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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Meinungen und Äußerungen

anzunehmen, daß das Sitzenbleiben nur eine gesprochne Äußerung dieses In¬
halts vertrete und deshalb unter Artikel 30 falle. Sieht man dagegen in dem
Sitzenbleiben eine Handlung der Mißachtung schlechthin, gerichtet gegen die
Person des Monarchen, dann wird man es einer thätlichen Beleidigung unbe-
seelten und Artikel 30 ausschließen müssen.

Es ist natürlich, daß man sich bei der Entscheidung einer Frage, die sich
so zugespitzt hat, daß mau zuletzt vor zwei Möglichkeiten steht, die beide dem
Verstand als solche gleich annehmbar sind, schließlich nicht mehr durch Gründe
des Urteilens, sondern dnrch Beweggründe des Willens leiten läßt. So wird
es auch hier der Fall sein, und die Entscheidung wird deshalb schließlich ver¬
schieden ausfalle", je nach der Stellung, die man zu der ganzen Bestimmung
des Art. 30 der Verfassung einnimmt. Faßt man das den Abgeordneten
eingeräumte Vorrecht als eine an sich ungerechtfertigte Begünstigung, die nur
der besondern geschichtlichen und politischen Entwicklung ihr Dasein verdankt
und nur dadurch zu rechtfertigen ist, dann wird man natürlich eher geneigt
sein, einer solchen Durchbrechung der Rechtslogik möglichst enge Schranken
zu ziehen. Sieht man dagegen in der Bestimmung des Art. 30 nur eine
notwendige Folge des Verfassungsstaats, ohne die die Volksvertretung die
ihr verfassungsmäßig obliegenden Aufgaben überhaupt nicht erfüllen kann,
sieht man darin nur ein, wenn anch wesentlich beschränkteres, so doch
notwendiges Korrelat zu der verfassungsmäßigen allgemeinen Unverletzlich¬
keit des Monarchen, so wird man eine solche einengende Auslegung der Be¬
stimmung nicht für gerechtfertigt ansehen, sondern die strafrechtliche Unver¬
letzlichkeit auch ausdehnen wollen auf solche Handlungen und Unterlassungen,
die zwar nicht bestimmte mündliche Äußerungen vertreten, aber immerhin
nichts weiter als die logisch notwendige Folge und der Ausdruck einer
in Worten oft genug ausgesprochenen und dabei straflos bleibenden Partei¬
ansicht sind.

Wie man aber auch entscheiden mag, eins ist sicher: daß es für die
Rechtspflege kein Segen ist, in einer solchen Frage, die schließlich wesentlich
von politischen Gesichtspunkten beeinflußt wird, eine Entscheidung zu treffen
vermöge einer Auslegung, die, wenn sie anch wirklich von dem Standpunkt
der Logik gerechtfertigt ist, dem natürlichen Gefühl eines großen Teils des
Volkes -- und zwar je nachdem die Entscheidung ausfällt, dem einen oder
dem andern Teil -- künstlich erdacht erscheint, und die infolge dessen das
Vertrauen zu der Rechtspflege erschüttert. Besser wäre es, die Entscheidung
läge auch in dieser Frage in der Hand des Reichstags. Dies ließe sich da¬
durch erreichen, daß dein Art. 30 der Verfassung der Zusatz gegeben würde:
"Die Entscheidung darüber, inwieweit ans das Verhalten eines Mitglieds
diese Voraussetzungen zutreffen, steht dem Reichstag zu." Der dem Reichstag
vorgelegte Entwurf eiuer Abänderung der Strafprozeßordnung und des Ge-


Meinungen und Äußerungen

anzunehmen, daß das Sitzenbleiben nur eine gesprochne Äußerung dieses In¬
halts vertrete und deshalb unter Artikel 30 falle. Sieht man dagegen in dem
Sitzenbleiben eine Handlung der Mißachtung schlechthin, gerichtet gegen die
Person des Monarchen, dann wird man es einer thätlichen Beleidigung unbe-
seelten und Artikel 30 ausschließen müssen.

Es ist natürlich, daß man sich bei der Entscheidung einer Frage, die sich
so zugespitzt hat, daß mau zuletzt vor zwei Möglichkeiten steht, die beide dem
Verstand als solche gleich annehmbar sind, schließlich nicht mehr durch Gründe
des Urteilens, sondern dnrch Beweggründe des Willens leiten läßt. So wird
es auch hier der Fall sein, und die Entscheidung wird deshalb schließlich ver¬
schieden ausfalle», je nach der Stellung, die man zu der ganzen Bestimmung
des Art. 30 der Verfassung einnimmt. Faßt man das den Abgeordneten
eingeräumte Vorrecht als eine an sich ungerechtfertigte Begünstigung, die nur
der besondern geschichtlichen und politischen Entwicklung ihr Dasein verdankt
und nur dadurch zu rechtfertigen ist, dann wird man natürlich eher geneigt
sein, einer solchen Durchbrechung der Rechtslogik möglichst enge Schranken
zu ziehen. Sieht man dagegen in der Bestimmung des Art. 30 nur eine
notwendige Folge des Verfassungsstaats, ohne die die Volksvertretung die
ihr verfassungsmäßig obliegenden Aufgaben überhaupt nicht erfüllen kann,
sieht man darin nur ein, wenn anch wesentlich beschränkteres, so doch
notwendiges Korrelat zu der verfassungsmäßigen allgemeinen Unverletzlich¬
keit des Monarchen, so wird man eine solche einengende Auslegung der Be¬
stimmung nicht für gerechtfertigt ansehen, sondern die strafrechtliche Unver¬
letzlichkeit auch ausdehnen wollen auf solche Handlungen und Unterlassungen,
die zwar nicht bestimmte mündliche Äußerungen vertreten, aber immerhin
nichts weiter als die logisch notwendige Folge und der Ausdruck einer
in Worten oft genug ausgesprochenen und dabei straflos bleibenden Partei¬
ansicht sind.

Wie man aber auch entscheiden mag, eins ist sicher: daß es für die
Rechtspflege kein Segen ist, in einer solchen Frage, die schließlich wesentlich
von politischen Gesichtspunkten beeinflußt wird, eine Entscheidung zu treffen
vermöge einer Auslegung, die, wenn sie anch wirklich von dem Standpunkt
der Logik gerechtfertigt ist, dem natürlichen Gefühl eines großen Teils des
Volkes — und zwar je nachdem die Entscheidung ausfällt, dem einen oder
dem andern Teil — künstlich erdacht erscheint, und die infolge dessen das
Vertrauen zu der Rechtspflege erschüttert. Besser wäre es, die Entscheidung
läge auch in dieser Frage in der Hand des Reichstags. Dies ließe sich da¬
durch erreichen, daß dein Art. 30 der Verfassung der Zusatz gegeben würde:
„Die Entscheidung darüber, inwieweit ans das Verhalten eines Mitglieds
diese Voraussetzungen zutreffen, steht dem Reichstag zu." Der dem Reichstag
vorgelegte Entwurf eiuer Abänderung der Strafprozeßordnung und des Ge-


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[0074] Meinungen und Äußerungen anzunehmen, daß das Sitzenbleiben nur eine gesprochne Äußerung dieses In¬ halts vertrete und deshalb unter Artikel 30 falle. Sieht man dagegen in dem Sitzenbleiben eine Handlung der Mißachtung schlechthin, gerichtet gegen die Person des Monarchen, dann wird man es einer thätlichen Beleidigung unbe- seelten und Artikel 30 ausschließen müssen. Es ist natürlich, daß man sich bei der Entscheidung einer Frage, die sich so zugespitzt hat, daß mau zuletzt vor zwei Möglichkeiten steht, die beide dem Verstand als solche gleich annehmbar sind, schließlich nicht mehr durch Gründe des Urteilens, sondern dnrch Beweggründe des Willens leiten läßt. So wird es auch hier der Fall sein, und die Entscheidung wird deshalb schließlich ver¬ schieden ausfalle», je nach der Stellung, die man zu der ganzen Bestimmung des Art. 30 der Verfassung einnimmt. Faßt man das den Abgeordneten eingeräumte Vorrecht als eine an sich ungerechtfertigte Begünstigung, die nur der besondern geschichtlichen und politischen Entwicklung ihr Dasein verdankt und nur dadurch zu rechtfertigen ist, dann wird man natürlich eher geneigt sein, einer solchen Durchbrechung der Rechtslogik möglichst enge Schranken zu ziehen. Sieht man dagegen in der Bestimmung des Art. 30 nur eine notwendige Folge des Verfassungsstaats, ohne die die Volksvertretung die ihr verfassungsmäßig obliegenden Aufgaben überhaupt nicht erfüllen kann, sieht man darin nur ein, wenn anch wesentlich beschränkteres, so doch notwendiges Korrelat zu der verfassungsmäßigen allgemeinen Unverletzlich¬ keit des Monarchen, so wird man eine solche einengende Auslegung der Be¬ stimmung nicht für gerechtfertigt ansehen, sondern die strafrechtliche Unver¬ letzlichkeit auch ausdehnen wollen auf solche Handlungen und Unterlassungen, die zwar nicht bestimmte mündliche Äußerungen vertreten, aber immerhin nichts weiter als die logisch notwendige Folge und der Ausdruck einer in Worten oft genug ausgesprochenen und dabei straflos bleibenden Partei¬ ansicht sind. Wie man aber auch entscheiden mag, eins ist sicher: daß es für die Rechtspflege kein Segen ist, in einer solchen Frage, die schließlich wesentlich von politischen Gesichtspunkten beeinflußt wird, eine Entscheidung zu treffen vermöge einer Auslegung, die, wenn sie anch wirklich von dem Standpunkt der Logik gerechtfertigt ist, dem natürlichen Gefühl eines großen Teils des Volkes — und zwar je nachdem die Entscheidung ausfällt, dem einen oder dem andern Teil — künstlich erdacht erscheint, und die infolge dessen das Vertrauen zu der Rechtspflege erschüttert. Besser wäre es, die Entscheidung läge auch in dieser Frage in der Hand des Reichstags. Dies ließe sich da¬ durch erreichen, daß dein Art. 30 der Verfassung der Zusatz gegeben würde: „Die Entscheidung darüber, inwieweit ans das Verhalten eines Mitglieds diese Voraussetzungen zutreffen, steht dem Reichstag zu." Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf eiuer Abänderung der Strafprozeßordnung und des Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/74>, abgerufen am 22.07.2024.