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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der feinen Sitte

nun seinen ganzen Stoff in drei Gruppen: geistreiche Aussprüche, Scherzhaftes
und Erzählung, diese mit vielen Unterarten, und untersucht dann, worin der
Witz, die Spitze, die entscheidende Wendung besteht, so wie der Dialektiker die
Fundorte der Argumente feststellt, und zwar immer mit Beispielen. Also
die Kunst der Sache soll gezeigt, der Fähigkeit dazu soll ein Hilfsmittel ge¬
geben werden. Vielerlei wird hier gelehrt. So, daß man Witze nicht lachend,
sondern mit bestimmt zurechtgelegten Gesichtszügen vortragen soll, ferner wie
man unanständige Dinge vortragen kann, wenn es doch einmal sein muß, oder
welche Wirkung man auf anderweite Angriffe durch Stillschweigen oder Ab¬
lenken erzielen kann. Sogar die komische Kraft der albernen Silbenstechereien,
die andre, wie della Casa, ganz verwerfen, wird hier noch auf ihre Grundlage
hin geprüft.

Es war aber auch für eine solche Wissenschaft in der feinen Gesellschaft
damals großes Bedürfnis vorhanden. Pontalto erzählt von einem Kardinal
in Florenz, der sich witzige Kinder von der Gasse vorführen zu lassen pflegte
und dabei einmal eine ergötzliche Erfahrung machte. Als er nämlich zu seiner
Umgebung gewandt sagte, derartige Jungen würden leider in der Regel, wenn
sie heranwuchsen, sehr viel dümmer, rief das betreffende Wunderkind: "Herr
Kardinal, dann seid Ihr gewiß als Kind einmal sehr klug gewesen," sodaß die
Anwesenden das Lachen nicht unterdrücken konnten und der hohe Herr klug
genug war, mit zu lachen.

Nicht diesen geistigen Genüssen des feinen Lebens wollen wir uns zunächst
zuwenden, wenn wir nun einzelne Beobachtungen zu einem Bilde zusammen¬
zufassen versuchen. Wir möchten zuerst noch bei einigen Äußerlichkeiten ver¬
weilen. Eine große Rolle spielt in allen diesen Büchern das Essen und Trinken,
aber nicht das Was, sondern das Wie. Sie enthalten darüber so viele Vor¬
schriften mit abschreckenden Beispielen und mit ausgeführten Vergleichen aus
naheliegenden Abteilungen der Zoologie, daß die Ansprüche in dieser Richtung
nur bescheiden gewesen sein können. Diese Schwäche des Südländers tritt
gegenüber den sonstigen Kulturfortschritten in Italien besonders stark hervor.
Nicht alle waren demnach so gelehrig wie jener Graf, der einst, wie im Galateo
erzählt wird, lange bei einem Bischof von Verona zu Gaste war und, übrigens
ein Spiegel aller ritterlichen Tugend, durch sein unappetitliches Essen be¬
dauerlicherweise Anstoß erregte. Als er sich am letzten Abend von seinein
Wirte verabschiedet hatte, gab dieser einem Kavalier einen geheimen Auftrag
für den folgenden Morgen, wo der Fremde abreisen wollte. Der Graf sah
sich, als er zu Pferde gestiegen war, zu seinem Erstaunen von jenem Herrn
auf eine ganze Strecke des Weges begleitet. Endlich wandte dieser sein Roß
und sagte: "Mein Herr, der Bischof, läßt Euch durch mich ein Abschieds¬
geschenk reichen, und zwar ein ganz besondres, weil Euch das ein andrer
schwerlich geben würde. Er läßt herzlich bedauern, daß ein so seiner Herr


Zur Geschichte der feinen Sitte

nun seinen ganzen Stoff in drei Gruppen: geistreiche Aussprüche, Scherzhaftes
und Erzählung, diese mit vielen Unterarten, und untersucht dann, worin der
Witz, die Spitze, die entscheidende Wendung besteht, so wie der Dialektiker die
Fundorte der Argumente feststellt, und zwar immer mit Beispielen. Also
die Kunst der Sache soll gezeigt, der Fähigkeit dazu soll ein Hilfsmittel ge¬
geben werden. Vielerlei wird hier gelehrt. So, daß man Witze nicht lachend,
sondern mit bestimmt zurechtgelegten Gesichtszügen vortragen soll, ferner wie
man unanständige Dinge vortragen kann, wenn es doch einmal sein muß, oder
welche Wirkung man auf anderweite Angriffe durch Stillschweigen oder Ab¬
lenken erzielen kann. Sogar die komische Kraft der albernen Silbenstechereien,
die andre, wie della Casa, ganz verwerfen, wird hier noch auf ihre Grundlage
hin geprüft.

Es war aber auch für eine solche Wissenschaft in der feinen Gesellschaft
damals großes Bedürfnis vorhanden. Pontalto erzählt von einem Kardinal
in Florenz, der sich witzige Kinder von der Gasse vorführen zu lassen pflegte
und dabei einmal eine ergötzliche Erfahrung machte. Als er nämlich zu seiner
Umgebung gewandt sagte, derartige Jungen würden leider in der Regel, wenn
sie heranwuchsen, sehr viel dümmer, rief das betreffende Wunderkind: „Herr
Kardinal, dann seid Ihr gewiß als Kind einmal sehr klug gewesen," sodaß die
Anwesenden das Lachen nicht unterdrücken konnten und der hohe Herr klug
genug war, mit zu lachen.

Nicht diesen geistigen Genüssen des feinen Lebens wollen wir uns zunächst
zuwenden, wenn wir nun einzelne Beobachtungen zu einem Bilde zusammen¬
zufassen versuchen. Wir möchten zuerst noch bei einigen Äußerlichkeiten ver¬
weilen. Eine große Rolle spielt in allen diesen Büchern das Essen und Trinken,
aber nicht das Was, sondern das Wie. Sie enthalten darüber so viele Vor¬
schriften mit abschreckenden Beispielen und mit ausgeführten Vergleichen aus
naheliegenden Abteilungen der Zoologie, daß die Ansprüche in dieser Richtung
nur bescheiden gewesen sein können. Diese Schwäche des Südländers tritt
gegenüber den sonstigen Kulturfortschritten in Italien besonders stark hervor.
Nicht alle waren demnach so gelehrig wie jener Graf, der einst, wie im Galateo
erzählt wird, lange bei einem Bischof von Verona zu Gaste war und, übrigens
ein Spiegel aller ritterlichen Tugend, durch sein unappetitliches Essen be¬
dauerlicherweise Anstoß erregte. Als er sich am letzten Abend von seinein
Wirte verabschiedet hatte, gab dieser einem Kavalier einen geheimen Auftrag
für den folgenden Morgen, wo der Fremde abreisen wollte. Der Graf sah
sich, als er zu Pferde gestiegen war, zu seinem Erstaunen von jenem Herrn
auf eine ganze Strecke des Weges begleitet. Endlich wandte dieser sein Roß
und sagte: „Mein Herr, der Bischof, läßt Euch durch mich ein Abschieds¬
geschenk reichen, und zwar ein ganz besondres, weil Euch das ein andrer
schwerlich geben würde. Er läßt herzlich bedauern, daß ein so seiner Herr


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[0633] Zur Geschichte der feinen Sitte nun seinen ganzen Stoff in drei Gruppen: geistreiche Aussprüche, Scherzhaftes und Erzählung, diese mit vielen Unterarten, und untersucht dann, worin der Witz, die Spitze, die entscheidende Wendung besteht, so wie der Dialektiker die Fundorte der Argumente feststellt, und zwar immer mit Beispielen. Also die Kunst der Sache soll gezeigt, der Fähigkeit dazu soll ein Hilfsmittel ge¬ geben werden. Vielerlei wird hier gelehrt. So, daß man Witze nicht lachend, sondern mit bestimmt zurechtgelegten Gesichtszügen vortragen soll, ferner wie man unanständige Dinge vortragen kann, wenn es doch einmal sein muß, oder welche Wirkung man auf anderweite Angriffe durch Stillschweigen oder Ab¬ lenken erzielen kann. Sogar die komische Kraft der albernen Silbenstechereien, die andre, wie della Casa, ganz verwerfen, wird hier noch auf ihre Grundlage hin geprüft. Es war aber auch für eine solche Wissenschaft in der feinen Gesellschaft damals großes Bedürfnis vorhanden. Pontalto erzählt von einem Kardinal in Florenz, der sich witzige Kinder von der Gasse vorführen zu lassen pflegte und dabei einmal eine ergötzliche Erfahrung machte. Als er nämlich zu seiner Umgebung gewandt sagte, derartige Jungen würden leider in der Regel, wenn sie heranwuchsen, sehr viel dümmer, rief das betreffende Wunderkind: „Herr Kardinal, dann seid Ihr gewiß als Kind einmal sehr klug gewesen," sodaß die Anwesenden das Lachen nicht unterdrücken konnten und der hohe Herr klug genug war, mit zu lachen. Nicht diesen geistigen Genüssen des feinen Lebens wollen wir uns zunächst zuwenden, wenn wir nun einzelne Beobachtungen zu einem Bilde zusammen¬ zufassen versuchen. Wir möchten zuerst noch bei einigen Äußerlichkeiten ver¬ weilen. Eine große Rolle spielt in allen diesen Büchern das Essen und Trinken, aber nicht das Was, sondern das Wie. Sie enthalten darüber so viele Vor¬ schriften mit abschreckenden Beispielen und mit ausgeführten Vergleichen aus naheliegenden Abteilungen der Zoologie, daß die Ansprüche in dieser Richtung nur bescheiden gewesen sein können. Diese Schwäche des Südländers tritt gegenüber den sonstigen Kulturfortschritten in Italien besonders stark hervor. Nicht alle waren demnach so gelehrig wie jener Graf, der einst, wie im Galateo erzählt wird, lange bei einem Bischof von Verona zu Gaste war und, übrigens ein Spiegel aller ritterlichen Tugend, durch sein unappetitliches Essen be¬ dauerlicherweise Anstoß erregte. Als er sich am letzten Abend von seinein Wirte verabschiedet hatte, gab dieser einem Kavalier einen geheimen Auftrag für den folgenden Morgen, wo der Fremde abreisen wollte. Der Graf sah sich, als er zu Pferde gestiegen war, zu seinem Erstaunen von jenem Herrn auf eine ganze Strecke des Weges begleitet. Endlich wandte dieser sein Roß und sagte: „Mein Herr, der Bischof, läßt Euch durch mich ein Abschieds¬ geschenk reichen, und zwar ein ganz besondres, weil Euch das ein andrer schwerlich geben würde. Er läßt herzlich bedauern, daß ein so seiner Herr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/633>, abgerufen am 29.06.2024.