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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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wenig kann sich der Schutz des Art. 30 auf thätliche Beleidigungen erstrecken,
d. h, solche, die (ohne Körperverletzungen zu sei") in einer körperlichen Ein¬
wirkung auf die Person des Beleidigten bestehen. Wenn man z. B. einem
während seiner Rede den Stuhl hinter dem Rücken wegzieht, sodaß er, wenn
er sich setzen will, zu Boden fällt, ohne daß er gerade einen Schaden an seiner
Gesundheit erleidet, oder wenn man jemand absichtlich anrempelt, so sind das
thätliche Beleidigungen. Nehmen wir einmal an, ein Abgeordneter, der durch
die Bemerkungen eines Mitglieds des Bundesrath geärgert worden ist, stürmt
auf ihn los, ergreift ihn an der Brust, schüttelt ihn hin nud her und setzt
ihn schließlich unsanft nieder, oder er rempelt ihn, während er an ihm vorbei
zur Rednertribüne geht, um sich weiß zu waschen, an: sollte sich wirklich auch
darauf die Straflosigkeit nach Art. 30 erstrecken? Man wird mir einwenden,
in solchen Fällen werde gewiß der Reichstag die Genehmigung zur Straf¬
verfolgung nicht versagen. Aber dieser Einwand geht fehl, denn wo wirklich
Art. 30 der Verfassung platzgreift, da kann selbst mit Genehmigung des Reichs¬
tags eine strafrechtliche Untersuchung nicht stattfinden. Nun sind ja allerdings
bisher in unserm Reichstage solche Thätlichkeiten noch nicht vorgekommen. Es
kann aber keinem Einsichtigen zweifelhaft sein, daß der vornehme Ton, der vor
zwei bis drei Jahrzehnten im Reichstage herrschte, schon bedeutend abgenommen
hat, und daß wir, wenn es so weiter bergab geht, in fünf bis zehn Jahren
dort noch wunderbare Dinge erleben können.

Während also die thätlichen Beleidigungen unzweifelhaft nicht den Schutz
des Art. 30 genießen, ist es auf der andern Seite, nach dem Wortlaut dieses
Artikels und nach seiner Entstehungsgeschichte ebenso wenig zu bezweifeln, daß
wörtliche Beleidigungen, wenn sie in der Ausübung des Berufs geäußert
werden, vor einer strafrechtlichen oder disziplinarischen Verfolgung durchaus
geschützt sind.

Den Kern der jetzigen Streitfrage bildet dagegen eine dritte Art der Be¬
leidigungen, die allerdings, soviel ich sehe, bisher weder in der Wissenschaft
noch in der Strafrechtspflege in ihrer selbständigen Bedeutung erkannt und
von den beiden andern Arten gesondert worden ist. Ich will sie als die "sym¬
bolischen Beleidigungen" bezeichnen. Es sind das solche, die weder, wie die
thätlichen, durch eine körperliche Einwirkung auf die Person des andern, noch,
wie die wörtlichen, durch mündliche oder schriftliche Rede begangen werden,
fondern durch Handlungen, die nach der Anschauung des Volkes oder be¬
stimmter, in dem betreffenden einzelnen Falle maßgebender Volkskreise, eine
Mißachtung ausdrücken. Dahin gehört z. B., wenn jemand vor einem andern
(mit erkennbarer Absichtlichkeit) ausspeit oder ihm die Zunge herausstreckt,
oder wenn er vor der Hausthüre des andern einen Häuser Unrat anstürmt,
oder endlich wenn er eine Achtnngsbezeugung unterläßt, auf die der andre
Anspruch hat.


wenig kann sich der Schutz des Art. 30 auf thätliche Beleidigungen erstrecken,
d. h, solche, die (ohne Körperverletzungen zu sei») in einer körperlichen Ein¬
wirkung auf die Person des Beleidigten bestehen. Wenn man z. B. einem
während seiner Rede den Stuhl hinter dem Rücken wegzieht, sodaß er, wenn
er sich setzen will, zu Boden fällt, ohne daß er gerade einen Schaden an seiner
Gesundheit erleidet, oder wenn man jemand absichtlich anrempelt, so sind das
thätliche Beleidigungen. Nehmen wir einmal an, ein Abgeordneter, der durch
die Bemerkungen eines Mitglieds des Bundesrath geärgert worden ist, stürmt
auf ihn los, ergreift ihn an der Brust, schüttelt ihn hin nud her und setzt
ihn schließlich unsanft nieder, oder er rempelt ihn, während er an ihm vorbei
zur Rednertribüne geht, um sich weiß zu waschen, an: sollte sich wirklich auch
darauf die Straflosigkeit nach Art. 30 erstrecken? Man wird mir einwenden,
in solchen Fällen werde gewiß der Reichstag die Genehmigung zur Straf¬
verfolgung nicht versagen. Aber dieser Einwand geht fehl, denn wo wirklich
Art. 30 der Verfassung platzgreift, da kann selbst mit Genehmigung des Reichs¬
tags eine strafrechtliche Untersuchung nicht stattfinden. Nun sind ja allerdings
bisher in unserm Reichstage solche Thätlichkeiten noch nicht vorgekommen. Es
kann aber keinem Einsichtigen zweifelhaft sein, daß der vornehme Ton, der vor
zwei bis drei Jahrzehnten im Reichstage herrschte, schon bedeutend abgenommen
hat, und daß wir, wenn es so weiter bergab geht, in fünf bis zehn Jahren
dort noch wunderbare Dinge erleben können.

Während also die thätlichen Beleidigungen unzweifelhaft nicht den Schutz
des Art. 30 genießen, ist es auf der andern Seite, nach dem Wortlaut dieses
Artikels und nach seiner Entstehungsgeschichte ebenso wenig zu bezweifeln, daß
wörtliche Beleidigungen, wenn sie in der Ausübung des Berufs geäußert
werden, vor einer strafrechtlichen oder disziplinarischen Verfolgung durchaus
geschützt sind.

Den Kern der jetzigen Streitfrage bildet dagegen eine dritte Art der Be¬
leidigungen, die allerdings, soviel ich sehe, bisher weder in der Wissenschaft
noch in der Strafrechtspflege in ihrer selbständigen Bedeutung erkannt und
von den beiden andern Arten gesondert worden ist. Ich will sie als die „sym¬
bolischen Beleidigungen" bezeichnen. Es sind das solche, die weder, wie die
thätlichen, durch eine körperliche Einwirkung auf die Person des andern, noch,
wie die wörtlichen, durch mündliche oder schriftliche Rede begangen werden,
fondern durch Handlungen, die nach der Anschauung des Volkes oder be¬
stimmter, in dem betreffenden einzelnen Falle maßgebender Volkskreise, eine
Mißachtung ausdrücken. Dahin gehört z. B., wenn jemand vor einem andern
(mit erkennbarer Absichtlichkeit) ausspeit oder ihm die Zunge herausstreckt,
oder wenn er vor der Hausthüre des andern einen Häuser Unrat anstürmt,
oder endlich wenn er eine Achtnngsbezeugung unterläßt, auf die der andre
Anspruch hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/72>, abgerufen am 25.08.2024.