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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der feinen Sitte

der Hauptzweck unsrer heutige" sogenannten klassischen Bildung!) verloren ge¬
gangen war, wäre man ohne die Frauen in Italien gewiß nicht so früh zu
einem abgeklärten Ausdruck des geistigen Geselligkeitstriebs gekommen. Es ist
sofort zu fühlen, wieviel weniger geistig gleich der Ton wird, wenn Frauen
fehlen oder nicht den Einfluß haben, so, um nur einige Beispiele zu geben,
bei vielen der Humanisten, in lateinischen Schriften überhaupt, in den Ge¬
sellschaftskreisen, aus denen Pontalto schöpft. Jedenfalls steht fest, daß es
dafür seit den Zeiten des Altertums keinen Ersatz gegeben hat vor den ita¬
lienisch geschriebnen Dialogen und Traktaten der bessern Zeit, an deren erstem
Anfange als ehrfurchtgebietendes Denkmal Dantes Vita nuovg. steht.

Die Frauen vorzugsweise fordern von jeder Lebensäußerung Grazie, das
ist jenes löMmäro, das ihr eignes ständiges Beiwort in Versen und Novellen
ist. Die Grazie geht dann auch auf das Wort als Mittel des geistigen Ver¬
kehrs über. Keiner von all diesen Negelschreibern geht an diesem wichtigen Kenn¬
zeichen eines durchgebildeten Menschen vorüber. Aber am eigentümlichsten
sucht Ccistiglione in die Natur der Grazie einzudringen. Wer sie nicht von
Geburt an hat, sagt er, kann sie sich wohl anerziehen. Sie ist das Gegenteil
der Affektation, eine Art Nachlässigkeit l>xreWg,t>v.rii), die die Kunst und das
Bemühen verstecken soll. Ohne Mühe, ohne Gedanken muß jede Handlung zu
erfolgen scheinen, denn alle Anstrengung und jedes übermüßige Aufachten
mißfällt, während die wirkliche Grazie den nebenbei für den betreffenden oft
noch recht vorteilhaften Eindruck erweckt: was muß dieser Mensch, dem alles
von selbst gelingt, erst leisten können, wenn er sich einmal wirklich Mühe
giebt! So soll man auch dem sprachlichen Ausdruck das Studium nicht an¬
merken; er soll erscheinen wie die Natur, worin auch die große Wirkung der
antiken Redner lag. Wo nun in diesen Regeln über das, was und wie man
sprechen soll, eine Begründung gegeben wird, da beruht diese selten auf einer
Rücksicht des Herzens. Den Italiener interessirt entweder der Erfolg, der
Nutzen -- jede Unterhaltung ist eine Art Kampf -- oder das kunstmäßige
der Sache, das er dann theoretisch zergliedert. Die Anweisung geht also stets
mehr auf das Vorteilhafte aus, auf das äußerlich Feine, als "uf das an sich
Gute und das andern Wohlthuende. So z. B. wenn von allen Seiten ge¬
warnt wird vor Scherzen über rücksichtslose, heftige Menschen oder über
Männer in Stellung, die ihren Einfluß nicht umsonst haben, oder über
wirklich Unglückliche, weil dabei keine Ehre, kein Erfolg der Unterhaltung zu
gewinnen sei, über körperlich Gebrechliche oder Entstellte, namentlich durch
Nachahmen oder Grimassen, weil diese den Künstler selbst am wenigsten schön
kleiden u. s. w. Die Moral steht also nicht hoch, auch wenn sie einmal, wie
bei della Casa, von Scherzen über schwere Verfehlungen darum abrät, weil
ihre Trüger dann meinen könnten, es handle sich um unbedeutende, scherzhafte
Dinge; wo das Lachen unpassend sein würde, paßt auch kein Scherz. Bis-


Zur Geschichte der feinen Sitte

der Hauptzweck unsrer heutige» sogenannten klassischen Bildung!) verloren ge¬
gangen war, wäre man ohne die Frauen in Italien gewiß nicht so früh zu
einem abgeklärten Ausdruck des geistigen Geselligkeitstriebs gekommen. Es ist
sofort zu fühlen, wieviel weniger geistig gleich der Ton wird, wenn Frauen
fehlen oder nicht den Einfluß haben, so, um nur einige Beispiele zu geben,
bei vielen der Humanisten, in lateinischen Schriften überhaupt, in den Ge¬
sellschaftskreisen, aus denen Pontalto schöpft. Jedenfalls steht fest, daß es
dafür seit den Zeiten des Altertums keinen Ersatz gegeben hat vor den ita¬
lienisch geschriebnen Dialogen und Traktaten der bessern Zeit, an deren erstem
Anfange als ehrfurchtgebietendes Denkmal Dantes Vita nuovg. steht.

Die Frauen vorzugsweise fordern von jeder Lebensäußerung Grazie, das
ist jenes löMmäro, das ihr eignes ständiges Beiwort in Versen und Novellen
ist. Die Grazie geht dann auch auf das Wort als Mittel des geistigen Ver¬
kehrs über. Keiner von all diesen Negelschreibern geht an diesem wichtigen Kenn¬
zeichen eines durchgebildeten Menschen vorüber. Aber am eigentümlichsten
sucht Ccistiglione in die Natur der Grazie einzudringen. Wer sie nicht von
Geburt an hat, sagt er, kann sie sich wohl anerziehen. Sie ist das Gegenteil
der Affektation, eine Art Nachlässigkeit l>xreWg,t>v.rii), die die Kunst und das
Bemühen verstecken soll. Ohne Mühe, ohne Gedanken muß jede Handlung zu
erfolgen scheinen, denn alle Anstrengung und jedes übermüßige Aufachten
mißfällt, während die wirkliche Grazie den nebenbei für den betreffenden oft
noch recht vorteilhaften Eindruck erweckt: was muß dieser Mensch, dem alles
von selbst gelingt, erst leisten können, wenn er sich einmal wirklich Mühe
giebt! So soll man auch dem sprachlichen Ausdruck das Studium nicht an¬
merken; er soll erscheinen wie die Natur, worin auch die große Wirkung der
antiken Redner lag. Wo nun in diesen Regeln über das, was und wie man
sprechen soll, eine Begründung gegeben wird, da beruht diese selten auf einer
Rücksicht des Herzens. Den Italiener interessirt entweder der Erfolg, der
Nutzen — jede Unterhaltung ist eine Art Kampf — oder das kunstmäßige
der Sache, das er dann theoretisch zergliedert. Die Anweisung geht also stets
mehr auf das Vorteilhafte aus, auf das äußerlich Feine, als «uf das an sich
Gute und das andern Wohlthuende. So z. B. wenn von allen Seiten ge¬
warnt wird vor Scherzen über rücksichtslose, heftige Menschen oder über
Männer in Stellung, die ihren Einfluß nicht umsonst haben, oder über
wirklich Unglückliche, weil dabei keine Ehre, kein Erfolg der Unterhaltung zu
gewinnen sei, über körperlich Gebrechliche oder Entstellte, namentlich durch
Nachahmen oder Grimassen, weil diese den Künstler selbst am wenigsten schön
kleiden u. s. w. Die Moral steht also nicht hoch, auch wenn sie einmal, wie
bei della Casa, von Scherzen über schwere Verfehlungen darum abrät, weil
ihre Trüger dann meinen könnten, es handle sich um unbedeutende, scherzhafte
Dinge; wo das Lachen unpassend sein würde, paßt auch kein Scherz. Bis-


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[0636] Zur Geschichte der feinen Sitte der Hauptzweck unsrer heutige» sogenannten klassischen Bildung!) verloren ge¬ gangen war, wäre man ohne die Frauen in Italien gewiß nicht so früh zu einem abgeklärten Ausdruck des geistigen Geselligkeitstriebs gekommen. Es ist sofort zu fühlen, wieviel weniger geistig gleich der Ton wird, wenn Frauen fehlen oder nicht den Einfluß haben, so, um nur einige Beispiele zu geben, bei vielen der Humanisten, in lateinischen Schriften überhaupt, in den Ge¬ sellschaftskreisen, aus denen Pontalto schöpft. Jedenfalls steht fest, daß es dafür seit den Zeiten des Altertums keinen Ersatz gegeben hat vor den ita¬ lienisch geschriebnen Dialogen und Traktaten der bessern Zeit, an deren erstem Anfange als ehrfurchtgebietendes Denkmal Dantes Vita nuovg. steht. Die Frauen vorzugsweise fordern von jeder Lebensäußerung Grazie, das ist jenes löMmäro, das ihr eignes ständiges Beiwort in Versen und Novellen ist. Die Grazie geht dann auch auf das Wort als Mittel des geistigen Ver¬ kehrs über. Keiner von all diesen Negelschreibern geht an diesem wichtigen Kenn¬ zeichen eines durchgebildeten Menschen vorüber. Aber am eigentümlichsten sucht Ccistiglione in die Natur der Grazie einzudringen. Wer sie nicht von Geburt an hat, sagt er, kann sie sich wohl anerziehen. Sie ist das Gegenteil der Affektation, eine Art Nachlässigkeit l>xreWg,t>v.rii), die die Kunst und das Bemühen verstecken soll. Ohne Mühe, ohne Gedanken muß jede Handlung zu erfolgen scheinen, denn alle Anstrengung und jedes übermüßige Aufachten mißfällt, während die wirkliche Grazie den nebenbei für den betreffenden oft noch recht vorteilhaften Eindruck erweckt: was muß dieser Mensch, dem alles von selbst gelingt, erst leisten können, wenn er sich einmal wirklich Mühe giebt! So soll man auch dem sprachlichen Ausdruck das Studium nicht an¬ merken; er soll erscheinen wie die Natur, worin auch die große Wirkung der antiken Redner lag. Wo nun in diesen Regeln über das, was und wie man sprechen soll, eine Begründung gegeben wird, da beruht diese selten auf einer Rücksicht des Herzens. Den Italiener interessirt entweder der Erfolg, der Nutzen — jede Unterhaltung ist eine Art Kampf — oder das kunstmäßige der Sache, das er dann theoretisch zergliedert. Die Anweisung geht also stets mehr auf das Vorteilhafte aus, auf das äußerlich Feine, als «uf das an sich Gute und das andern Wohlthuende. So z. B. wenn von allen Seiten ge¬ warnt wird vor Scherzen über rücksichtslose, heftige Menschen oder über Männer in Stellung, die ihren Einfluß nicht umsonst haben, oder über wirklich Unglückliche, weil dabei keine Ehre, kein Erfolg der Unterhaltung zu gewinnen sei, über körperlich Gebrechliche oder Entstellte, namentlich durch Nachahmen oder Grimassen, weil diese den Künstler selbst am wenigsten schön kleiden u. s. w. Die Moral steht also nicht hoch, auch wenn sie einmal, wie bei della Casa, von Scherzen über schwere Verfehlungen darum abrät, weil ihre Trüger dann meinen könnten, es handle sich um unbedeutende, scherzhafte Dinge; wo das Lachen unpassend sein würde, paßt auch kein Scherz. Bis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/636>, abgerufen am 28.06.2024.