln. In der That liegt ein solches Verhalten gerade auf dem Punkte,
wo diese beiden Arten von symbolischen Beleidigungen in einander übergehen,
und es lassen sich für die Zuweisung zur einen oder zur andern Gruppe Gründe
anführen. Zudem Liebknecht sitzen blieb, lehnte er die Teilnahme an der vom
Präsidenten dem Monarchen dargebrachten Huldigung ab. Faßt man diese
Ablehnung ans als einen Widerspruch gegen die Einrichtung des Königtums
überhaupt, das die sozialdemokratische Partei ja nach ihrem offenen, häufig
genug ausgesprochnen Bekenntnis verwirft, so wird man nicht umhin können,


GrenAbotei, I 1895 9

Unter diese symbolischen Beleidigungen fällt, wenn man den mehr¬
erwähnten Grundsatz des Reichsgerichts teilt, das Verhalten Liebknechts. Es
gilt also, festzustellen, ob solche symbolische Beleidigungen allgemein, oder
welche von ihnen unter den Artikel 30 der Verfassung fallen. Nun sind ja
solche symbolische Beleidigungen ohne Zweifel Äußerungen der Mißachtung;
aber keinesfalls sind es nach dem Wortlaut und nach dem im Sprachgebrauch
damit verbundnen Sinn gethane, d. h. gesprochne Äußerungen. Wenn man
gleichwohl von vielen Seiten die Unterstellung unter diesen Begriff für selbst¬
verständlich gehalten hat, und wenn sich, was nicht zu leugnen ist, auch das
natürliche Gefühl beim ersten Eindruck unwillkürlich dieser Auffassung zuneigt,
so beruht das auf der allerdings meist nicht ausgesprochnen und wohl nicht
einmal immer klar erkannten Empfindung, daß eine solche symbolische Kund¬
gebung nnr die Stelle gesprochner Worte vertritt, und daß sie der durch Worte
ausgedrückten Mißachtung gleichwertig ist.

Nun giebt es allerdings gewisse Pantomimen, die einen ganz bestimmten,
einzelnen Begriff ausdrücken und deshalb auch nur das diese»? entsprechende
Wort vertreten. Wenn z. B. ein sozialdemokratischer Redner behauptete, irgend
ein hoher Beamter verdiente aufgehängt zu werden, statt des Wortes hängen
aber mit der Hand an den Hals griffe und die bekannte Bewegung ausführte,
die das Umlegen des Strickes um den Hals darstellt, so würde diese Geberde
offenbar nur das eine Wort vertreten und müßte so gut, als wenn er das
Wort ausgesprochen Hütte, straflos bleiben.

Auf der andern Seite giebt es aber symbolische Beleidigungen, die keines¬
wegs einen bestimmten einzelnen Begriff verkörpern oder eine bestimmte wört¬
liche Äußerung ersetzen, die vielmehr dicht an die thätlichen Beleidigungen
streifen. Dahin gehört das Ausspeien vor jemand (wobei man als weitern
Übergang zur thätlichen Beleidigung nur an das Anspeien der Kleidung zu
denken braucht). Unverkennbar wird dadurch Mißachtung geäußert, aber es
wird schwer halten, für diese Handlung ein einzelnes Wort, einen einzelnen
Satz zu finden, wodurch ein jeuer Handlung gleichwertiger Ausdruck ge¬
schaffen würde.

Zu welcher der beiden Arten von symbolischen Beleidigungen man das
Sitzenbleiben bei einem Hoch auf den Kaiser rechnen soll, darüber kann man
zweifeln. In der That liegt ein solches Verhalten gerade auf dem Punkte,
wo diese beiden Arten von symbolischen Beleidigungen in einander übergehen,
und es lassen sich für die Zuweisung zur einen oder zur andern Gruppe Gründe
anführen. Zudem Liebknecht sitzen blieb, lehnte er die Teilnahme an der vom
Präsidenten dem Monarchen dargebrachten Huldigung ab. Faßt man diese
Ablehnung ans als einen Widerspruch gegen die Einrichtung des Königtums
überhaupt, das die sozialdemokratische Partei ja nach ihrem offenen, häufig
genug ausgesprochnen Bekenntnis verwirft, so wird man nicht umhin können,


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[0073] Unter diese symbolischen Beleidigungen fällt, wenn man den mehr¬ erwähnten Grundsatz des Reichsgerichts teilt, das Verhalten Liebknechts. Es gilt also, festzustellen, ob solche symbolische Beleidigungen allgemein, oder welche von ihnen unter den Artikel 30 der Verfassung fallen. Nun sind ja solche symbolische Beleidigungen ohne Zweifel Äußerungen der Mißachtung; aber keinesfalls sind es nach dem Wortlaut und nach dem im Sprachgebrauch damit verbundnen Sinn gethane, d. h. gesprochne Äußerungen. Wenn man gleichwohl von vielen Seiten die Unterstellung unter diesen Begriff für selbst¬ verständlich gehalten hat, und wenn sich, was nicht zu leugnen ist, auch das natürliche Gefühl beim ersten Eindruck unwillkürlich dieser Auffassung zuneigt, so beruht das auf der allerdings meist nicht ausgesprochnen und wohl nicht einmal immer klar erkannten Empfindung, daß eine solche symbolische Kund¬ gebung nnr die Stelle gesprochner Worte vertritt, und daß sie der durch Worte ausgedrückten Mißachtung gleichwertig ist. Nun giebt es allerdings gewisse Pantomimen, die einen ganz bestimmten, einzelnen Begriff ausdrücken und deshalb auch nur das diese»? entsprechende Wort vertreten. Wenn z. B. ein sozialdemokratischer Redner behauptete, irgend ein hoher Beamter verdiente aufgehängt zu werden, statt des Wortes hängen aber mit der Hand an den Hals griffe und die bekannte Bewegung ausführte, die das Umlegen des Strickes um den Hals darstellt, so würde diese Geberde offenbar nur das eine Wort vertreten und müßte so gut, als wenn er das Wort ausgesprochen Hütte, straflos bleiben. Auf der andern Seite giebt es aber symbolische Beleidigungen, die keines¬ wegs einen bestimmten einzelnen Begriff verkörpern oder eine bestimmte wört¬ liche Äußerung ersetzen, die vielmehr dicht an die thätlichen Beleidigungen streifen. Dahin gehört das Ausspeien vor jemand (wobei man als weitern Übergang zur thätlichen Beleidigung nur an das Anspeien der Kleidung zu denken braucht). Unverkennbar wird dadurch Mißachtung geäußert, aber es wird schwer halten, für diese Handlung ein einzelnes Wort, einen einzelnen Satz zu finden, wodurch ein jeuer Handlung gleichwertiger Ausdruck ge¬ schaffen würde. Zu welcher der beiden Arten von symbolischen Beleidigungen man das Sitzenbleiben bei einem Hoch auf den Kaiser rechnen soll, darüber kann man zweifeln. In der That liegt ein solches Verhalten gerade auf dem Punkte, wo diese beiden Arten von symbolischen Beleidigungen in einander übergehen, und es lassen sich für die Zuweisung zur einen oder zur andern Gruppe Gründe anführen. Zudem Liebknecht sitzen blieb, lehnte er die Teilnahme an der vom Präsidenten dem Monarchen dargebrachten Huldigung ab. Faßt man diese Ablehnung ans als einen Widerspruch gegen die Einrichtung des Königtums überhaupt, das die sozialdemokratische Partei ja nach ihrem offenen, häufig genug ausgesprochnen Bekenntnis verwirft, so wird man nicht umhin können, GrenAbotei, I 1895 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/73>, abgerufen am 23.07.2024.