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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Meinungen und Äußerungen

gedeckt gewesen waren, von Verrat und Majestätsbeleidigung herunter bis zu
den gewöhnlichen Injurien." "Ihre Meinung, fuhr Bismarck fort, können
Sie auch heute noch frei aussprechen, aber Verleumdungen, Beleidigungen
und Verbrechen sind keine Meinungen, sind Handlungen, und gegen die Folgen
dieser Handlungen schützt Sie das Preußische Gesetz meines Erachtens nicht,
oder sollte Sie nicht schützen."

Zufolge jenes Obertribunalsbeschlnsfes wurde bei der Abfassung der
Verfassung des Norddeutschen Bundes und später des deutschen Reichs ein
andrer Wortlaut gewählt, der solche künstliche Auslegungen unmöglich machen
sollte. So erhielt der Art. 30 der Reichsverfassung seine jetzige Fassung:
"Kein Mitglied des Reichstags darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Ab¬
stimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs gethanen Äußerungen
gerichtlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung
gezogen werden." Im wesentlichen wörtlich übereinstimmend enthält der 8 II
des Neichsstrafgesctzbuchs dieselbe Vorschrift zu Gunsten der Mitglieder der
Landtage und Kammern der Bundesstaaten.

Besonders infolge des Mißtrauens, das durch den Obertribunalsbeschlnß
gegen den höchsten Gerichtshof Preußens Platz gegriffen hatte, wurde später
zum Sitz des Reichsgerichts nicht Berlin, sondern Leipzig gewählt. Man
hielt hier das Gericht höhern Einflüssen für weniger ausgesetzt. Auch wurde
die Zuziehung von Hilssrichtern beim Reichsgericht verboten, weil in dem
Senat des Obertribunals, der den Beschluß vom 29. Januar 1866 gefaßt
hatte, mehrere Hilfsrichter mitgewirkt hatten, denen man hauptsächlich das
Zustandekommen des Beschlusses zuschrieb.

Wenn man aber bei dem für die Reichsverfassung gewählten Wortlaut
geglaubt hat, alle Zweifel über den Umfang und die Tragweite der Bestim¬
mung auszuschließen, so hat man sich, wie der jetzige Vorfall zeigt, geirrt.
Ebenso scharf wie damals platzen anch jetzt wieder die Geister auf einander, so
reinlich nach Parteien gesondert, wie man es in einer Rechtsfrage wohl nur
in Deutschland erleben kann. Natürlich herrschen dabei in den Erörterungen
mehr die Schlagwörter als klare Begriffe, und zwar nicht bloß in den Zei¬
tungen, sondern, wenn man den Berichten der Tagesblätter trauen darf, auch
in den Reden der Abgeordneten, in der Geschäftsordnnngskvinmission wie im
Reichstage selbst. Es dürfte sich daher wohl empfehlen, die Angelegenheit
einmal ganz unbefangen, nüchtern und sachlich zu prüfen, weder vom Stand-
Punkt einer politischen Partei, noch von dem des Staatsanwalts aus, aber
auch nicht vom Standpunkt des Reichstagsabgeordneten, der dem Antrag der
Staatsanwaltschaft gegenüber gemissermaßen sein Hausrecht wahren zu müssen
glaubt. Eine solche Prüfung ist durch deu Beschluß des Reichstags vom
15. Dezember, wodurch der Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden
ist, keineswegs überflüssig geworden. Denn dieser Beschluß verhindert nur,


Meinungen und Äußerungen

gedeckt gewesen waren, von Verrat und Majestätsbeleidigung herunter bis zu
den gewöhnlichen Injurien." „Ihre Meinung, fuhr Bismarck fort, können
Sie auch heute noch frei aussprechen, aber Verleumdungen, Beleidigungen
und Verbrechen sind keine Meinungen, sind Handlungen, und gegen die Folgen
dieser Handlungen schützt Sie das Preußische Gesetz meines Erachtens nicht,
oder sollte Sie nicht schützen."

Zufolge jenes Obertribunalsbeschlnsfes wurde bei der Abfassung der
Verfassung des Norddeutschen Bundes und später des deutschen Reichs ein
andrer Wortlaut gewählt, der solche künstliche Auslegungen unmöglich machen
sollte. So erhielt der Art. 30 der Reichsverfassung seine jetzige Fassung:
„Kein Mitglied des Reichstags darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Ab¬
stimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs gethanen Äußerungen
gerichtlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung
gezogen werden." Im wesentlichen wörtlich übereinstimmend enthält der 8 II
des Neichsstrafgesctzbuchs dieselbe Vorschrift zu Gunsten der Mitglieder der
Landtage und Kammern der Bundesstaaten.

Besonders infolge des Mißtrauens, das durch den Obertribunalsbeschlnß
gegen den höchsten Gerichtshof Preußens Platz gegriffen hatte, wurde später
zum Sitz des Reichsgerichts nicht Berlin, sondern Leipzig gewählt. Man
hielt hier das Gericht höhern Einflüssen für weniger ausgesetzt. Auch wurde
die Zuziehung von Hilssrichtern beim Reichsgericht verboten, weil in dem
Senat des Obertribunals, der den Beschluß vom 29. Januar 1866 gefaßt
hatte, mehrere Hilfsrichter mitgewirkt hatten, denen man hauptsächlich das
Zustandekommen des Beschlusses zuschrieb.

Wenn man aber bei dem für die Reichsverfassung gewählten Wortlaut
geglaubt hat, alle Zweifel über den Umfang und die Tragweite der Bestim¬
mung auszuschließen, so hat man sich, wie der jetzige Vorfall zeigt, geirrt.
Ebenso scharf wie damals platzen anch jetzt wieder die Geister auf einander, so
reinlich nach Parteien gesondert, wie man es in einer Rechtsfrage wohl nur
in Deutschland erleben kann. Natürlich herrschen dabei in den Erörterungen
mehr die Schlagwörter als klare Begriffe, und zwar nicht bloß in den Zei¬
tungen, sondern, wenn man den Berichten der Tagesblätter trauen darf, auch
in den Reden der Abgeordneten, in der Geschäftsordnnngskvinmission wie im
Reichstage selbst. Es dürfte sich daher wohl empfehlen, die Angelegenheit
einmal ganz unbefangen, nüchtern und sachlich zu prüfen, weder vom Stand-
Punkt einer politischen Partei, noch von dem des Staatsanwalts aus, aber
auch nicht vom Standpunkt des Reichstagsabgeordneten, der dem Antrag der
Staatsanwaltschaft gegenüber gemissermaßen sein Hausrecht wahren zu müssen
glaubt. Eine solche Prüfung ist durch deu Beschluß des Reichstags vom
15. Dezember, wodurch der Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden
ist, keineswegs überflüssig geworden. Denn dieser Beschluß verhindert nur,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/69>, abgerufen am 03.07.2024.