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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Airche mit die soziale Frage

gelischen Erkenntnis gesunde soziale Zustände herbeiführen zu helfen. Dieser
Weg muß, abgesehen davon, daß er zur Lösung der sozialen Frage nichts bei¬
tragen, vielmehr die sozialen Schäden noch vermehren wird, in seinen letzten
Konsequenzen ebenfalls zu einer gefährlichen Schwärmerei führen. In den
Händeln dieser Welt soll die irdische Vernunft das Zepter führen, da soll das
Evangelium nicht auf den Thron gesetzt werden; es würde nur Verwirrung
und Heuchelei zur Folge haben, wenn das Evangelium, statt betrübte Sünder
zu trösten, zur Norm einer irdischen Gesellschaftsordnung gemacht würde. Wir
können Gott gar nicht genug bauten, daß wir gerade in or. Martin Luther,
der wahrlich kein Blatt vor den Mund nahm, einen nüchternen Wegweiser und
Mahner haben. Seine hierher gehörigen Schriften über Wucher und Kauf¬
handlung und an die Bauern u. s. w. verdienten heute mehr als je neu auf¬
gelegt und verbreitet zu werden. "Ach, ruft er an einer Stelle, daß wir nur
erst vernünftige, geschweige denn christliche Zustände Hütten!"

Diesen sozialen Bestrebungen in der protestantischen Kirche steht nun gegen¬
über eine große Menge, die alle neuen Wege von sich weist und auf den
geschichtlich gewordnen und im Neuen Testament begründeten festen Wegen be¬
harrt. Hier verstecken sich, wie gesagt, zugleich alle, die überhaupt eine soziale
Frage und Aufgabe für die Kirche leugnen oder nur gezwungen und wider¬
willig zugeben. Wir sehen aber hier von diese" ab und halten uns an
Männer, wie Nathusius und Uhlhoru, die -- man merkt es ihren Worten
an -- aus innerstem Triebe des Herzens die große soziale Not und die
Kluft, die sich vor ihren Angen aufthut, zwischen den gottgewollten Zielen und
den thatsächlich gewordnen Zuständen in der Gegenwart erkennen.

Alle soziale Thätigkeit in der Kirche, sagen sie, müsse ausgehen von
dem Grunde der Apostel und Propheten, von der Heilslehre, daß der Mensch
selig werde aus Gnaden in Christo Jesu. Wer in diesem Fundament nicht
mit der Kirche einig sei, der solle und dürfe und könne sich gar nicht betei¬
ligen an der sozialen Arbeit der Kirche. Hiermit stimmen wir völlig überein;
denn die Kirche, die diese Hauptlehre nicht in deu Mittelpunkt stellt in allem,
was sie thut, ist wie eine Laterne ohne Licht, wie ein Salz, das seine Kraft
verloren hat, wie eine Welt ohne Sonne. Zweitens dürfe die Kirche von
den gottgeordneten Mitteln dieser Heilsvertundigung nicht abweichen, lediglich
die treue Predigt, die gewissenhafte Sakramentsverwaltung und die von Liebe
erfüllte Seelsorge seien die Kanäle, wodurch die protestantische Kirche ihre Auf¬
gabe an der Lösung der sozialen Frage erfüllen Wune. Wenn auch in der
Auffassung dieser Lösung zwischen Nathusius und Uhlhorn große Unterschiede
bestehen, so ist doch bei beiden Männern das die Grundanschauung; nur daß
Nathusius die Unmöglichkeit dieser Lösung der Aufgabe selbst klar einsieht,
aber, in der streng konservativen Auffassung befangen, diese Unmöglichkeit zu
bestreiten sucht.


Die protestantische Airche mit die soziale Frage

gelischen Erkenntnis gesunde soziale Zustände herbeiführen zu helfen. Dieser
Weg muß, abgesehen davon, daß er zur Lösung der sozialen Frage nichts bei¬
tragen, vielmehr die sozialen Schäden noch vermehren wird, in seinen letzten
Konsequenzen ebenfalls zu einer gefährlichen Schwärmerei führen. In den
Händeln dieser Welt soll die irdische Vernunft das Zepter führen, da soll das
Evangelium nicht auf den Thron gesetzt werden; es würde nur Verwirrung
und Heuchelei zur Folge haben, wenn das Evangelium, statt betrübte Sünder
zu trösten, zur Norm einer irdischen Gesellschaftsordnung gemacht würde. Wir
können Gott gar nicht genug bauten, daß wir gerade in or. Martin Luther,
der wahrlich kein Blatt vor den Mund nahm, einen nüchternen Wegweiser und
Mahner haben. Seine hierher gehörigen Schriften über Wucher und Kauf¬
handlung und an die Bauern u. s. w. verdienten heute mehr als je neu auf¬
gelegt und verbreitet zu werden. „Ach, ruft er an einer Stelle, daß wir nur
erst vernünftige, geschweige denn christliche Zustände Hütten!"

Diesen sozialen Bestrebungen in der protestantischen Kirche steht nun gegen¬
über eine große Menge, die alle neuen Wege von sich weist und auf den
geschichtlich gewordnen und im Neuen Testament begründeten festen Wegen be¬
harrt. Hier verstecken sich, wie gesagt, zugleich alle, die überhaupt eine soziale
Frage und Aufgabe für die Kirche leugnen oder nur gezwungen und wider¬
willig zugeben. Wir sehen aber hier von diese» ab und halten uns an
Männer, wie Nathusius und Uhlhoru, die — man merkt es ihren Worten
an — aus innerstem Triebe des Herzens die große soziale Not und die
Kluft, die sich vor ihren Angen aufthut, zwischen den gottgewollten Zielen und
den thatsächlich gewordnen Zuständen in der Gegenwart erkennen.

Alle soziale Thätigkeit in der Kirche, sagen sie, müsse ausgehen von
dem Grunde der Apostel und Propheten, von der Heilslehre, daß der Mensch
selig werde aus Gnaden in Christo Jesu. Wer in diesem Fundament nicht
mit der Kirche einig sei, der solle und dürfe und könne sich gar nicht betei¬
ligen an der sozialen Arbeit der Kirche. Hiermit stimmen wir völlig überein;
denn die Kirche, die diese Hauptlehre nicht in deu Mittelpunkt stellt in allem,
was sie thut, ist wie eine Laterne ohne Licht, wie ein Salz, das seine Kraft
verloren hat, wie eine Welt ohne Sonne. Zweitens dürfe die Kirche von
den gottgeordneten Mitteln dieser Heilsvertundigung nicht abweichen, lediglich
die treue Predigt, die gewissenhafte Sakramentsverwaltung und die von Liebe
erfüllte Seelsorge seien die Kanäle, wodurch die protestantische Kirche ihre Auf¬
gabe an der Lösung der sozialen Frage erfüllen Wune. Wenn auch in der
Auffassung dieser Lösung zwischen Nathusius und Uhlhorn große Unterschiede
bestehen, so ist doch bei beiden Männern das die Grundanschauung; nur daß
Nathusius die Unmöglichkeit dieser Lösung der Aufgabe selbst klar einsieht,
aber, in der streng konservativen Auffassung befangen, diese Unmöglichkeit zu
bestreiten sucht.


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[0509] Die protestantische Airche mit die soziale Frage gelischen Erkenntnis gesunde soziale Zustände herbeiführen zu helfen. Dieser Weg muß, abgesehen davon, daß er zur Lösung der sozialen Frage nichts bei¬ tragen, vielmehr die sozialen Schäden noch vermehren wird, in seinen letzten Konsequenzen ebenfalls zu einer gefährlichen Schwärmerei führen. In den Händeln dieser Welt soll die irdische Vernunft das Zepter führen, da soll das Evangelium nicht auf den Thron gesetzt werden; es würde nur Verwirrung und Heuchelei zur Folge haben, wenn das Evangelium, statt betrübte Sünder zu trösten, zur Norm einer irdischen Gesellschaftsordnung gemacht würde. Wir können Gott gar nicht genug bauten, daß wir gerade in or. Martin Luther, der wahrlich kein Blatt vor den Mund nahm, einen nüchternen Wegweiser und Mahner haben. Seine hierher gehörigen Schriften über Wucher und Kauf¬ handlung und an die Bauern u. s. w. verdienten heute mehr als je neu auf¬ gelegt und verbreitet zu werden. „Ach, ruft er an einer Stelle, daß wir nur erst vernünftige, geschweige denn christliche Zustände Hütten!" Diesen sozialen Bestrebungen in der protestantischen Kirche steht nun gegen¬ über eine große Menge, die alle neuen Wege von sich weist und auf den geschichtlich gewordnen und im Neuen Testament begründeten festen Wegen be¬ harrt. Hier verstecken sich, wie gesagt, zugleich alle, die überhaupt eine soziale Frage und Aufgabe für die Kirche leugnen oder nur gezwungen und wider¬ willig zugeben. Wir sehen aber hier von diese» ab und halten uns an Männer, wie Nathusius und Uhlhoru, die — man merkt es ihren Worten an — aus innerstem Triebe des Herzens die große soziale Not und die Kluft, die sich vor ihren Angen aufthut, zwischen den gottgewollten Zielen und den thatsächlich gewordnen Zuständen in der Gegenwart erkennen. Alle soziale Thätigkeit in der Kirche, sagen sie, müsse ausgehen von dem Grunde der Apostel und Propheten, von der Heilslehre, daß der Mensch selig werde aus Gnaden in Christo Jesu. Wer in diesem Fundament nicht mit der Kirche einig sei, der solle und dürfe und könne sich gar nicht betei¬ ligen an der sozialen Arbeit der Kirche. Hiermit stimmen wir völlig überein; denn die Kirche, die diese Hauptlehre nicht in deu Mittelpunkt stellt in allem, was sie thut, ist wie eine Laterne ohne Licht, wie ein Salz, das seine Kraft verloren hat, wie eine Welt ohne Sonne. Zweitens dürfe die Kirche von den gottgeordneten Mitteln dieser Heilsvertundigung nicht abweichen, lediglich die treue Predigt, die gewissenhafte Sakramentsverwaltung und die von Liebe erfüllte Seelsorge seien die Kanäle, wodurch die protestantische Kirche ihre Auf¬ gabe an der Lösung der sozialen Frage erfüllen Wune. Wenn auch in der Auffassung dieser Lösung zwischen Nathusius und Uhlhorn große Unterschiede bestehen, so ist doch bei beiden Männern das die Grundanschauung; nur daß Nathusius die Unmöglichkeit dieser Lösung der Aufgabe selbst klar einsieht, aber, in der streng konservativen Auffassung befangen, diese Unmöglichkeit zu bestreiten sucht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/509>, abgerufen am 25.08.2024.