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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Meinungen und Äußerungen

daß die Untersuchung gegen Liebknecht während der jetzigen Tagung des Reichs¬
tags fortgeführt wird. Sobald die Sitzungsperiode vorüber ist, kann und
wird jedenfalls der Staatsnnwalt das Verfahren fortsetzen. Allerdings hat
der Reichstag bei der Versagung seiner Genehmigung zum Ausdruck gebracht,
daß er die Verfolgung Liebknechts während dieser Sitzungsperiode deswegen
nicht genehmige, weil er sie nach Artikel 30 der Verfassung für unzulässig
halte. Allein diese Nechtsansicht bindet weder die Staatsanwaltschaft noch die
Gerichte. Setzt die Staatsanwaltschaft nach Schluß der Tagung die Verfol¬
gung fort, so hängt zunächst die Eröffnung des Hanptverfahrens von der Ent¬
scheidung der nach der Geschäftsverteilung zuständigen Strafkammer des Land¬
gerichts in Berlin ab, die dabei in einer Besetzung von drei Richtern beschließt
(die sogenannte Bcschlnßkammer). Lehnt diese die Eröffnung ab, so entscheidet
über die Beschwerde, die der Staatsanwaltschaft für diesen Fall zusteht, das
Kammergericht in Berlin. Lehnt auch das Kammergericht die Eröffnung des
Hauptverfahrens ab, so ist damit die Sache endgiltig erledigt. Eröffnet da¬
gegen das Landgericht oder auf die Beschwerde hin das Kammergericht das
Hauptverfahren, so entscheidet in der Hauptverhandlung die Strafkammer des
Landgerichts in Berlin in einer Besetzung von fünf Richtern, und gegen deren
-- freisprechendes oder verurteilendes -- Urteil steht der Staatsanwaltschaft
oder dem Angeklagten die Revision an das Reichsgericht offen, das dann
ebenfalls endgiltig entscheidet. Bei allen diesen Entscheidungen muß natürlich
die Frage, ob Artikel 30 der Verfassung auf den Fall anzuwenden sei, in erster
Linie erörtert und entschieden werden.

Das Reichsgericht hat bereits mehrmals den Grundsatz aufgestellt, daß
eine Majestätsbeleidigung auch durch Unterlassung der üblichen Ehrfurchts¬
bezeugung begangen werden könne, namentlich auch durch Sitzenbleiben bei einem
Hoch auf den Kaiser, wenn dieses bei einer angemessenen Gelegenheit, wo es
nach der Sitte des Volkes üblich ist, ausgebracht wird. Daß diese Voraus¬
setzung hier zutrifft, kann nicht angezweifelt werden. Von der Entschuldigung
Liebknechts, er habe von der Absicht des Präsidenten, ein Hoch auszubringen,
nichts gewußt und sei davon überrascht worden, müssen wir hier absehen;
ihre Wahrheit und die Bedeutung des vorgeschützten Umstandes laßt sich nur
an der Hand thatsächlicher Ermittlungen feststellen, an denen es jetzt noch fehlt.
Ich gehe also für diese Erörterung davon ans, daß Liebknecht absichtlich sitzen
geblieben sei, obwohl er die Absicht des Präsidenten kannte. Auch die Nichtig¬
keit des vom Reichsgericht vertretnen Grundsatzes über die Begehung von
Majestätsbeleidigungen durch derartige Unterlassungen soll hier nicht weiter
erörtert werden. Gewiß hatte der Abgeordnete Nveren Recht, wenn er be¬
merkte, daß ein Akt der Huldigung, wie das Hoch auf den Kaiser, nicht da¬
durch seines Wertes beraubt werden sollte, daß das Einstimmen in das Hoch
nicht mehr freiwillig sei. Doch das Reichsgericht hat nun einmal die Rechts-


Meinungen und Äußerungen

daß die Untersuchung gegen Liebknecht während der jetzigen Tagung des Reichs¬
tags fortgeführt wird. Sobald die Sitzungsperiode vorüber ist, kann und
wird jedenfalls der Staatsnnwalt das Verfahren fortsetzen. Allerdings hat
der Reichstag bei der Versagung seiner Genehmigung zum Ausdruck gebracht,
daß er die Verfolgung Liebknechts während dieser Sitzungsperiode deswegen
nicht genehmige, weil er sie nach Artikel 30 der Verfassung für unzulässig
halte. Allein diese Nechtsansicht bindet weder die Staatsanwaltschaft noch die
Gerichte. Setzt die Staatsanwaltschaft nach Schluß der Tagung die Verfol¬
gung fort, so hängt zunächst die Eröffnung des Hanptverfahrens von der Ent¬
scheidung der nach der Geschäftsverteilung zuständigen Strafkammer des Land¬
gerichts in Berlin ab, die dabei in einer Besetzung von drei Richtern beschließt
(die sogenannte Bcschlnßkammer). Lehnt diese die Eröffnung ab, so entscheidet
über die Beschwerde, die der Staatsanwaltschaft für diesen Fall zusteht, das
Kammergericht in Berlin. Lehnt auch das Kammergericht die Eröffnung des
Hauptverfahrens ab, so ist damit die Sache endgiltig erledigt. Eröffnet da¬
gegen das Landgericht oder auf die Beschwerde hin das Kammergericht das
Hauptverfahren, so entscheidet in der Hauptverhandlung die Strafkammer des
Landgerichts in Berlin in einer Besetzung von fünf Richtern, und gegen deren
— freisprechendes oder verurteilendes — Urteil steht der Staatsanwaltschaft
oder dem Angeklagten die Revision an das Reichsgericht offen, das dann
ebenfalls endgiltig entscheidet. Bei allen diesen Entscheidungen muß natürlich
die Frage, ob Artikel 30 der Verfassung auf den Fall anzuwenden sei, in erster
Linie erörtert und entschieden werden.

Das Reichsgericht hat bereits mehrmals den Grundsatz aufgestellt, daß
eine Majestätsbeleidigung auch durch Unterlassung der üblichen Ehrfurchts¬
bezeugung begangen werden könne, namentlich auch durch Sitzenbleiben bei einem
Hoch auf den Kaiser, wenn dieses bei einer angemessenen Gelegenheit, wo es
nach der Sitte des Volkes üblich ist, ausgebracht wird. Daß diese Voraus¬
setzung hier zutrifft, kann nicht angezweifelt werden. Von der Entschuldigung
Liebknechts, er habe von der Absicht des Präsidenten, ein Hoch auszubringen,
nichts gewußt und sei davon überrascht worden, müssen wir hier absehen;
ihre Wahrheit und die Bedeutung des vorgeschützten Umstandes laßt sich nur
an der Hand thatsächlicher Ermittlungen feststellen, an denen es jetzt noch fehlt.
Ich gehe also für diese Erörterung davon ans, daß Liebknecht absichtlich sitzen
geblieben sei, obwohl er die Absicht des Präsidenten kannte. Auch die Nichtig¬
keit des vom Reichsgericht vertretnen Grundsatzes über die Begehung von
Majestätsbeleidigungen durch derartige Unterlassungen soll hier nicht weiter
erörtert werden. Gewiß hatte der Abgeordnete Nveren Recht, wenn er be¬
merkte, daß ein Akt der Huldigung, wie das Hoch auf den Kaiser, nicht da¬
durch seines Wertes beraubt werden sollte, daß das Einstimmen in das Hoch
nicht mehr freiwillig sei. Doch das Reichsgericht hat nun einmal die Rechts-


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[0070] Meinungen und Äußerungen daß die Untersuchung gegen Liebknecht während der jetzigen Tagung des Reichs¬ tags fortgeführt wird. Sobald die Sitzungsperiode vorüber ist, kann und wird jedenfalls der Staatsnnwalt das Verfahren fortsetzen. Allerdings hat der Reichstag bei der Versagung seiner Genehmigung zum Ausdruck gebracht, daß er die Verfolgung Liebknechts während dieser Sitzungsperiode deswegen nicht genehmige, weil er sie nach Artikel 30 der Verfassung für unzulässig halte. Allein diese Nechtsansicht bindet weder die Staatsanwaltschaft noch die Gerichte. Setzt die Staatsanwaltschaft nach Schluß der Tagung die Verfol¬ gung fort, so hängt zunächst die Eröffnung des Hanptverfahrens von der Ent¬ scheidung der nach der Geschäftsverteilung zuständigen Strafkammer des Land¬ gerichts in Berlin ab, die dabei in einer Besetzung von drei Richtern beschließt (die sogenannte Bcschlnßkammer). Lehnt diese die Eröffnung ab, so entscheidet über die Beschwerde, die der Staatsanwaltschaft für diesen Fall zusteht, das Kammergericht in Berlin. Lehnt auch das Kammergericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, so ist damit die Sache endgiltig erledigt. Eröffnet da¬ gegen das Landgericht oder auf die Beschwerde hin das Kammergericht das Hauptverfahren, so entscheidet in der Hauptverhandlung die Strafkammer des Landgerichts in Berlin in einer Besetzung von fünf Richtern, und gegen deren — freisprechendes oder verurteilendes — Urteil steht der Staatsanwaltschaft oder dem Angeklagten die Revision an das Reichsgericht offen, das dann ebenfalls endgiltig entscheidet. Bei allen diesen Entscheidungen muß natürlich die Frage, ob Artikel 30 der Verfassung auf den Fall anzuwenden sei, in erster Linie erörtert und entschieden werden. Das Reichsgericht hat bereits mehrmals den Grundsatz aufgestellt, daß eine Majestätsbeleidigung auch durch Unterlassung der üblichen Ehrfurchts¬ bezeugung begangen werden könne, namentlich auch durch Sitzenbleiben bei einem Hoch auf den Kaiser, wenn dieses bei einer angemessenen Gelegenheit, wo es nach der Sitte des Volkes üblich ist, ausgebracht wird. Daß diese Voraus¬ setzung hier zutrifft, kann nicht angezweifelt werden. Von der Entschuldigung Liebknechts, er habe von der Absicht des Präsidenten, ein Hoch auszubringen, nichts gewußt und sei davon überrascht worden, müssen wir hier absehen; ihre Wahrheit und die Bedeutung des vorgeschützten Umstandes laßt sich nur an der Hand thatsächlicher Ermittlungen feststellen, an denen es jetzt noch fehlt. Ich gehe also für diese Erörterung davon ans, daß Liebknecht absichtlich sitzen geblieben sei, obwohl er die Absicht des Präsidenten kannte. Auch die Nichtig¬ keit des vom Reichsgericht vertretnen Grundsatzes über die Begehung von Majestätsbeleidigungen durch derartige Unterlassungen soll hier nicht weiter erörtert werden. Gewiß hatte der Abgeordnete Nveren Recht, wenn er be¬ merkte, daß ein Akt der Huldigung, wie das Hoch auf den Kaiser, nicht da¬ durch seines Wertes beraubt werden sollte, daß das Einstimmen in das Hoch nicht mehr freiwillig sei. Doch das Reichsgericht hat nun einmal die Rechts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/70>, abgerufen am 23.07.2024.