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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Meinungen und Äußerungen

anficht aufgestellt und wird sie schwerlich sobald wieder fallen lassen. Es soll
deshalb hier nur untersucht werden, ob in rechtlicher Beziehung das Verhalten
Liebknechts, wenn man es mit dem Reichsgericht als Majestätsbeleidigung auf¬
faßt, durch deu Art. 30 der Reichsverfassung gedeckt wird.

Der Art. 30 schließt, abgesehen von der Abstimmung, die Strafverfolgung
der Mitglieder des Reichstags aus "wegen der in Ausübung ihres Berufs
gethanen Äußerungen." Der Zweck dieser Bestimmungen ebenso wie der des
Art. 84 der preußische" Verfassung ist offenbar der Schutz der Redefreiheit der
Abgeordneten. Ihr Ausgangspunkt ist der in der vvolMtion ot' riMs Kap. 9
niedergelegte und gesetzlich anerkannte Grundsatz des englischen Rechts, daß
kein Parlamentsmitglied wegen seiner Reden außerhalb des Parlaments zur
Verantwortung gezogen werden könne. Daß nur die Reden der Abgeordneten,
nicht auch ihr sonstiges Verhalten straflos sein sollte, läßt mit Deutlichkeit
gerade die Entwicklung dieser Bestimmung in der Geschichte der preußischen
Verfassung erkennen. Der preußische Verfassungsentwurf von 1848 schützte
die von den Abgeordneten gesprochnen Worte und Meinungen; die preußische
Verfassung vou 1851 die in der Kammer ausgesprochnen Meinungen, die Reichs-
verfassung und das Strafgesetzbuch "die (vou den Abgeordneten) in Ausübung
ihres Berufs gethanen Äußerungen." Allerdings sollten die Bestimmungen
des Art. 30 der Reichsverfassung und des § 11 des Neichsstrafgesetzbnchs eine
solche Auslegung, wie sie der Beschluß des Obertribuunls vom 29. Januar
1866 mit Art. 84 der preußischen Verfassung vorgenommen hatte, ausschließen,
enthielten also, wenigstens vom Standpunkt jenes Obertribunalsbeschlusses aus,
eine Erweiterung der bestehenden Bestimmungen, aber immer nur eine Er¬
weiterung der Redefreiheit. Nur eine solche war beabsichtigt, und nur eine
solche drückt die Verfassung aus. Man hat zwar gesagt, "Äußerungen" be¬
deuteten Willensäußerungen, Willensäußerungen seien aber auch alle Hand¬
lungen, wenigstens im strafrechtlichen Sinne. Denn nur solche Handlungen
seien strafbar, die auf den Willen des Thäters zurückzuführen (ihm zuzurechnen),
also Äußerungen dieses Willens seien. Eine solche Auslegung bedarf aber
keiner ernsten Widerlegung. "Eine Äußerung thun" heißt im Sprachgebrauch
durchweg und immer uur: etwas aussprechen, sei es mündlich oder schriftlich.
Kein vernünftiger Mensch wird auch daran zweifeln, daß nicht alle Handlungen
eines Abgeordneten bei Ausübung seines Berufs straflos sein können. Daß
der Schutz des Art. 30 der Verfassung nicht etwa einem Abgeordneten zu gute
kommen soll, der in einer Reichstagsverhandlung aus Ärger über höhnische
Zwischenrufe bei seiner Rede einen Revolver ans der Tasche zieht und seinen
Gegner niederschießt, das bedarf keiner Darlegung. Dasselbe gilt für deu in
andern Parlamenten ja schon jetzt nicht gerade seltenen Fall, wo die "ehren¬
werten" Mitglieder der Versammlung in der Hitze des Wvrtstreits schließlich
mit Fäusten, Stöcken u. dergl. aufeinander loszuschlagen beginnen. Ebenso


Meinungen und Äußerungen

anficht aufgestellt und wird sie schwerlich sobald wieder fallen lassen. Es soll
deshalb hier nur untersucht werden, ob in rechtlicher Beziehung das Verhalten
Liebknechts, wenn man es mit dem Reichsgericht als Majestätsbeleidigung auf¬
faßt, durch deu Art. 30 der Reichsverfassung gedeckt wird.

Der Art. 30 schließt, abgesehen von der Abstimmung, die Strafverfolgung
der Mitglieder des Reichstags aus „wegen der in Ausübung ihres Berufs
gethanen Äußerungen." Der Zweck dieser Bestimmungen ebenso wie der des
Art. 84 der preußische» Verfassung ist offenbar der Schutz der Redefreiheit der
Abgeordneten. Ihr Ausgangspunkt ist der in der vvolMtion ot' riMs Kap. 9
niedergelegte und gesetzlich anerkannte Grundsatz des englischen Rechts, daß
kein Parlamentsmitglied wegen seiner Reden außerhalb des Parlaments zur
Verantwortung gezogen werden könne. Daß nur die Reden der Abgeordneten,
nicht auch ihr sonstiges Verhalten straflos sein sollte, läßt mit Deutlichkeit
gerade die Entwicklung dieser Bestimmung in der Geschichte der preußischen
Verfassung erkennen. Der preußische Verfassungsentwurf von 1848 schützte
die von den Abgeordneten gesprochnen Worte und Meinungen; die preußische
Verfassung vou 1851 die in der Kammer ausgesprochnen Meinungen, die Reichs-
verfassung und das Strafgesetzbuch „die (vou den Abgeordneten) in Ausübung
ihres Berufs gethanen Äußerungen." Allerdings sollten die Bestimmungen
des Art. 30 der Reichsverfassung und des § 11 des Neichsstrafgesetzbnchs eine
solche Auslegung, wie sie der Beschluß des Obertribuunls vom 29. Januar
1866 mit Art. 84 der preußischen Verfassung vorgenommen hatte, ausschließen,
enthielten also, wenigstens vom Standpunkt jenes Obertribunalsbeschlusses aus,
eine Erweiterung der bestehenden Bestimmungen, aber immer nur eine Er¬
weiterung der Redefreiheit. Nur eine solche war beabsichtigt, und nur eine
solche drückt die Verfassung aus. Man hat zwar gesagt, „Äußerungen" be¬
deuteten Willensäußerungen, Willensäußerungen seien aber auch alle Hand¬
lungen, wenigstens im strafrechtlichen Sinne. Denn nur solche Handlungen
seien strafbar, die auf den Willen des Thäters zurückzuführen (ihm zuzurechnen),
also Äußerungen dieses Willens seien. Eine solche Auslegung bedarf aber
keiner ernsten Widerlegung. „Eine Äußerung thun" heißt im Sprachgebrauch
durchweg und immer uur: etwas aussprechen, sei es mündlich oder schriftlich.
Kein vernünftiger Mensch wird auch daran zweifeln, daß nicht alle Handlungen
eines Abgeordneten bei Ausübung seines Berufs straflos sein können. Daß
der Schutz des Art. 30 der Verfassung nicht etwa einem Abgeordneten zu gute
kommen soll, der in einer Reichstagsverhandlung aus Ärger über höhnische
Zwischenrufe bei seiner Rede einen Revolver ans der Tasche zieht und seinen
Gegner niederschießt, das bedarf keiner Darlegung. Dasselbe gilt für deu in
andern Parlamenten ja schon jetzt nicht gerade seltenen Fall, wo die „ehren¬
werten" Mitglieder der Versammlung in der Hitze des Wvrtstreits schließlich
mit Fäusten, Stöcken u. dergl. aufeinander loszuschlagen beginnen. Ebenso


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/71>, abgerufen am 23.07.2024.