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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die protestantische Airche und die soziale Frage

lischen Arbeitervereine andrerseits die Hauptvertreter sein: die neue gewaltige
Aufgabe erfordert neue Wege. Ein solcher neuer Weg ist der, daß man, auf
dem Grunde der protestantischen Bekenntnisse bleibend, Jesus Christus der
Welt als sozialen Reformator hinstellt: Jesus als Volksmann, der auch für
diese irdische Welt eine neue Gesellschaftsordnung gewollt hat.

Ohne Zweifel ist dieser Satz richtig, und wer ihm widerspricht, kennt
weder das Alte noch das Neue Testament. Ganz einstimmig geht durch alle
prophetischen Bücher, durch alle alttestamentlichen Schriften die Hoffnung hin¬
durch, daß der zu erwartende Messias dem triumphirenden Unrecht Schranken
auflegen werde, daß er der verfolgten und leidenden Unschuld zum Siege ver¬
helfen, daß er die gottlosen Bedrücker und gewaltigen ungerechten Machthaber
mit dem Stäbe seines Mundes strafen werde. Das Auftreten und das Leben
Christi, wie es im Neuen Testament geschildert wird, straft diese alttestament¬
lichen Schriftsteller nicht Lügen. Und doch ist die ganze Darstellung, in dem¬
selben Maße, wie sie sich allein in den Vordergrund drängt, nichts andres
als eine Karrikntur. Die Veranlassung zu einer solchen Karrikcitur läßt sich
leider nur zu gut begreifen, sie ist hervorgerufen worden durch eine andre
Entstellung des Lebens und Berufs Christi, wonach Jesus und seine Lehre
auf die gesellschaftliche Entwicklung der Welt gar keine Beziehung haben sollten,
sondern lediglich auf die Errettung der einzelnen Seele aus der Süudennot.
Darnach ist der ein wahrer Christ, der getreu seinem Vorbilde die Welt als
das Reich des Teufels möglichst flieht und sich von ihr ganz unbefleckt zu
erhalten sucht. Ist diese zweite Auffassung und Darstellung eine Entstellung
der Wahrheits so ist es die erste nicht minder, indem sie das eigentliche
Wesen des Erlösers durch alleinige Betonung des sozialreformatorischen Berufs
Christi verdeckt. Dieser Weg führt in seinen letzten Konsequenzen ganz ab vom
Christentum, wenigstens von dem Christentum, wie es die protestantische Kirche
verstanden hat und noch versteht, und zur Schwärmerei.

Beide Irrwege lassen sich auf zwei allgemeine Kategorien zurückführen,
auf Gesetz und Evangelium. Fast alle großen folgenreichen Irrtümer in der
Christenheit hatten ihren Grund darin, daß man Gesetz und Evangelium nicht
bloß nicht kannte, sondern mit einander vertauschte, das Gesetz zu einem Evan¬
gelium, und umgekehrt das Evangelium zu einem Gesetz machte. Und in dem
zweiten Irrtum liegt es begründet, daß man Jesus hauptsächlich zu einem
Sozialreformer macht; in dem ersten, daß man alle soziale Ordnung, d. h. das
ganze wirtschaftliche Gebiet dieses irdischen Lebens, nach dem Evangelium von
der Gnade Gottes regeln will. "Nur die christliche Kirche kann die soziale
Frage lösen," so lautet hier hell und kampfesmutig das Kriegsgeschrei, und
deshalb müssen evangelische Arbeitervereine gegründet werden, deren Haupt¬
bestreben darin zu bestehen hat, daß sie die christliche Religion, Gottesfurcht
und Vaterlandsliebe Pflegen, um dann auf Grund der gewonnenen evan-


Die protestantische Airche und die soziale Frage

lischen Arbeitervereine andrerseits die Hauptvertreter sein: die neue gewaltige
Aufgabe erfordert neue Wege. Ein solcher neuer Weg ist der, daß man, auf
dem Grunde der protestantischen Bekenntnisse bleibend, Jesus Christus der
Welt als sozialen Reformator hinstellt: Jesus als Volksmann, der auch für
diese irdische Welt eine neue Gesellschaftsordnung gewollt hat.

Ohne Zweifel ist dieser Satz richtig, und wer ihm widerspricht, kennt
weder das Alte noch das Neue Testament. Ganz einstimmig geht durch alle
prophetischen Bücher, durch alle alttestamentlichen Schriften die Hoffnung hin¬
durch, daß der zu erwartende Messias dem triumphirenden Unrecht Schranken
auflegen werde, daß er der verfolgten und leidenden Unschuld zum Siege ver¬
helfen, daß er die gottlosen Bedrücker und gewaltigen ungerechten Machthaber
mit dem Stäbe seines Mundes strafen werde. Das Auftreten und das Leben
Christi, wie es im Neuen Testament geschildert wird, straft diese alttestament¬
lichen Schriftsteller nicht Lügen. Und doch ist die ganze Darstellung, in dem¬
selben Maße, wie sie sich allein in den Vordergrund drängt, nichts andres
als eine Karrikntur. Die Veranlassung zu einer solchen Karrikcitur läßt sich
leider nur zu gut begreifen, sie ist hervorgerufen worden durch eine andre
Entstellung des Lebens und Berufs Christi, wonach Jesus und seine Lehre
auf die gesellschaftliche Entwicklung der Welt gar keine Beziehung haben sollten,
sondern lediglich auf die Errettung der einzelnen Seele aus der Süudennot.
Darnach ist der ein wahrer Christ, der getreu seinem Vorbilde die Welt als
das Reich des Teufels möglichst flieht und sich von ihr ganz unbefleckt zu
erhalten sucht. Ist diese zweite Auffassung und Darstellung eine Entstellung
der Wahrheits so ist es die erste nicht minder, indem sie das eigentliche
Wesen des Erlösers durch alleinige Betonung des sozialreformatorischen Berufs
Christi verdeckt. Dieser Weg führt in seinen letzten Konsequenzen ganz ab vom
Christentum, wenigstens von dem Christentum, wie es die protestantische Kirche
verstanden hat und noch versteht, und zur Schwärmerei.

Beide Irrwege lassen sich auf zwei allgemeine Kategorien zurückführen,
auf Gesetz und Evangelium. Fast alle großen folgenreichen Irrtümer in der
Christenheit hatten ihren Grund darin, daß man Gesetz und Evangelium nicht
bloß nicht kannte, sondern mit einander vertauschte, das Gesetz zu einem Evan¬
gelium, und umgekehrt das Evangelium zu einem Gesetz machte. Und in dem
zweiten Irrtum liegt es begründet, daß man Jesus hauptsächlich zu einem
Sozialreformer macht; in dem ersten, daß man alle soziale Ordnung, d. h. das
ganze wirtschaftliche Gebiet dieses irdischen Lebens, nach dem Evangelium von
der Gnade Gottes regeln will. „Nur die christliche Kirche kann die soziale
Frage lösen," so lautet hier hell und kampfesmutig das Kriegsgeschrei, und
deshalb müssen evangelische Arbeitervereine gegründet werden, deren Haupt¬
bestreben darin zu bestehen hat, daß sie die christliche Religion, Gottesfurcht
und Vaterlandsliebe Pflegen, um dann auf Grund der gewonnenen evan-


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[0508] Die protestantische Airche und die soziale Frage lischen Arbeitervereine andrerseits die Hauptvertreter sein: die neue gewaltige Aufgabe erfordert neue Wege. Ein solcher neuer Weg ist der, daß man, auf dem Grunde der protestantischen Bekenntnisse bleibend, Jesus Christus der Welt als sozialen Reformator hinstellt: Jesus als Volksmann, der auch für diese irdische Welt eine neue Gesellschaftsordnung gewollt hat. Ohne Zweifel ist dieser Satz richtig, und wer ihm widerspricht, kennt weder das Alte noch das Neue Testament. Ganz einstimmig geht durch alle prophetischen Bücher, durch alle alttestamentlichen Schriften die Hoffnung hin¬ durch, daß der zu erwartende Messias dem triumphirenden Unrecht Schranken auflegen werde, daß er der verfolgten und leidenden Unschuld zum Siege ver¬ helfen, daß er die gottlosen Bedrücker und gewaltigen ungerechten Machthaber mit dem Stäbe seines Mundes strafen werde. Das Auftreten und das Leben Christi, wie es im Neuen Testament geschildert wird, straft diese alttestament¬ lichen Schriftsteller nicht Lügen. Und doch ist die ganze Darstellung, in dem¬ selben Maße, wie sie sich allein in den Vordergrund drängt, nichts andres als eine Karrikntur. Die Veranlassung zu einer solchen Karrikcitur läßt sich leider nur zu gut begreifen, sie ist hervorgerufen worden durch eine andre Entstellung des Lebens und Berufs Christi, wonach Jesus und seine Lehre auf die gesellschaftliche Entwicklung der Welt gar keine Beziehung haben sollten, sondern lediglich auf die Errettung der einzelnen Seele aus der Süudennot. Darnach ist der ein wahrer Christ, der getreu seinem Vorbilde die Welt als das Reich des Teufels möglichst flieht und sich von ihr ganz unbefleckt zu erhalten sucht. Ist diese zweite Auffassung und Darstellung eine Entstellung der Wahrheits so ist es die erste nicht minder, indem sie das eigentliche Wesen des Erlösers durch alleinige Betonung des sozialreformatorischen Berufs Christi verdeckt. Dieser Weg führt in seinen letzten Konsequenzen ganz ab vom Christentum, wenigstens von dem Christentum, wie es die protestantische Kirche verstanden hat und noch versteht, und zur Schwärmerei. Beide Irrwege lassen sich auf zwei allgemeine Kategorien zurückführen, auf Gesetz und Evangelium. Fast alle großen folgenreichen Irrtümer in der Christenheit hatten ihren Grund darin, daß man Gesetz und Evangelium nicht bloß nicht kannte, sondern mit einander vertauschte, das Gesetz zu einem Evan¬ gelium, und umgekehrt das Evangelium zu einem Gesetz machte. Und in dem zweiten Irrtum liegt es begründet, daß man Jesus hauptsächlich zu einem Sozialreformer macht; in dem ersten, daß man alle soziale Ordnung, d. h. das ganze wirtschaftliche Gebiet dieses irdischen Lebens, nach dem Evangelium von der Gnade Gottes regeln will. „Nur die christliche Kirche kann die soziale Frage lösen," so lautet hier hell und kampfesmutig das Kriegsgeschrei, und deshalb müssen evangelische Arbeitervereine gegründet werden, deren Haupt¬ bestreben darin zu bestehen hat, daß sie die christliche Religion, Gottesfurcht und Vaterlandsliebe Pflegen, um dann auf Grund der gewonnenen evan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/508>, abgerufen am 22.07.2024.